Marxismus und Klassenkampf
[home] [content] [end] [search] [print]


GAZA: »EINE EXTREME MILITARISIERUNG DES KLASSENKRIEGS IN ISRAEL-PALÄSTINA«


Content:

Gaza: »Eine extreme Militarisierung des Klassenkriegs in Israel-Palästina«
Vorwort
Interview mit Emilio Minassian
Anmerkungen
Source


Gaza: »Eine extreme Militarisierung des Klassenkriegs in Israel-Palästina«

Vorwort

Seit über einem Monat zieht sich schon das Gemetzel hin das sich in Palästina bzw. Israel vor unseren Augen abspielt. Der von der Hamas initiierte und bewusst pogromhaft inszenierte Angriff auf die den Gazastreifen umgebenden israelischen Siedlungen und die klar vorhersehbare und wohl auch einberechnete mindestens ebenso brutale Reaktion des zionistischen Staates zeigen klar, dass die kriegführenden Parteien ihre Interessen skrupellos verteidigen. Mit nationalistischen Parolen versuchen beide Seiten die »Weltöffentlichkeit« für ihre Interessen und zu ihrer Unterstützung zu gewinnen um ihre jeweilige – und von Grund auf ungleiche – Kampfposition zu verbessern.

Die kapitalistisch-krämerhafte Natur der Kontrahenten wird unter anderem durch die massenhafte direkte Geiselnahme durch die Hamas (und ihrer Verbündeten) wie durch die kollektivstrafende – also indirekte Geiselnahme – und massenmordende Bombardierung des Gazastreifens durch den israelischen Staat deutlich. Die Brutalität des Konflikts lenkt die Aufmerksamkeit auch vieler Linker auf die »nationale Frage«, und überdeckt dabei die eigentliche Frage, die uns als Kommunisten zuvorderst interessieren sollte: wie ist die Lage und Stellung des Proletariats in dieser ganzen Auseinandersetzung. Und welche Perspektiven ergeben sich daraus für die künftige Entwicklung einer selbständigen proletarischen Bewegung im palästinensisch-israelischen Raum.

Im hier vorliegenden Interview mit Emilio Minassian, einem französischen Soziologen der sich zuweilen in Palästina/Israel zu Forschungszwecken aufhält, wird ein Teil dieser Fragen richtig aufgeworfen und analysiert. Auch wenn wir nicht mit allen seinen Aussagen konform gehen halten wir es doch für einen äusserst wichtigen und klärenden Beitrag in der gegenwärtigen Debatte zum aktuellen Kriegsgeschehen. Erschienen ist das Interview im sich als »anarcho-marxistisch« (!?) bezeichnenden Blog »Le serpent de mer« am 30. Oktober 2023 unter obigem Titel. Da wo im Interview »Frankreich« steht, lässt sich natürlich genauso gut »Deutschland«, »Schweiz« oder »Österreich« lesen.

Zu den Perspektiven – die im Interview sehr pessimistisch aufscheinen – bleibt folgendes zu sagen… auch dieser Krieg wird sein Ende finden: »Wenn sich die Räuber über den Frieden einig werden, behält entweder jeder seine Beute, oder sie tauschen Stücke der Beute aus. So endeten alle Kriege, und so werden sie enden, solange die Kapitalisten die Macht haben.«[1] Zu welchen Bedingungen das sein wird ist freilich noch offen und von vielfältigen Faktoren »nationaler« und internationaler Art abhängig. Was gleich bleibt ist das jetzt schon Gegebene: ein von der gleichen örtlichen Akkumulationssphäre abhängiges und ausgebeutetes Proletariat, seien es Hebräer, Araber oder die dort arbeitenden »Ausländer«, meist aus dem asiatischen Raum. Erst ihre Vereinigung aufgrund ihrer objektiven Klasseninteressen wird dem nationalistischen Furor der sich gegenwärtig bekämpfenden Kapitalfraktionen ein Ende setzen, der unter anderem auch – faktisch quasi einvernehmlich – die nicht wenigen aber minoritären Initiativen auf »palästinensischer« wie »israelischer« Seite zu einer Verständigung und gemeinsamer, wenn auch bürgerlicher Zukunft zum Erliegen zu bringen beabsichtigt.

(M&K)

Interview mit Emilio Minassian

Gaza: »Eine extreme Militarisierung des Klassenkriegs in Israel-Palästina«

1.

Du interessierst dich schon lange für das, was in Palästina passiert, du verfolgst die Kämpfe, ohne ein pro-palästinensischer Aktivist zu sein. Was hat eine Kritik, die sich der Revolution zuwendet, über das zu sagen, was sich dort abspielt?

Ich würde sagen, dass man als Erstes davon ausgehen sollte, dass es nicht zwei Lager gibt, ein palästinensisches und ein israelisches. Diese Menschen leben in einem einzigen Staat und in einer einzigen Wirtschaft. Innerhalb desselben, sagen wir israelisch-palästinensischen Komplexes – der jedoch vollständig in israelischer Hand liegt – sind die sozialen Klassen nicht nur in unterschiedliche Rechtsstatus auf der Grundlage ethnisch-religiöser Kriterien eingebettet, sondern auch »zoniert«. Der Gazastreifen wurde nach und nach zu einem »Reserve-Gefängnis«, in dem zwei Millionen Proletarier fixiert sind, an die Randzone des israelischen Kapitals gedrängt. Dieses bleibt jedoch ihr letztinstanzlicher Gebieter. Die Menschen in Gaza benutzen israelisches Geld, konsumieren israelische Waren und haben Ausweise, die von Israel ausgestellt wurden.
Der gegenwärtige »Krieg« entspricht in der Tat einer Situation extremer Militarisierung des Klassenkriegs.
Ein »Land für zwei Völker« – ein solches Raster der Situation in Israel-Palästina ist abwegig. Nirgendwo auf der Welt gehört das Land den Völkern. Es gehört den Besitzern. Das mag alles sehr theoretisch klingen, aber die Existenz der sozialen Beziehungen selbst wirft die Idee der »Lager« auf diejenigen zurück, denen diese Idee zugehört: die Herrschenden. Die Flüchtlingslager im Westjordanland, die man als das schlagende Herz »Palästinas« bezeichnen könnte, sind nach wie vor Vororte von Tel Aviv. Ich habe Abende damit verbracht, Tagelöhnern aus einem dieser Lager zuzuhören, wie sie erzählten, wie sich die Ethnisierung der Arbeitskräfte auf den Baustellen der israelischen Hauptstadt entfaltete: die aschkenasisch-jüdischen Bauherren, die palästinensischen Dienstleister von 1948 für die Durchreise von Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten, die sephardisch-jüdischen Vorarbeiter, die ebenfalls arabisch sprechen, usw. Und dann all die anderen importierten Proletarier: Thais, Chinesen, Afrikaner, die als Sans-Papiers in Wirklichkeit diejenigen sind, deren Situation am schlimmsten ist. All das kann sich nicht vermischen, denn jede Gruppe hat einen eigenen Status und einen eigenen Platz in den Produktionsverhältnissen. Aber diese Welten sind nicht durchlässig, sie sind ineinander verschachtelt, sie sehen einander und kennen sich. Dutzende von Thailändern, die in der Landwirtschaft am Rande des Gazastreifens ausgebeutet wurden, wurden von der Hamas getötet und entführt. Jetzt halten israelische Bosse die Löhne anderer zurück, um sie zu zwingen, im Kriegsgebiet zu arbeiten. Jede einigermassen konsequente Sozialkritik muss im Zusammenhang mit dem, was in Israel-Palästina passiert, auch die Perspektive der thailändischen Arbeiter einbeziehen. Dieses Land gehört ebenso wenig den palästinensischen Proletariern wie den thailändischen Arbeitern.

