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WIDER DIE DEKADENZ REVOLUTIONÄRER THEORIE


Content:

Wider die Dekadenz revolutionärer Theorie, oder: wie die IKS den Marxismus »bereichert« und verfälscht
Das Wachstum der Produktivkräfte
Die Krise bei der IKS
Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise
Kapitalistische Expansion und Ausdehnung der Märkte
Die IKS und die Fragen der Krisen seit 1939
Wiederaufbau und Rüstungswirtschaft
Das »verworrene Wesen« der Rüstungsproduktion
Gesellschaftliches Gesamtkapital oder »globales« Kapital
Produktive und unproduktive Arbeit
Source


Wider die Dekadenz revolutionärer Theorie

oder: wie die IKS den Marxismus »bereichert« und verfälscht

Im Folgenden werden wir vorführen, wie die IKS [»Internationale kommunistische Strömung«] mit dem Marxismus Schindluder betreibt und, als Ausdruck einer ideologischen Sekte, mit für das Kleinbürgertum typischen Innovationen und »Bereicherungen« den wissenschaftlichen Sozialismus, die revolutionäre Theorie des Proletariats, aushöhlt, entstellt – und ad absurdum führt. Dieses Unterfangen gestaltet sich für weniger geschulte Genossen als schwierig, da sich die IKS zwischen wahrhaft meisterlich herausgeklaubten Textpassagen aus den Marx-Engels-Werken verschanzt, um dann, in gleicher Absicht, durch Zwischentexte eigener Provenienz einen »wertvollen Beitrag« zur Bereicherung des Marxismus zu leisten: durch Begriffsverwirrung.

In ihrer Broschüre »Die Dekadenz des Kapitalismus«, ein Standardheftchen der deutschen IKS-Sektion, wird auch bald erläutert, woher die IKS die Energie für die unablässige und verschrobene Verfälschung der revolutionären Theorie des Proletariats nimmt. So heisst es, auf Seite 11 der aufgeführten Broschüre:
»Man kann in der Tat behaupten, dass alle unsere Positionen wie z. B. die Ablehnung der Gewerkschaften, des Reformismus, der nationalen Befreiungskriege usw. keine materielle Grundlage hätten und rein moralischer Natur wären, wenn wir nicht von der Dekadenz des Kapitalismus ausgingen.«

Auf gut deutsch heisst dies nichts anderes, als dass die »Dekadenztheorie« das Raison d’être der IKS darstellt und jede Bezweiflung des »Dekadenz«-Konzepts für die IKS zur existentiellen Bedrohung wird. Dies bedeutet andererseits natürlich, dass die IKS zu Entstellung und Eklektizismus gezwungen ist, um ihre Ideologie – um jeden Preis – zu verteidigen. Da schreckt man vor nichts zurück, weder vor dummen Diskriminierungsversuchen gegenüber revolutionären Kommunisten noch vor Honigkübeln, aus denen man das Zeug pfundweise denjenigen um den Bart schmiert, die sich bereitwillig in ihren Bann ziehen lassen. Einmal das Gift der »Dekadenz«-Ideologie eingeimpft, lebt man blendend – und geblendet – von der Ausblendung der wirklichen Verhältnisse. Das haarige Schema der »Dekadenz« wird allem übergestülpt, und was dem entgegenspricht, was es widerlegt, wird beiseitegeschoben, weggedrückt, mit Nichtbeachtung gestraft. Nur den kritischen und durch selbständige theoretische Arbeit geläuterten Elementen gelingt es, sich aus dem Bann der zwar simplen, aber doch dem Proletariat so gefährlichen »Dekadenz«-Ideologie zu lösen. Auch wenn die IKS als ausserhalb der historischen Partei der Emanzipation und Befreiung des Proletariats stehend betrachtet werden muss, so heisst dies noch nicht, das einige ihrer Sympathisanten oder gar Mitglieder für die revolutionäre Sache verloren oder dem Zugang zum revolutionären Marxismus für immer verschlossen wären. Ihnen gilt vor allem unsere Widerlegung der IKS-Ideologie und die Offenlegung ihrer katastrophenhaften, willkürlichen und verzerrenden Marx-Interpretation – ein Wort, dass der Eindeutigkeit und Klarheit des Marxschen Riesenwerks schon ins Gesicht schlägt.

Hier werden wir uns nicht mit dem gesamten Komplex der sogenannten »Dekadenz«-Theorie befassen, sondern uns auf einen der argumentativen Angelpunkte der IKS konzentrieren, der Frage nach dem Wachstum der Produktivkräfte einerseits, hauptsächlich aber mit der Frage der produktiven Arbeit. Der ganze ideologische Wust der IKS ist leicht zu durchschauen, hat man einmal ihre Argumentationsweise und unwissenschaftliche Arbeitsweise begriffen.

Das Wachstum der Produktivkräfte

Auf Seite 18 der erwähnten Broschüre eröffnet die IKS unter dem Titel »Die Entwicklung der Produktivkräfte« ihren ersten Angriff auf die marxistische Theorie. Wie immer zerstückelt sie dabei Zitate, um ihr eigenes Interpretationsschema anzubringen. Zunächst zitiert die IKS Marx:
»Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten (…) Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein«.
Sodann bemerkt die IKS, dass das Auftreten des Konflikts, nicht aber der Stillstand der Produktivkräfte den Zeitraum der »Dekadenz der alten Gesellschaft« eröffnen würde. Marx hätte diesen »Massstab« selbst hervorgehoben, mit seinem Satz:
»Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um«.

Der aufmerksame Leser fragt sich, warum die IKS letzteren Satz im weiter oben erwähnten Zitat durch »(…)« auslässt, um ihn weiter unten aufzuführen. Doch der Grund klärt sich auf bei der Interpretationsanweisung, die die IKS gleich im Anschluss gibt (»Marxens Behauptung muss folgendermassen verstanden werden:«). Nach der marxistischen Auffassung sei die Dekadenz einer Gesellschaft durch die endgültige Verlangsamung des Wachstums der Produktivkräfte gekennzeichnet. Die IKS interpretiert hier folgendermassen:
FESSELUNG DER PRODUKTIVKRÄFTE = VERLANGSAMUNG DES WACHSTUMS DER PRODUKTIVKRÄFTE.
Von dieser Gleichung ist bei Marx – selbstverständlich – nicht die Rede. Dies wird sogleich offensichtlich, sobald wir Marx zusammenhängend zitieren:
»Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein«. (K. Marx, »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, »Vorwort«, MEW, Bd. 13, S. 9).