Ist der Versuch, die »nationale Frage« in Israel-Palästina zu übergehen, nicht ein bisschen wie eine Ausrede?

Israel hat eine weltweit einzigartige Situation geschaffen: die Integration eines ethnisierten (»jüdischen«) Proletariats in den Staat gegen den ebenfalls ethnisierten (»arabischen«) Rest des Proletariats. Der israelische Staat hat die Akkumulation von »nationalem« Kapital in Rekordzeit organisiert, er hat den Import eines »nationalen« Proletariats organisiert und sich selbst zum Hüter der Existenz und Reproduktion dieses Proletariats gemacht, das in seiner Existenz von einer anderen (»palästinensischen«) proletarischen Fraktion bedroht wird. Aber wenn man die Brille der Phantasmagorie vom »Staat als Garant der Existenz der Menschen« abnimmt, zeigt sich, dass das jüdische Proletariat in Israel eine Art Kriegsbeute in den Händen des Staates darstellt.
Dies ist auf der Seite des palästinensischen Proletariats nicht der Fall, wo die Kampfdynamiken eine gewisse Autonomie bewahrt haben und in komplexer Weise mit den instrumentellen Ansätzen ihrer nationalistischen politischen Einrahmung koexistieren.
Es mag kontraintuitiv erscheinen, aber ich denke, man muss die Hamas als einen Unterauftragnehmer Israels für die Verwaltung des Proletariats im Gazastreifen betrachten. Wie ich bereits sagte, »untersteht« dieser in letzter Instanz dem nationalen israelischen Kapital. Solange dieses nicht die Wahl getroffen hat, die Entwicklung einer anderen kapitalistischen Entität, der »palästinensischen«, an seiner Seite zuzulassen, ist das Proletariat des Gazastreifens, selbst wenn es dort nur vorgehalten wird, in seine Kreisläufe eingeschrieben. Diese Situation kommt jedoch nicht ohne eine ausgelagerte soziale Formation aus, die mit der Regulierung der Eingeschlossenen betraut ist – es gibt kein Gefängnis ohne Aufseher.
Was hier passiert, ist kein interimperialistischer Krieg. Es ist im Wesentlichen eine »innere Angelegenheit«, in der die »nationalen« Lager eine Nebelwand darstellen. In den aktuellen Ereignissen gibt es keinen proletarischen Kampf. Die Militarisierung der Antagonismen, die von der Hamas und der israelischen herrschenden Klasse gemeinsam produziert wird, bringt einen »Widerstand« hervor, der keinen Ansatz eines autonomen proletarischen Kampfes enthält, nicht einmal rudimentär.
Das ist kein Krieg, sondern eine Verwaltung des überzähligen Proletariats mit militärischen Mitteln, die die des totalen Krieges sind, seitens eines demokratischen, zivilisierten Staates, der zum zentralen Akkumulationsblock gehört. Diese Tausende von Toten scheinen mir eine besondere Bedeutung zu haben. Sie zeichnen ein erschreckendes Bild der Zukunft – der kommenden Krisen des Kapitalismus.
Aber eine Verwaltung des überzähligen Proletariats durch Bombenteppiche, die in der Art und Weise, wie sie von allen Zentralstaaten des kapitalistischen Raums als legitim angesehen wird, das, was derzeit geschieht, ist meiner Meinung nach in eine globale Offensive einbettet. In Frankreich ist dieser globale Charakter besonders auffällig: Wir sind in eine Phase eingetreten, in der sogar politische Formulierungen hinter humanistischen Parolen unterdrückt werden – sobald sie auf Strassenaktivitäten der gefährlichen Klassen treffen könnten. Es gibt keinen »Import« des Konflikts. Es gibt eine globale Offensive. In diesem Sinne findet der Kampf für uns in Frankreich hier statt, gegen Frankreich. Wir müssen unsere eigene Nation verraten, immer und wann immer es möglich ist.

2.

Was hat die Hamas von einer solchen Situation zu gewinnen?

Vor dem 7. Oktober hatte ich folgende Vorstellung von der Situation: auf der einen Seite eine Offensive der kolonialen extremen Rechten, die sowohl das Westjordanland annektieren als auch die Hebel des israelischen Staates in die Hand nehmen will, auf der anderen Seite standen zwei palästinensische Staatsapparate, die ausschliesslich von Renten lebten und nur daran interessiert waren, sich als solche zu reproduzieren. Mir war klar, dass diese Mächte in der Defensive waren und dass sie sich vor allem darauf vorbereiteten, die Kontrolle über die von ihnen abhängige Bevölkerung sowohl in Gaza als auch im Westjordanland zu verlieren.
Von meinen Gesprächspartnern im Westjordanland, ob linke Akademiker oder bewaffnete Subproletarier, sagten mir vor einigen Monaten alle: »Die Hamas unterstützt nicht den Widerstand vor Ort. Sie denkt an ihre eigenen Interessen.«
Und in der Tat hat sich die Hamas nicht wie eine Kampforganisation verhalten, sondern wie eine militärische Struktur, wie ein Staat. Das Besondere an ihrer Operation ist jedoch, dass sie notwendigerweise die Aussicht auf einen israelischen Gegenschlag enthielt, dem gegenüber sie in einer imposanten Unterlegenheitslage sein würde. Die Hamas verhält sich wie ein Staat, aber ohne die Mittel eines Staates, und sie opfert einen Teil der Interessen eines Teils ihres Apparats und ihrer sozialen Basis in Gaza, in der Hoffnung, dass sie in Zukunft mehr haben wird. Viele der Anführer werden in dieser Angelegenheit ihr Leben verlieren.
Die Operation vom 7. Oktober ist ein erstaunliches Verhalten einer herrschenden Klasse, das aber meiner Meinung nach vor allem durch die Widersprüche in der Hamas selbst erklärt werden kann. Es ist eine Hypothese, aber es ist nicht undenkbar, dass die Operation vom 7. Oktober vom bewaffneten Arm der Hamas ohne grosse Absprache mit der politischen Führung konzipiert wurde (es ist auch denkbar, dass das Ausmass der Bresche in der Mauer die Planer des Angriffs selbst überrascht hat, die vielleicht eine Art Selbstmordoperation durchführen wollten und nicht mit einem solchen militärischen Zusammenbruch Israels gerechnet hatten, der die Tür zu Massakern grossen Ausmasses öffnete).
Die Operation der Hamas ist keineswegs ein fanatischer chiliastischer Wahn. Es ist eine riskante Wette, aber eine, die Früchte tragen kann. Die Optionen in Israels Händen sind begrenzt. Es gibt den Weg der Verhandlungen, den Weg des regionalen Krieges und nicht viel dazwischen. Aber es bleibt eine Wette, denn es ist nicht sicher, dass der israelische Staat und das israelische Kapital die Entscheidung für eine Stabilisierung treffen werden.
In jedem Fall ist die Etappe »Massaker« durch Bombenteppiche unvermeidlich, aber das ist eine andere Frage, sie bereitet den Herrschenden natürlich keinerlei Sorgen.

Du sagst, dass die Hamas sich wie ein Staat verhält, aber nicht die Mittel dazu hat. Du sagst auch, dass sie einige ihrer Interessen opfert, um später daraus mehr Vorteile zu ziehen. Kannst du das genauer erklären?

Ganz einfach, um im Verhandlungsrahmen anerkannt zu werden. Wahrscheinlich nicht im Hinblick auf ein Friedensabkommen, so weit sind wir noch nicht und in Wirklichkeit glaube ich, dass weder die Hamas noch Israel ein Interesse an einem umfassenden Abkommen haben. Aber die Ausrottung der Hamas ist aus israelischer Sicht nicht ernsthaft vorstellbar. Indem sie ihre militärischen Fähigkeiten demonstriert, versucht die Hamas, sich als unumgänglich im regionalen Kräfteverhältnis zu erweisen.
Das Scheitern der Wiederaufnahme von Verhandlungen zwischen dem Iran und den USA in den letzten Jahren zeigt, dass die Zeit nicht für »Lösungen« reif ist. Für die Hamas geht es, wie jedermann sagt, darum, die amerikanische Lösung eines israelisch-saudischen Abkommens zu blockieren. Was sie dabei zu gewinnen hat, ist zunächst, sich als Gesprächspartner für die arabischen Länder in der Region durchzusetzen, die PLO [Organisation zur Befreiung Palästinas, zu der die Fatah, aber auch die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) gehört] im Westjordanland und im Libanon weiter zu marginalisieren. Es bedeutet, kleine Märkte der palästinensischen Vertretung auf Kosten des Konkurrenten PLO zu erobern.

Sind die auf dem Spiel stehenden Interessen wirklich so eng miteinander verknüpft?

Ich bin mir nicht sicher, wie ich diese Frage beantworten soll. Natürlich müssen diese Militäroperation und der Krieg, den sie auslöst, auch in einem globalen Kontext gesehen werden, in dem die Kanäle der kapitalistischen Regulierung in die Brüche gehen.
Krieg ist meiner Meinung nach immer ein Versuch, die Krise der kapitalistischen Verwertung zu lösen, als eine Operation der Deakkumulation. Aber er ist auch Ausdruck der Erschütterung des Gleichgewichts, das dem Verhältnis zwischen Staat und Kapital zugrunde liegt. Er ist ein Krisenmoment, in dem die Kontrolle des Kapitals, des Gesamtkapitals, über den Staat gelockert wird zugunsten der Aneignung des Staates durch bestimmte besondere kapitalistische Sektoren, ja sogar durch Clans und Politiker. Der Krieg zwischen Kapitalisten ist nicht nur ein Krieg zwischen Imperialismen. Er bringt zahlreiche Akteure zusammen, die in Ermangelung von Schranken manchmal riskante Wetten eingehen, eine Karte ausspielen und versuchen, von einer Umwälzung der Kräfte zu profitieren. Seit dem Krieg in der Ukraine haben wir eine solche Spirale erlebt. Die eingefrorenen Fronten erwachen wieder: Wir hatten Karabach, jetzt ist es Gaza.
Die Generalstäbe rücken vor, probieren Pläne aus, testen Widerstände und stürzen sich ins Wasser. Das ist es, wozu sie spontan Lust haben, die ganze Zeit. Was uns in den letzten zwei Jahren überrascht hat, ist, wie sehr die Schranken, die sie zurückhielten, gesprengt zu sein scheinen.

Welche Art von Herrschaft hat die Hamas über die Menschen in Gaza? Wie sichert sie ihre Macht; welche Gewinne erzielen ihre Anführer; welche (offenen oder verdeckten) Verbindungen haben sie zu Israel?