Der erwähnte Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist also keineswegs eine Frage der Geschwindigkeit der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern der sozialen Schranken ihrer Entwicklung. Diese sozialen Schranken, die Eigentumsverhältnisse, verhindern eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte in Formen, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen. Es kann aber keineswegs von dieser Tatsache abgeleitet werden, dass sich die Produktivkräfte überhaupt nur noch verlangsamt entwickeln. Im Gegenteil. Der Kapitalismus ist auf Gedeih und Verderb auf die Entwicklung der Produktivkräfte in seinem Sinne, nämlich der Verwertung von Arbeitskraft, angewiesen, und er tut dies auch. Aber diese einseitige Art des Interesses verursacht gleichzeitig eine einseitige Art der Entwicklung der Produktivkräfte. Die Fessel, von der Marx hier redet, ist die soziale Fessel: Verwertungsinteresse des Kapitals versus Lebensinteresse des Proletariats und der anderen ausgebeuteten und geschundenen Schichten. Darum schreibt Marx auch nur wenige Zeilen später:
»Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schosse der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus« (ebd. )

Klar und einfach: nicht weil sich die Entwicklung der Produktivkräfte verlangsamen würde, sondern weil eine ungeheure Masse Reichtum einer ungeheuren Masse Elend gegenübersteht kommt es zur sozialen Revolution. Die Fessel der Produktivkraft, von der Marx hier spricht, ist die Fessel ihrer sozialen Bestimmtheit, ist die Fessel der privaten Aneignung die dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem gesellschaftlichen Konsumtionsbedürfnis widerspricht. Ein Merkmal des Kapitalismus, das übrigens nicht erst seit 1914 besteht, sondern das Engels in seinem Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« bereits bestens, und heute mehr und mehr auf die sich dort neu abzeichnenden Verhältnisse übertragbar, beschrieben hat. An anderer Stelle schreibt Marx dazu:
»Der Widerspruch dieser kapitalistischen Produktionsweise besteht aber gerade in ihrer Tendenz zur absoluten Entwicklung der Produktivkräfte, die beständig in Konflikt gerät mit den spezifischen Produktionsbedingungen, worin sich das Kapital bewegt und allein bewegen kann. Es werden nicht zuviel Lebensmittel produziert im Verhältnis zur vorhandenen Bevölkerung. Umgekehrt. Es werden zuwenig produziert, um der Masse der Bevölkerung anständig und menschlich zu genügen…«. (K. Marx, »Das Kapital«, Bd. 3, MEW, Bd. 25, S. 268)
Wie wir ohne grosse Umschweife aus all dem sehen können sehen ist die Gleichung:
FESSEL = VERLANGSAMUNG
eine völlig aus der Luft gegriffene und entstellende Interpretation des weiter oben aufgeführten Texts von Marx. Aber wenn das Kapital »Manipulationen bestimmter Mechanismen des Wertgesetzes« (gleicher IKS-Artikel, Seite 19) vornehmen kann, warum sollte der IKS dann dieses Vergnügen an den klassischen Texten vorenthalten werden. Im Endeffekt sitzt die IKS einer falschen Analogie auf, die man gutmütig unter der Rubrik Vulgärmarxismus einordnen könnte. Der einfache aber irreführende Gedanke: bin ich an Händen und Füssen gefesselt, kann ich mich nur langsamst fortbewegen. Gefesselt heisst also unbedingt langsam, was für ein beschränkter Horizont! Um den Horizont dennoch etwas zu erweitern, wird dafür die Spekulation herangezogen. Uns lässt man wissen, dass die
»Dekadenz einer Gesellschaftsform vom ökonomischen Standpunkt aus« gekennzeichnet wird durch »eine tatsächliche Verlangsamung des Wachstums der Produktivkräfte« gegenüber den vollkommen untatsächlichen »Raten, die technisch und objektiv möglich gewesen wären, wenn sie nicht den Fesseln der alten, weiterbestehenden Produktionsverhältnisse unterworfen wären«.
Der Abstand zwischen der tatsächlichen und möglichen Entwicklung der Produktivkräfte
»vergrössert sich immer mehr, und dies tritt den gesellschaftlichen Klassen immer deutlicher vor Augen« (ebd. ).

Fangen wir bei diesem Geschwätz hinten an. Die Diskrepanz zwischen der hypothetischen und wirklichen Entwicklung der Produktivkräfte tritt also »den gesellschaftlichen Klassen« vor Augen. Klar. Die gesellschaftliche Klasse der Kapitalisten heult uns beständig vor, wie lebenswichtig es für sie ist, die Produktivität der einzelnen Fabriken hochzuschrauben, diejenige der Transportwege zu erhöhen, und wo man bereits sein könnte, wenn sich nicht hie und da und mal mehr, mal weniger, die Arbeiter gegen eine solche Entwicklung stemmen würden. Anders für? – klassenbewusste Arbeiter und Kommunisten, weil sich in ihrer Vorstellung die vorhandenen Produktivkräfte mit einer anderen gesellschaftlichen Bestimmung nutzen und entwickeln lassen. Nur bleibt von diesen hypothetischen Wachstumsraten nicht viel übrig, denn für die IKS sind diese »hypothetischen Raten« nicht etwa Resultat einer kühnen Kalkulation, wie und unter welchen Voraussetzungen sich die Produktivkräfte hätten entfalten und entwickeln können nach einer siegreichen Revolution und der Einführung von kommunistischen Produktionsverhältnissen, etwa seit der Pariser Kommune oder der Oktoberrevolution, wenn diese sich im Westen fortgepflanzt hätte, für die IKS beschränkt sich dies hypothetische Wachstum auf die billige Fortschreibung kapitalistischer Wachstumskurven, die die IKS willkürlich herausgreift und bestimmt. Mit solchen unwissenschaftlichen Taschenspielertricks jagt die IKS ihre Gefolgschaft ins Bockshorn! Es gehört nicht gerade zu einer seriösen Methode, einer tatsächlichen Zahl eine erfundene und rein willkürliche gegenüberzustellen. Wir werden auf diese Hypothesen der IKS noch später zurückkommen. Jedoch reicht der Geist, der daraus spricht, vollständig dazu aus, die Formel der IKS zu vervollständigen:
GEFESSELT = LANGSAMES WACHSTUM
ENTFESSELT = VIEL WACHSTUM
Nach dem Kriterium der Velozität haben wir nun auch das der Quantität. Das eigentliche Kriterium lässt die IKS ganz unberücksichtigt, die Qualität und die gesellschaftliche Bestimmtheit der Anwendung der Produktivkräfte.

Die Krise bei der IKS

Das zweite »ökonomische Kennzeichen« der »Dekadenz« besteht laut IKS im Auftreten von immer tiefergreifenden und ausgedehnteren Krisen. Für Marx, der weder die IKS noch die »Dekadenz« vorausgesehen hatte, galt dieses Kennzeichen des Kapitalismus schon vor dem Jahre 0 der »Dekadenz« 1914, und er hat dies ausführlich beschrieben und dargelegt. Doch sehen wir von den Eigentümlichkeiten und Gesetzmässigkeiten der Krisen im Kapitalismus ab und sehen, was sich die IKS von den Krisen erhofft und wie sich für die IKS diese Krisen positiv auswirken. Sie schreibt, ohne dabei rot zu werden, dass
»im Verlaufe dieser Krisen (…) die Macht der herrschenden Klasse erheblich geschwächt (wird) und durch die objektiv zunehmende Notwendigkeit findet die revolutionäre Klasse die ersten Grundlagen für ihre Stärke und Einheit« (ebd. ).
Wenn das ein ökonomisches Kriterium der »Dekadenz« sein soll, dann ist der Kapitalismus schon seit Marx »dekadent«. Denn immerhin muss jeder zugestehen, dass die »ersten Grundlagen der Stärke und Einheit« des Proletariats im letzten Jahrhundert bereits gegeben waren. Die Kriterien, um also »vom ökonomischen Standpunkt aus« die »Dekadenz« zu kennzeichnen sind also Windeier. Die Schere zwischen hypothetischer (setzen wir hier einen kommunistischen Standpunkt voraus) und tatsächlicher Entwicklung der Produktivkräfte geht schon seit der Zeit auseinander, als bereits der Widerspruch zwischen privater Aneignung und gesellschaftlicher Produktion feststellbar war – wie sonst hätte sich die Analyse des Kapitalverhältnisses theoretisch fassen lassen? Das Auseinanderklaffen von Reichtum und Armut, die konkrete Seite des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im Kapitalismus, das gibt es von Anfang an. Und genau deshalb gibt es auch von Anfang an die Vereinigungsbestrebungen der Arbeiter, um zu Stärke und Einheit zu gelangen. Von dieser Periode profitieren heute noch alle Kommunisten wirklich, tatsächlich, während von den »hypothetischen Bereicherungen« des Marxismus durch die IKS nur die Spur einer Sekte übrigbleiben wird, die die Wiederaneignung der revolutionären proletarischen Theorie durch das Rechtfertigungsstreben ihrer Ideologie hinauszögert haben wird.

Nun fragt sich die IKS in ihrem Artikel, ob sich das Wachstum der Produktivkräfte seit 1914 verlangsamt hat. Doch anstatt diese Frage systematisch zu untersuchen wird der Leser bewusst mit zusammenhangslosen Zahlen konfrontiert. Als erstes Beleg für das »schwindende Wachstum« der Produktivkräfte kommt Sternberg zu Wort, mit einer Auslassung über den Welthandel. Welthandel kann aber z. B. nicht mit Weltindustrieproduktion gleichgesetzt werden (auch wenn es natürlich Zusammenhänge gibt). Sogleich wird dann übergeleitet zu einem Zeitraum zwischen 1914 und 1929. Hier fassen wir kurz und anschaulich die von der IKS aufgeführten Daten zusammen:
1. 10 % Produktionsrückgang in den europäischen Ländern während des 1. Weltkrieges
2. in Nachkriegsperiode bis 1929 Prosperitätsphase
3. England hat 1929 noch nicht Handelsvolumen von 1914 erreicht.
4. Deutschland »brach zusammen oder stagnierte«
5. USA und Japan relative Prosperitätsphase
6. USA geht als Gläubiger aus 1. Weltkrieg hervor und hat Produktion um 15 % erhöht.
7. Handelsbilanzüberschuss der USA zwischen 1919 und 1929 geringer als Investitionssumme für Erweiterung des Eisenbahnnetzes bis 1919.
8. Während 1919-1929 Industrieproduktionsindex um 60 % klettert, sinkt Zahl der Beschäftigten von 8,4 auf 8,3 Millionen (Wo?)
9. Von 1910-1914 wurden 13 Millionen Morgen Wirtschaftsland zu Prärie, Steppe oder Weideland. (1. Wo? 2. vermutlich USA. 3. Ist Weideland kein bewirtschaftetes Land?)
10. Konkurrenz der Industrie- in Drittländern. Beispiel Argentinien. Zwischen 1919-29 verdoppelt USA Ausfuhr nach A., Englands Ausfuhr sinkt um die Hälfte. Gleiches bei US-Expansion nach Lateinamerika.
11. Japan gewinnt in Britisch-Indien Einfuhranteile: von 2,6 % auf 9,8 %, England verliert Anteile von 64,2 % auf 42,8 % zwischen 1913 und 1929.

Mit diesen zusammengestoppelten Daten, angereichert durch zwei kleine Tabellen zu Punkt 4 und 10, ist die Periode gemäss IKS wohl ausreichend beschrieben. Die Periode von 1929-1939 wird kürzer zusammengefasst:
12. Depression 1929 verursacht Rückgang der Weltindustrieproduktion um ein Drittel. Danach nicht so schnelle Erholung wie nach 1. Weltkrieg.
13. Produktion der führenden Weltmacht brach zusammen. 14. Nur Länder mit Rüstungsproduktion hatten gewissen Produktionszuwachs Und dies alles ist dann der Beleg dafür, dass zwischen 1914 und 1940 das Wachstum der Produktivkräfte gewaltig behindert gewesen wäre.