Die Hamas ist eine Bewegung, die aus der Strömung der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. Wie überall in der arabischen Welt entwickelte sie sich in den 1970er und 1980er Jahren aus der palästinensischen Kleinbourgeoisie in den Gebieten und in der Diaspora. Seit ihrem Eintritt in den Kampf gegen Israel im Zuge der ersten Intifada hat sich diese soziale Basis auf proletarischere Segmente ausgeweitet, bevor die Kontrolle über das Gaza-Gebiet und seine Militarisierung ihren Charakter grundlegend verändert haben. Sie fand sich, wie bereits erwähnt, in der Position eines Staatsapparats wieder, mit der Notwendigkeit, viele verschiedene und antagonistische kategoriale Interessen zu integrieren, zwischen ihnen zu jonglieren und sie zu vermitteln. Da Gaza kein echter Staat ist, hat sich die Hamas gleichzeitig in eine Milizpartei verwandelt, die mit der Hisbollah im Libanon vergleichbar ist.
Diese doppelte Entwicklung hat eine widersprüchliche Dimension. Ich stelle die Hypothese auf, dass der aktuelle Krieg in gewisser Weise den Sieg des zweiten Ansatzes über den ersten markiert. Der bewaffnete Arm hat über den Staatsapparat gesiegt; die militärischen Rentenflüsse (aus dem Iran) haben über die zivilen Rentenflüsse (aus Katar) gesiegt.
Die Hamas ist eine klassenübergreifende Bewegung, was ihre erratischen Bewegungen erklärt. Die Bewegung gewann die Parlamentswahlen 2006 als Ordnungspartei: Sie versprach, dem Sicherheitschaos ein Ende zu setzen, die Waffen zum Schweigen zu bringen, die Korruption zu bekämpfen, einen pro-bürgerlichen Staatsapparat aufzubauen, der die soziale Ordnung sicherstellt, mit einer auf Wohltätigkeit basierten sozialen Umverteilung. Paradoxerweise erschien sie als die Anti-Intifada-Partei, und die Mehrheit der Honoratioren der beiden Wirtschaftszentren des Westjordanlands, Nablus und Hebron, standen damals auf ihrer Seite, blieben aber mit jordanischen Wirtschaftsinteressen verbunden. Bei den gleichen Parlamentswahlen im Gazastreifen gewann die Hamas ebenfalls, aber mit den Parolen des Widerstands und der auf das Lumpenproletariat in den Flüchtlingslagern abzielenden militärischen Rekrutierung. Es ging nicht um einen Aufstand oder eine soziale Bewegung, sondern um militärische Klientelpolitik. Anders als im Westjordanland gibt es in Gaza keine städtische und kommerzielle Bourgeoisie.
Der klassenübergreifende Charakter kam seitdem nicht zur Explosion. Die Hamas hantiert weiterhin mit gegensätzlichen Mobilisierungsansätzen. Der Anführer ihres bewaffneten Arms, Mohammad Deif, ist eine Art mythische Ikone, ein Überlebender zahlreicher gezielter Mordversuche. Er ist ein James Bond, der mit Teenagern in Flüchtlingslagern spricht, während Führer in Anzügen in 5-Sterne-Hotels in Katar abhängen und mit Ministern und Kapitalisten aus der arabischen und türkischen Welt alle möglichen Leckereien essen. Und wenn es die Mohammad Deif-Fraktion ist, die eine Aktion wie die vom 7. Oktober startet, lässt die Anzugträger-Fraktion sie gewähren, weil sie geheime Hoffnungen hegt, die Früchte in den diplomatischen Korridoren ernten zu können.
Ich bin vorsichtiger, was die Kompradorenbourgeoisie in Gaza-Stadt davon hält, während ihre Villen von den Bomben dem Erdboden gleichgemacht werden.

Was sind die Merkmale der Ausbeutung der Proletarier in Gaza?

Ich habe viel Zeit im Westjordanland verbracht, aber ich kenne den Gazastreifen nicht direkt. Aufgrund seiner politischen und geografischen Lage, die an einen Raum intensiver kapitalistischer Akkumulation geklebt ist, könnte man sagen, dass Gaza ein grosser »Mülleimer« Israels ist. Aber selbst in den Mülltonnen der Kapitalisten gibt es soziale Spaltungen.

Es ist also eine Art Ghetto? Konkret: Haben die Proletarier in Gaza Arbeit (formell oder informell), oder muss man sie mehrheitlich für überzählig halten?

»Überzählig« in dem Sinne, dass die Arbeit in Gaza fast nirgends eine kapitalistische Akkumulation ermöglicht. Das Kapital, das in Gaza zirkuliert, stammt hauptsächlich aus Renten (und selbst das sind nur sehr kleine Renten): Renten aus externer Hilfe (Iran und Katar), Renten aus Monopolsituationen (die Tunnel). Die erwirtschafteten Profite resultieren nicht aus der Ausbeutung der Arbeit durch Kapitalisten. Die Reproduktion der Proletarier und die Verwertung sind zwei getrennte Prozesse, wie andere sagen würden. Die Bosse sind in ihrer überwältigenden Mehrheit klein und der Staat reguliert nichts.
Gaza ist ein Raum, der völlig abseits der kapitalistischen Verwertungskreisläufe liegt, wie viele andere Peripherien der Welt. Es gibt keine »nationale Bourgeoisie«, da es kein Gaza-Kapital gibt. Es gibt auch keine »traditionelle Bourgeoisie« wie im Westjordanland oder in Jerusalem – alte Familien, die auf verstaubtem Handels- und Landkapital sitzen, das aber in den sozialen Beziehungen immer noch effizient ist. Stattdessen gibt es in Gaza eine neue Form der »Kompradoren«-Bourgeoisie, die sich auf Zirkulationsrenten stützt. Dies ist keine Klasse im engeren Sinne, sondern eine soziale Formation, die massive Einkünfte aus ihrer Position als Vermittler im Handel mit ausländischen Kapitalisten bezieht (im Gegensatz zu einer Bourgeoisie, die ein Interesse an der Entwicklung der nationalen Wirtschaft hat).
Ein Teil dieser Bourgeoisie deckt sich mit dem politischen Apparat der Hamas, da das zirkulierende Kapital weitgehend aus einer Rente geopolitischer Natur stammt, es kommt aus Staaten wie Katar oder dem Iran. Aber es gibt auch andere Renten, z.B. aus dem Grenzverkehr mit Ägypten. Um die Schmugglertunnel herum wurden Vermögen aufgebaut, und hier handelt es sich eher um eine globalisierte Feudalfigur – typischerweise ein Verhältnis zwischen Boss und Arbeiter. 2007 kam es in Rafah im südlichen Teil des Gazastreifens zu heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen sozialen Clanformationen und dem politisch-militärischen Apparat der Hamas, bei denen es um die Besteuerung des Warenverkehrs ging.
Im Gegensatz zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ist die Hamas nicht für den öffentlichen Dienst zuständig und zahlt auch nicht die Löhne und Gehälter, die immer noch von der PA getragen werden. Die PA kürzt regelmässig die Gehälter der Beamten in Gaza, um die Hamas zu schwächen.
Regelmässig, und wahrscheinlich zum Teil als Folge davon, gibt es auch »soziale« Mobilisierungen, die Würde fordern – typischerweise Wasser, Strom, Löhne. Die Hamas unterdrückt sie mehr oder weniger gewaltsam, jedoch mit einer gewissen Zurückhaltung, die darauf hindeutet, dass sie darauf achtet, kein Öl ins Feuer zu giessen. Die aktuelle Militäroffensive folgt auf eine ähnliche Episode, die sich im Sommer ereignet hat. Man kann sich leicht vorstellen, dass es eine Verbindung oder zumindest einen Ansatz gibt, der diese beiden Arten von Ereignissen miteinander verbindet.
Der Protest gegen die verwaltende Hamas und die Unterstützung der kämpfenden Hamas sind keineswegs antagonistisch. Erstere greift deine Würde an, während letztere sie rächt. Ohne die Hamas-Kämpfer hätte die verwaltende Hamas in Gaza wahrscheinlich mit einem grösseren Protest zu kämpfen.