Stellen wir diesem Krämerladen der IKS geordnete Zahlen gegenüber, so erhält man freilich ein etwas anderes Bild:

Weltindustrieproduktion
Jahr/Periode Index 1913 = 100
1870 12
1881-1885 25
1896-1900 50
1906-1910 78
1913 100
1926-1929 146
1936-1938 182
1947-1950 248
1956 446
1967 909
1982 1811
1989 2462
Quelle: »Il corso del capitalismo mondiale«, Prospetto IV B, S. 84 u. Pr.I,3 S. 33
Grafik Weltindustrieproduktion

Nun kann man natürlich argumentieren und sagen, dass sich die Industrieproduktion zwischen 1885 (25) und 1900 (50) verdoppelt hat in einem Zeitraum von 15 Jahren, dann zwischen 1900 und 1913 nochmals in einem Zeitraum von 13 Jahren. Bis zur nächsten Verdopplung der Industrieproduktion, 1947 (216) braucht es bereits 34 Jahre, und also wäre eine »Verlangsamung« des Wachstums der Produktivkräfte eingetreten. Doch bereits 1956 liegt der Indexwert bei 446, also eine Verdopplung innerhalb von 8 Jahren, 1967 bei 909, Verdopplung nach 11 Jahren, 1982 bei 1811, Verdopplung nach 14 Jahren. Also durchaus Werte, die sich mit der Zeit vor dem 1. Weltkrieg messen lassen. Spätestens im Jahr 2000, so ist unsere Hochrechnung, hat sich die Weltindustrieproduktion abermals verdoppelt (Indexzahlen beziehen sich alle auf 1913=100). Zudem ist zu berücksichtigen, dass in derartigen Statistiken die wertliche Seite (in ihrer Preisgestalt) zum Ausdruck kommt, nicht aber die stoffliche Seite. Geht man guten Gewissens von einer ständigen Verwohlfeilerung der Produkte aus, aufgrund der permanent steigenden Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit, muss also davon ausgegangen werden, dass die Verdopplung der Industrieproduktion stofflich betrachtet in wesentlich kürzeren Fristen erfolgt als auf der wertlich/preislichen Seite). Wir kommen später darauf zurück. Aber dies ist nur die eine Seite des Wachstums der Produktivkräfte. Die qualitative Seite des Produktivkräftewachstums scheint sich der IKS überhaupt nicht zu erschliessen, obwohl sie dafür selbst einige Zahlen aufführt – als Beweis der Verlangsamung des Wachstums. In ihrem Beispiel Nr.8, bei dem sich die IKS nicht entschliessen konnte offenzulegen, wo dieses stattfand, wird dargelegt, dass nach Index (1935-39 = 100) die Produktion im Lande X um 60 % angestiegen ist, während die Zahl der Arbeiter in diesem Land sogar sank. Dies ist ein gutes Beispiel für das qualitative Wachstum der Produktivkräfte. Wenn die annähernd gleiche Zahl der Arbeiter die Produktion in einem Zeitraum von 10 Jahren um 60 % erhöht, dann ist sicher ein gewaltiger Schub in Techniken, Arbeitsorganisation, Infrastruktur etc. in dem betreffenden Lande eingetreten, sprich ein qualitatives Wachstum der Produktivkraft.

Nur einige grundlegende Daten über die technischen Veränderungen und Umwälzungen des Produktionsprozesses in der Zwischenkriegszeit reichen übrigens dafür aus, das enorme qualitative Wachstum der Produktivkräfte zu veranschaulichen, das somit die Tendenz zum Kriege forcierte und einen auf eine Revision der bis dahin bestehenden Weltwirtschaftsordnung und Grenzregelungen abzielenden Druck entfaltete. Trotz der Absatzprobleme und der Weltwirtschaftskrise wurde zwischen den Kriegen der technische Produktionsapparat des Kapitals umgewälzt und lieferte so den Ausgangspunkt für die Prosperität der Industrieländer der Nachkriegszeit. Allein die Umstellung der industriellen Produktion vom aus dem Dampfmaschinenzeitalter herrührenden System der Energietransmission mittels Riemen und Gestänge auf die Anwendung einzeln betriebener elektrischer Antriebe der Maschinen erlaubte eine völlige Neuordnung des Produktionsprozesses. In dieser Zeit war auch erst die Bereitstellung ausreichender elektrischer Energie möglich, durch die Entwicklung neuer Turbinentypen und -antriebe. In den Dreissigerjahren erzielten die Turbinen die 200fache Leistung einer Dampfturbine, wie sie bis zum ersten Weltkrieg in Verwendung war: letztere brachte gerade die Leistung – bei weitaus höherem Energieverbrauch – eines heutigen kleinen Mittelklassefahrzeugs, ca. 75 PS (55kW). Ebenso begann zwischen den Kriegen überhaupt erst die volle Entfaltung der chemischen Grossindustrie. Es ist die Zeit in der die ersten Kunststoffe wie Plaste und Kunstfasern wie Nylon und Perlon, um hier nur ein paar Stichworte zu nennen, entwickelt und produziert werden. Schliesslich sei noch die Entwicklung des Transportsystems genannt, das Ausweiten der Strassennetze und anderer Kommunikationswege. Ausdruck dafür ist zum Beispiel die sogenannte »Weltpferdestärkenbilanz«. Während 1920 die angewandten Antriebsmotoren zusammen gerade 600 Millionen PS aufbrachten, schwillt diese Zahl bis 1939 auf 2,5 Milliarden PS an. Allein diese Zahl veranschaulicht, wie gewaltig das qualitative Anwachsen der Produktivkräfte in dieser Periode war.