Du sagst, dass du das Westjordanland besser »kennst« als Gaza. Gibt es grosse Unterschiede zwischen diesen beiden Gebieten oder handelt es sich im Gegenteil um zwei Varianten desselben Ansatzes?

Der Gazastreifen ist seit langem der »Mülleimer« mit überzähligen Personen, den ich oben erwähnte. Ein winziges Gebiet, in das 1947–1948 ein Flüchtlingsstrom getrieben wurde, der die lokale, hauptsächlich bäuerliche Bevölkerung überschwemmte. Es gibt dort keine Ressourcen. Im Westjordanland ist die Klassenbildung anders, mit Städten und Notabeln. Und es gibt Landwirtschafts- und Wasserressourcen, die Israel für sich beansprucht. Die Löhne sind doppelt so hoch, es gibt einige Industrien, die auf einer relativen Integration zwischen der Kompradorenklasse der PA und dem israelischen Kapital beruhen. Die Fatah, die die Städte regiert, ist eine Partei, die keinen sozialen Zusammenhalt mehr hat. Im Jahr 2006 verlor sie die Wahlen gegen die Hamas. Im Jahr 2007 unternahm sie einen von Israel und den USA unterstützten Coup, um die Hebel der öffentlichen Macht in den Städten des Westjordanlands zu behalten, und »überliess« Gaza der Hamas. Seitdem gibt es keine Legitimität mehr, die auf irgendeiner Form von demokratischem Verfahren beruht. Die Macht der Fatah beruht auf der Zusammenarbeit mit Israel, die hinter hohl klingenden nationalistischen Reden verborgen ist. Sie regiert über voneinander getrennte Enklaven, die immer mehr von Siedlungen umschlossen werden und in die die israelische Armee regelmässig eindringt. Was das Proletariat im Westjordanland betrifft, so ist es stärker als das im Gazastreifen durch das israelische Kapital integriert. Viele palästinensische Arbeiter aus dem Westjordanland arbeiten legal oder illegal auf israelischem Gebiet oder in den Siedlungen. Sie haben wirtschaftliche Verbindungen zu den Palästinensern von 1948, die die israelische Staatsbürgerschaft besitzen; sie sprechen oft Hebräisch.

Was passiert derzeit im Westjordanland? Was macht die Fatah? Gibt es soziale oder politische Kräfte, die einen mehr oder weniger proletarischen Charakter haben und die im Moment der Krise stärker werden könnten?

Der Gazastreifen scheint mir im Moment verloren zu sein, was die Möglichkeiten proletarischer Aktivitäten betrifft. Anders sieht es in den Städten des Westjordanlandes aus, wo der innerpalästinensische Kampf um die politische Kontrolle seit Jahren mit autonomen Manifestationen des Klassenkampfes voranschreitet. Die soziale Kontrolle wird gemeinsam durch einen Sicherheitsapparat gewährleistet, der von kompradorenhaften, von Israel abhängigen Kapitalisten und städtischen Lehnsherren mit Verbindungen zu Jordanien betrieben wird. Der Zusammenhalt dieser Klasse zerfällt immer mehr, die Fatah reguliert nichts mehr, und jeder versucht, sich auf Kosten der anderen sein Lehen zu sichern. Das erwartete Ereignis, das all dies klären sollte, war der Tod des paranoiden Dinosauriers Mahmoud Abbas, aber die Dinge werden sich zwangsläufig beschleunigen.
Die Hamas hat sich in den letzten 15 Jahren im Westjordanland in einen Ruhezustand begeben. Es gibt keine direkten öffentlichen oder militärischen Aktivitäten. Sie unterhält Loyalitäten, aber diskret. Die bewaffneten Gruppen, die im Norden (Nablus, Dschenin, Tulkarem) wieder aufgetaucht sind, haben keine Verbindungen zu ihr. Diese Passivität erweckte den Eindruck, dass die Hamas die Situation abgesegnet hatte und den Status quo nicht durchbrechen wollte. Innerhalb der bewaffneten Gruppen in den Flüchtlingslagern gab ihr das einen schlechten Ruf: Sie war die Kehrseite der Fatah, nur Maulhelden, politische Interessen, die sich von denen des Volkes unterschieden. Und dann diese Operation: Das ändert eindeutig das Blatt in der Wahrnehmung. Ob man will oder nicht, die Hamas wird dadurch einen neuen Glanz bekommen. Bereits jetzt sieht man die Hamas-Flagge überall auf Demonstrationen schwenken, was vor einem Monat noch unvorstellbar war. Wird die Hamas der PA die Macht im Westjordanland direkt streitig machen? Das ist unwahrscheinlich, da ihre Aktivitäten nicht nur von der PA, sondern auch von Israel genau überwacht werden und da die palästinensischen Enklaven im Westjordanland kein zusammenhängendes Gebiet bilden, können sie militärisch nicht gehalten werden, ohne die Sache mit der israelischen Armee zu verhandeln. Aber die PA kann ihre Strategie ändern und die Aktivitäten bewaffneter Gruppen auf die eine oder andere Weise unterstützen.
Wie dem auch sei, die Dinge werden sich zwangsläufig bewegen. Die PA wird es schwer haben, ihre Sicherheitshoheit aufrechtzuerhalten. Die Kohärenz der auf Sicherheitspolitik orientierten Klasse wird auf eine harte Probe gestellt werden.
Die Armee und die Siedler haben parallel zur Offensive in Gaza eine Reihe von Angriffen im Westjordanland gestartet. Diese Offensive wird sich intensivieren und eine Reihe von Massakern mit sich bringen, die begrenzter als in Gaza sind, aber wahrscheinlich auch »selbstorganisierter«.
Es gibt also allen Grund, besorgt zu sein. Aber irgendwie habe ich auch die Hoffnung, dass ein autonomer Kampfraum stärker wird und den bleiernen Deckel aus Repression und Klientelismus, die die PA in den letzten 15–20 Jahren produziert hat, wegfegt – dass ein Zusammenbruch der palästinensischen Sicherheitskräfte die soziale Explosion ermöglicht, die seit Jahren erwartet wird. Die Klassenverhältnisse im Westjordanland sind von aussergewöhnlicher Gewalt geprägt. Die Bourgeoisie im Westjordanland hat lange von der Kooperation mit Israel profitiert, sie hat sich vollgefressen und es wäre gut, wenn sie etwas Schiss bekommen würde.

Seit einiger Zeit gibt es in Israel soziale Proteste gegen Netanjahu und insbesondere seine Justizreform. Welche Konsequenzen haben diese Kämpfe (wenn überhaupt) in der aktuellen Situation? Inwieweit drückt der »zivile« Widerstand der israelischen Bevölkerung (z. B. die jüngsten Kämpfe gegen die Justizreform) solche Bestrebungen aus?

Der Krieg scheint mir auch ein Symptom für den Verlust des Zusammenhalts der Kapitalistenklasse zu sein; und gleichzeitig wird dieser Verlust durch die militärische Einheit verschleiert. Der israelische militärische Zusammenbruch am 7. Oktober scheint weitgehend aus dem Kampf hervorzugehen, der die israelische Kapitalistenklasse durchzieht und der zum ersten Mal die Institution des Militärs erreicht hat. Der Kampf in den letzten Monaten war intensiv und hat sich auf die Strasse entladen. Das alte Israel, aschkenasisch, bürgerlich, säkular und militärisch, das vertikal in Tel Aviv akkumuliert, traf auf die herrschende extreme Rechte, sephardisch, revanchistisch und horizontal akkumulierend in den Hügeln des Westjordanlandes. Aber bei diesen Demonstrationen ist nie etwas Proletarisches übergeschwappt. Schlimmer noch: nichts Demokratisches, im »zivilen« Sinne, wie du sagst. Das Proletariat in Israel, das dennoch unter einem hohen Ausbeutungsniveau leidet, wird durch seine existenzielle Einbindung in den Militärstaat mundtot gemacht.
Die kriegerische nationale Einheit kehrt diesen Kampf innerhalb der israelischen herrschenden Klasse vorübergehend unter den Teppich: Gaza unter einem Bombenteppich zu ertränken, darob sind sich alle einig; und auch darüber, eine bleierne Sicherheitsabschottung zu errichten. Seit der allgemeinen Mobilmachung ist die Jagd auf den inneren Feind eröffnet. Sie betrifft die Handvoll Linker, die noch übrig sind, aber auch und vor allem das muslimische Proletariat (die Palästinenser von 1948), dessen kleinste Solidaritätsbewegung mit den Opfern der wahllosen Bombardierungen verfolgt wird. Was wird in einigen Monaten passieren? Wird der Krieg dazu führen, dass sich die herrschende Klasse der Siedlerpartei anpasst? Diese wird zwar von der Mehrheit der Bourgeoisie wegen ihrer religiösen Rückständigkeit verachtet, ist aber dennoch die Partei, die am meisten mit einer Mobilisierung übereinstimmt, die auf die Jagd nach Arabern ausgerichtet ist und wahrscheinlich nicht so bald aufhören wird.

3.

Glaubst du, dass das rein koloniale Analyseraster geeignet ist, um die Beziehungen zwischen Israel und dem palästinensischen Proletariat zu definieren?

Ja und nein, offensichtlich.
Wir befinden uns in einer Situation, in der es weniger um die Ausbeutung einheimischer Arbeitskräfte geht als um die Verwaltung einer überschüssigen proletarischen Bevölkerung, und zwar in einem Ausmass, das innerhalb der kapitalistischen Akkumulationszentren einzigartig ist. Für jeden Arbeiter mit einem Arbeitsvertrag in Israel gibt es einen weiteren, der in einer der grossen geschlossenen Vorstädte gehalten wird, die die Siedlungszentren unter palästinensischer Gerichtsbarkeit bilden: der Gazastreifen und die Städte im Westjordanland. Das sind fast fünf Millionen Proletarier, die nur wenige Kilometer von Tel Aviv entfernt abgestellt sind, unsichtbar, die vom täglichen Verkauf ihrer Arbeitskraft leben und von Soldaten bewacht werden, damit sie nicht aus ihren Käfigen herauskommen.
Dieses grosse Einsperren, diese Operation der Trennung zwischen nützlichen Proletariern und überzähligen Proletariern auf ethnisch-religiöser Basis, beginnt gleichzeitig mit dem Beginn des Friedensprozesses, der in Wirklichkeit ein Prozess der Externalisierung der sozialen Kontrolle der Überzähligen ist. Zuvor, in den 1970er und 1980er Jahren, waren die Palästinenser massiv vom israelischen Kapital beschäftigt.
In diesem Sinne ist der Begriff »kolonial« etwas unpassend, um das soziale Verhältnis zu bezeichnen, das seit den frühen 1990er Jahren in Israel-Palästina herrscht. Darüber hinaus hat er den Nachteil, dass er einen Gegensatz zwischen zwei nationalen Formationen festschreibt, die in Wirklichkeit gemeinsam produziert und reproduziert werden. Palästinensische und israelische Proletarier sind Segmentierungen desselben Ganzen. Was sich seit dem 7. Oktober abspielt, muss als eine gewalttätige Verhandlung zwischen einem Subunternehmer aus Gaza und seinem israelischen Arbeitgeber betrachtet werden. Es muss in diesem Sinne klar von den Kampfaktivitäten der palästinensischen Proletarier unterschieden werden, denen die Subunternehmer der Hamas und der PA an vorderster Front gegenüberstehen. Sie hat nie aufgehört, aber die nationalistische Umarmung wird ihr einen schweren Schlag versetzen, zumindest in Gaza.
Jenseits aller moralischen Überlegungen scheint mir der Begriff »Widerstand«, der auf die koloniale Vorstellungswelt verweist, ungeeignet, um die Militäroperation vom 7. Oktober zu bezeichnen: Die Interessen der Hamas sind nicht die der Proletarier, sie sind nicht die – um die gängige Vokabel zu verwenden – des »palästinensischen Volkes«. Die Proletarier in Gaza werden, unabhängig vom Ergebnis dieser Verhandlungen, die grossen Opfer sein – sie sind es bereits. Wenn Israel sich beflügelt fühlen würde, sich seines Subunternehmers zu entledigen, würde das bedeuten, dass Israel sich beflügelt fühlen würde, sich seiner überzähligen Proletarier in Gaza zu entledigen. Das eine kann nicht ohne das andere gehen.
Andererseits glaube ich, dass wir nicht ohne ein Analyseraster auskommen können, das auf dem Kolonialen basiert.
Israel erbt diese europäische Logik, die darin besteht, die Arbeitskraft auf der Grundlage von rassischen Kriterien zu »animalisieren« und eine Barriere zwischen der zivilisierten und der vorzivilisierten Welt zu ziehen. Dieses Paradigma wird in Israel auf Hochtouren betrieben, und zwar auf eine ganz bewusste Weise. Derzeit werden die Menschen in Gaza nach dieser Logik massakriert: Man ertränkt sie in Bomben, ohne ein anderes politisches Ziel als sie zu »mässigen« und an die Hierarchie zu erinnern, die die Menschengruppen in dieser Region der Welt voneinander trennt. Ein Hund beisst, das Rudel wird erschossen.
Es muss daran erinnert werden, dass die Grenzen zwischen Zivilisation und Tier fliessend sind. Sie waren und sind auch innerhalb der israelisch-jüdischen Staatsbürgerschaft wirksam. Arabische (Mizrahim) oder äthiopische (Falaschas) Juden waren lange Zeit auf der falschen Seite des Zauns und stellten eine Art einheimischen Ersatz dar, der dazu benutzt wurde, andere Einheimische zu mässigen.
Das Koloniale, als Erbe der eigentlichen Kolonialzeit, erzeugt eine Art »Triebökonomie«, um die sich der Aufbau sozialer Kategorien rankt – und das ist übrigens nur ein vergröbertes Bild dessen, was in der gesamten »Festung«, die aus den zentralen Ländern der kapitalistischen Akkumulation besteht, passiert, wie man an der unmittelbaren Übertragung des »Zivilisationskriegs« auf Frankreich sehen kann.
Die aktuelle Dynamik und ihr Ansatz, die überzähligen Proletarier in Reserve zu halten, führt zu einer Flut von Affekten, die auf Demütigung aufgebaut sind. Angesichts der Unmöglichkeit, kollektiv in die sozialen Beziehungen einzugreifen, erzeugt die Ohnmacht eine Folge eines doppelten Verbitterungsgefühls: Suche nach Anerkennung auf der einen Seite, nach Rache auf der anderen.
Weil sie keine Bourgeoisie haben, auf die sie sich stützen können, weil sie kein Proletariat haben, das sie selbst ausbeuten, sind Politiker wie die der Hamas gezwungen, sich auf die Ausnutzung dieser Affekte zu stützen, deren Verkörperung sie werden – wohl oder übel, mangels anderem.