Es ist überhaupt schwierig, auch wenn wir uns zunächst formell darauf eingelassen haben, die Produktivkraft allein quantitativ zu messen, etwa am Ausstoss der Industriegüter allein, denn der marxistische Begriff der Produktivkräfte beinhaltet natürlich weitaus mehr als nur die unmittelbar industrielle Produktion. Deshalb sollte, bezogen auf die Industrieproduktion besser von Produktivität gesprochen werden. Wie absurd im Prinzip die IKS-Argumentation wird, legt man den wissenschaftlichen marxistischen Begriff der Produktivkraft zugrunde, wird schnell offensichtlich:
»Komplizierter aber wird das Verhältnis noch und scheinbar mysteriöser, indem mit der Entwicklung der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise nicht nur diese unmittelbaren materiellen Dinge (…) sich dem Arbeiter gegenüber auf die Hinterfüsse stellen und ihm als ›Kapital‹ gegenübertreten, sondern auch die Formen der gesellschaftlich entwickelten Arbeit, Kooperation, Manufaktur (als Form der Teilung der Arbeit), Fabrik (als Form der auf Maschinerie als materieller Basis organisierten gesellschaftlichen Arbeit), als Entwicklungsformen des Kapitals sich darstellen und daher die aus diesen Formen der gesellschaftlichen Arbeit entwickelten Produktivkräfte der Arbeit, daher auch Wissenschaft und Naturkräfte, als Produktivkräfte des Kapitals sich darstellen«. (K. Marx, »Theorien über den Mehrwert«, »Beilagen«, MEW, Bd. 26.1, S. 366f)
Wir sehen also, dass es schwierig wird, im Bereich der Produktivkraft sinngemäss überhaupt von einer »Verlangsamung« zu reden. Die IKS aber schert sich nicht um Begriffe, sie plappert munter von Verlangsamung des Wachstums der Produktivkraft, wenn sie von Produktivität spricht, dem Mass für die konkrete Anwendung der Produktivkräfte. Bereicherung des Marxismus durch Simplifizierung:
FESSEL = VERLANGSAMUNG PRODUKTIVKRAFT = PRODUKTIVITÄT
Darum schliesst die IKS auch ihr Kapitel über die Periode von 1914-1939 mit einem wunderschönen Schaubild über die »Verlangsamung des Wachstums«. Nur lässt sie einen völlig im unklaren, welches Wachstum dort zwischen 1922 und 1938 verlangsamt. Das Wachstum der industriellen Produktion (Kombination also aus quantitativem und qualitativem Wachstum der Produktivkräfte) oder der Produktivität (konkrete Anwendung der Produktivkräfte in der Produktion oder Produktivkraft der Arbeit) oder der Arbeiterbevölkerung? Egal, Hauptsache ist, die Kurve macht merklich einen Knicks – vor der »Dekadenz«-Theorie.

Kapitalistische Expansion und Ausdehnung der Märkte

Nach der IKS ist der erste Weltkrieg ein »endgültiger Wendepunkt« der kapitalistischen Expansion, zumindest in zwei Gesichtspunkten: einmal sei er das Ende der imperialistischen Expansion, zum andern das Ende des
»prozentualen Wachstums der Arbeiterklasse in der Gesamtgesellschaft«.
Auf beide Thesen ist kurz einzugehen. Zunächst, was das »Ende der imperialistischen Expansion« betrifft. Auch hier operiert die IKS mit einer verkürzten Begrifflichkeit. Für die IKS reduziert sich die imperialistische Expansion auf den rein geographischen Raum. Aber nicht nur die Aufteilung sondern auch die Neuaufteilung ist Element imperialistischer Expansion, und nicht nur das. Die Kolonialpolitik bis ungefähr um 1900, dem Zeitpunkt als die Aufteilung der Welt als abgeschlossen betrachtet werden muss, hat zwar den grössten Teil der Welt räumlich aufgeteilt, politisch-formell den imperialistischen Mächten untergeordnet, aber riesige Territorien in den Kolonien hatten deshalb trotzdem so gut wie noch nie einen Weissen zu Gesicht bekommen. Die ökonomische Durchdringung der Kolonien mit kapitalistischen Strukturen stand erst am Anfang, trotz der enormen Profite, die bereits seit Ende des letzten Jahrhunderts in die Metropolen flossen. Der räumlichen Expansion der imperialistischen Mächte entspricht nicht in gleicher Weise die Expansion des Kapitalismus als ökonomisches System. Formell-politische Unterordnung der Kolonien kann nicht gleichgesetzt werden mit reell-ökonomischer Subsumtion der beherrschten Ländereien. Letzterer Prozess musste sich unwillkürlich in der Form der Konkurrenz der imperialistischen Mächte abspielen, in der Form der Expansion des einen imperialistischen Landes auf Kosten anderer, und darüber hinaus in der Form der Emanzipation dieser Länder zu formell gleichberechtigten bürgerlichen Nationalstaaten, das heisst also zu Mittlern und Relativatoren dieses Neuaufteilungskampfes, ein Prozess, der bis heute im Grunde fortdauert. Desweiteren ist zu berücksichtigen, dass die eroberten Kolonialgebiete bis kurz nach dem zweiten Weltkrieg immer als eine Art Anhängsel der entsprechenden, sie beherrschenden Nationalstaaten fungierten. Auch dies war eine Fessel der Produktivkräfte, weil die technisch-wissenschaftliche Verbesserung der Produktionsmethoden und die Ausweitung des Produktionsapparates überhaupt durch die restriktiven Welthandelsbedingungen an ihrer Entfaltung gehindert waren, eine Fessel freilich, die das System selbst zu sprengen vermochte. Dies ist einer der Hauptgründe für die beiden Weltkriege, neben dem Kampf um die Rohstoffquellen, und für die relative Stagnation der Industrieproduktion in den klassischen kolonialistischen Ländern zwischen den beiden Kriegen, und damit einhergehend, für die Stagnation des Handels zwischen diesen Ländern. Kommen wir nun zum »Ende des prozentualen Wachstums der Arbeiterklasse in der Gesamtgesellschaft«, auch dies für die IKS ein Zeichen der »Dekadenz«. Wie so oft folgt die IKS der Argumentation und den Zahlenbeispielen Sternbergs. Mit folgenden Zahlen werden wir konfrontiert:
1. Schätzung von 1850: 10 % der Weltbevölkerung arbeitet nach kapitalistischen Methoden
2. bis 1914 steigt dieser Anteil auf fast 30 %
3. Zahl der Arbeiter in Deutschland erhöht sich von 8 Millionen 1882 auf 14 Millionen 1925, aber ihr Anteil an der aktiven Bevölkerung fiel 1925 auf 45 % nachdem er 1895 50 % erreicht hatte.
4. Zahl von 50 % stabilisiert sich, in England etwas darüber, in Deutschland und Frankreich etwas darunter.
5. laut INSEE, des französischen Statistikamtes, liegt die Arbeiterbevölkerung 1968 in der EG um die 45 %, in der USA, Japan und UdSSR um die 35 %.
6. In den unterentwickelten Ländern sei das Abflachen der Kurve noch viel stärker. Der »Anteil neuer Lohnabhängiger«, was das auch immer sein soll, sei in Asien, Afrika und Lateinamerika 9 mal niedriger bezogen auf 100 Einwohner als in den entwickelten Ländern.
7. Bis 1914 sei der Anteil der Bevölkerung, die tatsächlich in die kapitalistische Wirtschaft eingegliedert war, schneller als die Weltbevölkerung gewachsen.

Wie zu sehen ist, schwankt auch hier die IKS zwischen einzelnen Daten, ohne eine kohärente und in sich schlüssige Zahlenreihe vorzulegen. Zuerst sei zu bemerken, dass die relative Abnahme der vom Kapital angewandten Arbeiterbevölkerung im Verhältnis zur Weltbevölkerung keine Errungenschaft der sogenannten »Dekadenz« ist, sondern eine Gesetzmässigkeit kapitalistischer Entwicklung.
»Je grösser der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Grösse des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto grösser die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismässige Grösse der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je grösser aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Überbevölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je grösser endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto grösser der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört«.
»Das Gesetz, wonach eine immer wachsende Masse von Produktionsmitteln, dank dem Fortschritt in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, mit einer progressiv abnehmenden Ausgabe von Menschenkraft in Bewegung gesetzt werden kann – dies Gesetz drückt sich auf kapitalistischer Grundlage, wo nicht der Arbeiter die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden, darin aus, dass, je höher die Produktivkraft der Arbeit, desto grösser der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer also ihre Existenzbedingung: Verkauf der eigenen Kraft zur Vermehrung des fremden Reichtums oder zur Selbstverwertung des Kapitals. Rascheres Wachstum der Produktionsmittel und der Produktivität der Arbeit als der produktiven Bevölkerung drückt sich kapitalistisch also umgekehrt darin aus, dass die Arbeiterbevölkerung stets rascher wächst als das Verwertungsbedürfnis des Kapitals«. (K. Marx, »Das Kapital«, MEW, Bd. 23, S. 673f)
Es ist sofort erkennbar, dass die relative Abnahme der in der Warenproduktion Beschäftigten keine Neuerung des Systems seit der »Dekadenz« ist, sondern ein alter Hut der kapitalistischen Verhältnisse. Marx analysierte diese Gesetzmässigkeit des Kapitals anhand der Situation in England um das Jahr 1850. Nun könnte man einwenden, dass sich seit 1850 die Situation in England weiss Gott verändert hätte, doch muss man berücksichtigen, dass seit 1850 die globale Ausdehnung des Kapitalismus weit über England hinaus fortgeschritten ist und es England möglich war, aufgrund des Kolonialismus und der heutigen globalen Struktur des kapitalistischen Weltsystems, die reelle Misere vorerst auf andere Länder abzuwälzen. Der Blick in einige englische Städte genügt jedoch um auszumachen, dass dies nicht für alle Zeiten war.

Erstaunlich ist, wie die IKS, die sich sonst dem globalen Blick so verschrieben fühlt, gerade an diesem Punkt ihr Sichtfeld auf die »industrialisierten Länder« einengt und auf Einschränkungen zurückgreift wie »Anteil der Bevölkerung, die tatsächlich in die kapitalistische Wirtschaft eingegliedert wurde«, ohne Anhaltspunkte dafür zu geben, wen sie schlussendlich da hineinrechnet. Dazuhin bleibt anzumerken, dass das relative Sinken des Anteils der produktiven Bevölkerung zur Gesamtbevölkerung noch lange nicht bedeutet, dass diese produktive Arbeiterbevölkerung nach absoluten Zahlen gerechnet abnimmt, sondern sie nimmt global gesehen weiterhin zu, während sie in den industrialisierten Ländern, absolut gesehen, abnimmt, geschuldet der hohen Arbeitsproduktivität. Andererseits muss, und hier liegt ein weiterer Hauptfehler der IKS, in die Betrachtung miteinbezogen werden, dass nicht nur die Arbeiter der Industrie, des Transportwesens, der Landwirtschaft und der Fischerei in den Kreis der Mehrwertproduzenten gerechnet werden darf, sondern auch der angestellte Taxifahrer, der Lohnmusikant, der angestellte Computerfachmann oder Mediziner. Kapitalistische Produktion ist nicht an erster Stelle Produktion handfester Güter, sondern sie ist zuallererst Mehrwertproduktion. Auf diesen Umstand kommt Marx des öfteren zu sprechen, zum Beispiel indem er erklärt, dass es unerheblich sei, ob man nun Schuhe oder Kinderköpfe behämmert. Der angestellte Privatlehrer schafft ebenso Mehrwert wie der angestellte Schuster. All diese Feinheiten bleiben natürlich verborgen, geht man von einem falschen Begriff der produktiven Arbeit aus, wie auch ausschliesslich von bürgerlichen Statistiken, die eine solche Unterscheidung nicht interessiert und generell nach anderen Kriterien sortieren.

Behelfsmässig kann man jedoch, wenn man sich den Einschränkungen bewusst ist, solche Statistiken heranziehen. Wir haben also gesehen, dass die IKS behauptet, in den unterentwickelten Ländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas würde die Zahl »neuer Lohnabhängiger« im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung abnehmen. Wie undifferenziert diese Aussage ist wurde bereits gesagt. Doch sehen wir aus Interesse einmal die Zahlen der »7 Tiger« (ohne Taiwan) an:

Land Prozentsatz der in Industrie und Dienstleistung beschäftigten Bevölkerung 1965 Prozentsatz der in Industrie und Dienstleistung beschäftigten Bevölkerung 1980 Zuwachsrate der arbeitsfähigen Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren zwischen 1965 und 1980 Zuwachsrate der in Industrie und Dienstleistung Beschäftigten zwischen 1965 und 1984
Indonesien 29 33 5,6 13,7
Philippinen 42 59 7,7 40,5
Thailand 18 30 18,0 66,7
Malaysia 41 58 16,0 41,5
Singapur 95 99 26,5 4,2
Burma 36 47 -3,5 30,5
Schweiz 91 94 3,0 3,3
Westdeutschl. 90 94 6,1 4,4
(Quelle: Banque mondial,» Rapport sur le développement dans le monde 1986«, Tableau 30, S. 256 /eigene Berechnungen.)
Grafik Wachstum von Bevökerung und Beschäftigung in ausgewählten Ländern