Um auf Israel zurückzukommen: Wenn man bedenkt, dass die kapitalistische Akkumulation weitgehend auf der permanenten »Kriegswirtschaft« + auf der Landaneignung + auf der Ausbeutung des mehr oder weniger formellen palästinensischen Proletariats beruht, muss man dann jede »Lösung« (z. B. »Zwei-Staaten-Lösung«) als entschieden unmöglich betrachten?

Als Israel ab den 1990er Jahren die Verwaltung der palästinensischen Arbeitskräfte in den Gebieten loswerden wollte, übertrug es diese Aufgabe einem Subunternehmer, der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Aber Israel hält sich nicht an den Vertrag, der zu einer Art symbolischer Souveränität führen sollte. Es misshandelt seinen Subunternehmer. Daraufhin revoltiert der Subunternehmer: Es kommt zur zweiten Intifada, in der sich ein Kampf der PA gegen ihren Arbeitgeber mit einem allseitigen proletarischen Kampf gegen Israel und den Subunternehmer vermischt, der sich jedoch als durch die Triangulation erstickt erweist. Am Ende dieser historischen Sequenz spaltet sich die Subunternehmerschaft der PA. Ein schlecht behandelter, aber gefügiger Subunternehmer im Westjordanland; ein anderer schlecht behandelter, aber quirliger Subunternehmer in Gaza. Die Hamas mag als Feind behandelt werden, aber Tatsache ist, dass Israel in diesem Kontext nicht ohne Subunternehmer auskommen kann.
Lassen Sie uns kurz auf diesen Prozess und sein Scheitern zurückkommen. Warum haben die Kapitalisten den »Frieden« nicht ergriffen, der darin bestand, einen palästinensischen »nationalen Prozess« in Gaza und im Westjordanland zu unterstützen? Was ihnen damals in den Schoss fiel, war die Öffnung eines regionalen Marktes mit den umliegenden Ländern, die Möglichkeit von Investitionen in Ländern mit billigen Arbeitskräften. Es hätte ausgereicht, die Behörde mit den Attributen eines Schurkenstaates zu versehen, der von externen Geldgebern bis zum Anschlag finanziert wird und der ein gefangener Markt geblieben wäre. Die Antwort auf diese Frage ist für mich nicht eindeutig. Ich stelle zwei Hypothesen auf. Die erste ist die des Gewichts des »militärischen« Kapitals, das von der militärischen Rente unterstützt wird, die aus den USA nach Israel fliesst. Dieser Militärkapitalismus, der mit dem High-Tech-Sektor verbunden ist, wird über den Kopf des regionalen Marktes hinweg internationalisiert. Die zweite Hypothese sieht das Scheitern des Friedensprozesses als Teil der grossen Katastrophe, die der Versuch der USA, den Nahen Osten in den 2000er Jahren umzugestalten, darstellte. In der Erwartung, dass die Kapitalströme in der Region durch militärische Massnahmen verflüssigt würden, hätte sich Israel gehalten, bevor es sich vorstellte, dass es die Möglichkeit hatte, Subunternehmer zu sein, ohne den Behörden in den palästinensischen Reservaten etwas abtreten zu müssen. Dies hielt fast zwanzig Jahre lang an. In diesem Zusammenhang entstand sogar die Aussicht auf die Öffnung neuer Märkte in der arabischen Welt (das so genannte Abraham-Abkommen und neue Aussichten auf eine Pax americana mit Saudi-Arabien), und es ist wahrscheinlich diese Situation, die gerade zerbrochen ist. Was sich am 7. Oktober gezeigt hat, ist, dass die Butter-und-Brot-Gleichung nicht haltbar ist: Man wird mit den palästinensischen Kerkermeistern der palästinensischen Reserven verhandeln müssen, um die auf dem eigenen Territorium gebildeten Ghetto-Reserven einzudämmen, oder sich ihrer entledigen müssen, was eindeutig ein neues Kapitel in der Geschichte der kapitalistischen Gewalt in den Ländern des zentralen Akkumulationsblocks aufschlagen würde. Das ist nicht unmöglich. Es lässt einen schaudern.

Die Idee des »palästinensischen Volkes«, um die sozialen Spaltungen zu überwinden, ist aber nicht weniger wirksam, auch innerhalb der beherrschten Klassen?