Anhand dieser Zahlen lässt sich leicht erkennen, dass das prozentuale Wachstum der Mehrwertproduzenten, selbst wenn man die Zuwachsrate »D%« halbieren würde, um die Selbständigen sicher herauszurechnen, in den aufgeführten asiatischen Ländern im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung steigt. Anders verhält es sich nur in Singapur, dessen Bevölkerungswachstum nicht rein »hausgemacht«, sondern auf die hohe Einwanderungsrate – an Arbeitskräften – zurückzuführen ist, und das selbst heute über Arbeitskräftemangel klagt und infolge dessen die Industrie ins benachbarte Indonesien ausweicht. Vergleicht man die Spalten A und B mit denen der BRD oder der Schweiz (die hier zum Vergleich aufgeführt wurden), so sieht man auf welch hohem Niveau in Singapur bereits produziert wird. Auf alle Fälle ist aus diesen Zahlen abzulesen, dass weder die der IKS typische Indifferenz noch die »Fixierung« auf den mystischen Wendepunkt 1914 Helligkeit in die Angelegenheit bringen, sondern nur ein tiefes Verständnis der Gesetzmässigkeiten des Kapitalismus (die also auch schon vor 1914 wirken!) und die konkrete Untersuchung. Vollkommen verworren wird besagter Text der IKS, wenn man (mühsam) zum Kapitel über das Pseudowachstum seit dem 2. Weltkrieg ankommt. So hat, laut IKS,
»seit 1914 und vor allem seit 1929 ein tiefgreifender Wandel im Kapitalismus stattgefunden«. Dieser Wandel sei im wesentlichen »das Ende der imperialistischen Ausdehnung«.
Als hätte nach dem Zweiten Weltkrieg keine Expansion des amerikanischen oder russischen Imperialismus stattgefunden! Des weiteren heisst es »die imperialistische Expansion« sei der »Hauptaussenhandelsabsatzmarkt« während dieser sogenannten aufsteigenden Phase des Kapitalismus gewesen. Abgesehen vom grammatischen Schmarren, der die Expansion zu einem Markt werden lässt, ist klar was gemeint ist (man kennt diese falsche Auffassung): in der Zeit bis 1914 sei der Kapitalismus nicht an seine Grenzen gestossen, weil die nichtkapitalistischen Gebiete den überschüssigen Mehrwert realisiert hätten, auf dem das Kapital sonst sitzen geblieben wäre. Im Endeffekt läuft eine solche Theorie auf eine Verschleierung der Ausbeutung und Ausplünderung der kolonialen Länder hinaus, aus denen die imperialistischen Staaten stets mehr herausholten, als sie in sie exportierten. Z. B. stieg die Einfuhr der USA aus Kuba zwischen 1902 und 1923 von 34 Millionen auf 359 Millionen Dollar, die Ausfuhr nach Kuba stieg im gleichen Zeitraum von 25 Millionen auf 193 Millionen Dollar. Nach der IKS war dies eine suizidale Haltung der US-Bourgeoisie, die anstatt Kuba unabsetzbare Produkte aufzuhalsen, sich selbst mit der Realisierung von weiteren 359 Millionen Dollar geisselt. Oder nehmen wir eine Statistik, die sich in jedem kommunistischen Haushalt befindet, aufgeführt in Lenins »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«, den Aussenhandel Deutschlands betreffend:

Ausfuhr nach im Jahr 1889 im Jahr 1908
Gross Britannien 651,8 997,4
Frankreich 210,2 437,9
Belgien 137,2 322,8
Schweiz 177,4 401,1
Zusammen: 1176,6 2159,2
Rumänien 48,2 70,8
Argentinien 60,7 147,0
Portugal 19,0 32,8
Brasilien 48,7 84,5
Chile 28,3 52,4
Türkei 29,9 64,0
Australien 21,2 64,5
Niederl.-Indien 8,8 40,7
Zusammen: 264,8 556,7
Quelle: »Lansburgh-Statistik«, in: Lenin, »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«, LW, Bd. 22, S. 296 / eigene Berechnungen.
Alle Angaben in Millionen Reichsmark.
Grafik Weltindustrieproduktion

Viel ist also nicht mehr darüber zu sagen, wo die »Hauptaussenhandelsabsatzmärkte« z. B. des Deutschen Reiches lagen. Ebenso sieht der Aussenhandel für alle Industrieländer zu dieser Zeit aus. Hauptabsatzmarkt für den Aussenhandel waren und sind immer die entwickelsten Gebiete, das gilt für die Industrie- wie für die weniger entwickelten Länder. Um dies festzustellen genügt bei nicht ganz begriffsstutzigen Leuten die Mühe, die Aussenhandelsstatistiken genauer zu betrachten. Doch halt! Dieser »Hauptaussenhandelsabsatzmarkt« (der, wie zu sehen war, keiner ist), so belehrt uns die IKS weiter,
»absorbiert diesen relativ geringen Teil der kapitalistischen Produktion, der für die Realisierung der Kapitalakkumulation so unabdingbar« sei. Dieser geringe Teil sei »der zur Neuinvestition bestimmte Mehrwert«.
Aha. Versuchen wir zu verstehen:
a) »Hauptaussenhandelsabsatzmarkt« ist keine Eigenschaft (wie wir gesehen haben), sondern ein ökonomischer Titel, verliehen von der IKS.
b) diesen Titel spricht die IKS den von anderen Imperialisten unberührten Gebieten zu, in die der Imperialismus eindrang, weil diese Gebiete die »Hauptsache«, nämlich den zur Neuinvestition bestimmten Mehrwert zu realisieren auf ihrem Gebiete zulassen.
Ergo: wenn imperialistische Expansion tot, dann damit Aberkennung des Titels. Die Welt ohne diesen Titel:
»in weniger als 30 Jahren zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise«,
darin erschöpft sich nämlich die Illustration der IKS zu ihrer vorangegangenen These. Ein Rätsel bleibt aber, wie es die Kapitalisten schaffen, in diese Gebiete ausgerechnet den Teil zu exportieren, der den zur Neuinvestition bestimmten Mehrwert enthält, dafür aber nach England, in die Schweiz, nach Frankreich usw. nur die Teile, die bar dieses zweckgebundenen Mehrwertquantums sind? Bei Marx war darüber nichts zu finden, ausser dass es dem Kapitalisten vollkommen schnuppe ist, wo er den Mehrwert realisiert, es ihm also nur darauf ankommt, dass der Mehrwert realisiert wird. Zu diesem Zwecke beackert er alle Märkte und am meisten Erfolg wird er wohl da haben, wo die grösste zahlungsfähige Nachfrage herrscht. Und diese Nachfrage wird er eher in einem entwickelten als in einem wenig entwickelten Lande vorfinden. Und wenn er sie in letzterem vorfand, so musste er feststellen, dass der grösste Teil der zahlungsfähigen Nachfrage in diesen Ländern aus in entwickelten Ländern realisiertem Mehrwert bestand, der auf der Suche nach neuer Verwertung z. B. in eine Bananenplantage gesteckt wurde, weil der arme Subsistenzbauer weder über eine Steckdose verfügte, um dort den Haushaltsmixer einzustecken, noch über ein genügend grosses Stück Land, um unserem Kapitalisten einen Traktor abzuhandeln. Der auf besagter Plantage erwirtschaftete und in den entwickelten Ländern realisierte Mehrwert kam unserem Kapitalisten vielleicht zugute in Form eines Kredits, mit dem er wiederum die Rentabilität seiner eigenen Schwitzbude in der so idyllischen Schweiz erhöhte… Wenn der Kapitalist überhaupt einen Einheimischen in jenen Ländern fand, der in der Lage gewesen ist, ihm Waren abzukaufen, so hatte dieser zur Voraussetzung, bereits in irgendeiner Form – als Lohnarbeiter, Kapitalist oder Kleinproduzent, in den kapitalistischen Markt integriert zu sein.