Sozialkritik ist meiner Meinung nach vor allem die Produktion von Kategorien, die es ermöglichen, Antagonismen in Form von sozialen Widersprüchen zu denken. In einem Kontext wie dem von Israel-Palästina kann dies wie eine Operation erscheinen, die die zirkulierenden subjektiven Kategorien verdrehen, auf deren Grundlage die Kampfaffekte konstruiert werden, und das was als Identität wahrgenommen wird.
Die Idee des »palästinensischen Volkes« als Gegenkategorie zu »Israel« ist natürlich an vielen Stellen wirksam: auf Ausweispapieren und in den meisten Köpfen, auch als Legitimationsmodus für proletarische Kämpfe.
Aber die Ethnisierung der sozialen Beziehungen hat eine Geschichte, die in erster Linie die Geschichte der herrschenden Klassen ist: Es ist die Geschichte der Bildung einer kapitalistischen jüdischen Bourgeoisie, die eine arabische feudal-merkantile Bourgeoisie auslöscht; die Verschmelzung dieser Bourgeoisie mit einem Militärstaat usw. Die Ethnisierung der sozialen Beziehungen hat eine Geschichte, die in erster Linie die Geschichte der herrschenden Klassen ist. Die Proletarier werden in diese Ethnisierung der Antagonismen innerhalb der herrschenden Klasse hineingezogen.
Man darf nie aus den Augen verlieren, dass der »palästinensische Kampf«, einschliesslich des Kampfes unter dem Banner der Hamas, in erster Linie ein Kampf der herrschenden arabischen Gesellschaftsklassen – oder derer, die danach streben, in sie zu investieren – für ihre Integration in das israelische Kapital ist. Die Interessen der Proletarier, um sich manchmal unter dem Banner des nationalen Kampfes wiederzufinden, stehen in letzter Instanz im Widerspruch zu denen ihrer Bourgeoisie.
Ich denke, dass Solidarität nicht mit dem »palästinensischen Widerstand«, sondern mit den Kämpfen der Proletarier gegen die Bedingungen, unter denen sie leben müssen, geboten ist. Die Proletarier kämpfen unter den Flaggen, die ihnen zur Verfügung stehen. Es ist nicht die Flagge, die wir betrachten müssen, sondern die Kämpfe selbst. Eine palästinensische Flagge und sogar eine Fatah- oder Hamas-Flagge sind potenziell Kampfflaggen, die sich je nach Kontext den politischen Verwaltern entziehen. Im Übrigen sollte man nicht auf die Hamas scheissen, weil sie Islamisten sind, sondern weil sie ein Apparat zur Betreuung des Proletariats ist, ein Staat im Entstehen.
Dennoch kann diese Sozialkritik manchmal unglaublich kalt und weit entfernt von den Erfahrungen des Kampfes erscheinen, der andere Kategorien mobilisiert. Die Kappe, die ich aufsetze, um kühlen Kopfes über dialektischen Materialismus zu sprechen, ist nicht dieselbe, wie wenn sich die Situation vor meinen Augen entfaltet, mit ihrer Gewalt, ihren Kämpfen und ihrer Subjektivität.

Läuft eine materialistische Kritik in einem so identifikationsgeladenen Kontext nicht Gefahr, zu abgehoben zu erscheinen?

Mir scheint, dass in einem solchen Kontext eine Herausforderung darin besteht, nicht eine Position, sondern einen Standpunkt, eine Methode zu halten. Ein revolutionärer Blick besteht zunächst darin, sich nicht von der Verselbständigung moralischer Kategorien, die von der Linken gehandhabt werden, blenden zu lassen. Ich sehe zwei, die derzeit in Gesprächen ständig drohen, ein dialektisch orientiertes Denken zu erdrücken.
Die erste ist die reflexartige Klage nach dem Motto »Das Proletariat ist nicht so, wie wir es gerne hätten«: antisemitische muslimische Proletarier, rassistische jüdische Proletarier. Abgesehen davon, dass dieses Denken – das darin besteht, die Innerlichkeit des Proletariers von einer intellektuellen Position aus zu betrachten – von Natur aus bürgerlich ist, ist es besonders unangemessen in einer Situation, die die eines Antagonismus ist, in der sich keine Form proletarischer Selbständigkeit manifestiert.
Was sich derzeit entfaltet, ist eine Logik der Einreihung des Proletariats auf der einen Seite und des reinen Massakers an überzähligen Proletariern auf der anderen. Einige werden also den guten alten Zeiten nachtrauern, in denen die palästinensischen politischen Formationen (und damit, so wird vermutet, auch das Volk selbst) links waren. Mir scheint, das ist dumm. Die Ideologie der politischen Gruppen ist zweitrangig, sobald man davon ausgeht, dass sie in erster Linie darum kämpfen, dass ihre Führer sich als herrschende Klasse aufstellen und reproduzieren können. Was die Methoden betrifft, möchte ich nur daran erinnern, dass es beispielsweise ein Kommando der DFLP [Demokratische Front für die Befreiung Palästinas], einer ideologisch linksradikalen (und mit Elementen der israelischen Linksextremen verbundenen) palästinensischen Formation, war, das 1974 das Massaker an 22 Kindern in einer Schule in Ma’alot verübte.
Ein zweiter problematischer Denkreflex besteht darin, metaphysisches Denken in die Analyse einfliessen zu lassen. Dieses metaphysische Denken ist in der Idee der Wiederholung enthalten, die erstarrt und verblüfft. Es ist in den Ausarbeitungen zu den »Massakern an den Juden«, aber auch zur »palästinensischen Tragödie« am Werk. Diese Ausarbeitungen, die sich vielleicht autonom in den Tiefen der Psyche entwickeln, sind nichtsdestotrotz reine Produkte der Art und Weise, wie das bürgerliche Denken die sozialen Beziehungen in den Himmel der Ideen verschiebt.
Lassen wir die Geschichten von Farcen und Tragödien beiseite: Die Geschichte wiederholt sich nicht: Die Antagonismen, die sich entfalten, sind immer, vor allem, aktuelle Antagonismen.

Anmerkungen:
[prev.] [content] [end]

  1. Lenin, in LW, Ergänzungsband 1, S.470, »Brief im Zusammenhang mit der Herausgabe des ›Flugblatts‹«.[⤒]


Source: »Gaza: ‹une militarisation extrême de la guerre de classe en Israël-Palestine›«, »Le serpent de mer«, 30 Oktober 2023.
Übersetzt aus dem Französischen von M&K 11/2023.

[top] [home] [mail] [search]