Wie dem auch sei, kommen wir nun zu »höherer Mathematik« bzw. »Biomathematik«, eine Disziplin, die die IKS in den Marxismus einführt und die mit Seerosen und Marktmassen als Elementarkategorien operiert.

Zuerst die Seerosen: diese wachsen gradualistisch einen See zu. Bis die Hälfte der Oberfläche des Sees bedeckt ist, brauchen sie »lange Zeit«, dann aber nur »einen einzigen Tag« um den gesamten See zu bedecken. Da aber die Oberfläche eines Sees begrenzt ist, können sich die Seerosen nicht weiter ausdehnen. Der den Seerosen offenstehende Teil verringert sich im gleichen Masse, wie sich das Ausdehnungsbedürfnis der Seerosen vergrössert. Soweit die IKS zu den Seerosen. Angewandt auf den Kapitalismus bedeutet das von der IKS entdeckte Seerosengesetz folgendes:
»Zu Anfang des Jahrhunderts war die Masse der Märkte, die der Kapitalismus brauchte, um ein Jahr seines Wachstums sicherzustellen, mehr als sechsmal niedriger als die, die heute ein Produktionsjahr dafür benötigt«.

Leider ist es uns nicht gelungen, bei Marx eine Formel für die Berechnung von »Marktmassen« zu finden, und die IKS blieb uns die nähere Erläuterung dafür schuldig. Auch konnte kein Biologe bestätigen, dass Seerosen nach IKS-Massgabe über ein gradualistisches Ausdehnungsbedürfnis verfügen, sonst wäre z. B. der Plattensee heute schon längst von Seerosen überwuchert – er ist aber weiterhin schwimmbar! Sowenig wie dieser Gradualismus auf die Seerosen, sowenig trifft er auf die Entwicklung des Kapitalismus zu, und diese »Bereicherung« der Biologie wie des Marxismus muss zurückgewiesen werden. Sicher ist, dass das Kapital eines Wachstums bedarf, einer permanenten Ausdehnung seiner Operations- und Verwertungsbasis. Aber diese Ausdehnung ist nicht primär eine territoriale, und die territoriale Ausdehnung ist nur eine Erscheinungsform der Ausdehnung des Kapitals, das ein gesellschaftliches Verhältnis ist. Marx deklarierte, dass die Märkte unbegrenzt seien, die IKS erklärt die Märkte zu einer begrenzten Seeoberfläche. Es genügt alleine darauf hinzuweisen, dass ein Markt, der mit Unterhosen gesättigt ist, immer noch aufnahmefähig sein kann für Fernseher, auch wenn es Unterhosen schon in der »aufsteigenden Phase« des Kapitalismus gab, Fernseher, Massenautos, Computer, Kugelschreiber, holzfreies Papier, CNC-Maschinen, Tiefkühlpizzas etc. erst in der »Dekadenzphase«. Und wie die Unterhose, so muss auch ab und zu das Auto gewechselt oder eine neue Tiefkühlpizza in den Ofen geschoben werden. Aber anstatt all diese neuen Dinge (und die Märkte für diese neuen Dinge) zu sehen, sieht die IKS in der Prosperität der Nachkriegsphase nach 1945 nur Panzer und Granaten nebst den Wiederaufbaueffekten als verantwortlich für den eingesetzten Aufschwung.

Schliesslich sieht die IKS in der Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg
»die grösste Verlangsamung des Wachstums der Produktivkräfte, die bisher in der Geschichte der Menschheit stattgefunden hat. Nie zuvor hat der Abstand zwischen dem was möglich ist und dem was tatsächlich verwirklicht worden ist, solch grosse Ausmasse erreicht«.
Zur Illustration dieser These zeigt aber die IKS nicht, wie es vielleicht noch vernünftig wäre, dass eine kommunistisch organisierte Gesellschaft mit den gleichen Produktionsmitteln eine Befriedigung der Bedürfnisse der Menschheit schon durchsetzen könnte, sondern sie beruft sich auf falsche Darstellungsweisen eines möglichen kapitalistischen Wachstums, auf dumme und schwachsinnige Zahlenspielereien: Man muss eigentlich schon sehr viel Vermessenheit besitzen und darauf hoffen, nur auf Blödiane zu stossen, wenn man solche Zahlenspielereien auftischt. Die Unwissenschaftlichkeit und Willkür bei derlei pseudomathematischer Akrobatik liegt auf der Hand. Warum ist ausgerechnet das Wachstum der Weltindustrieproduktion von 1880-1890 Massstab aller Dinge? Und warum »vervollständigt« sich dies Bild ausgerechnet mit dem industriellen Produktionswachstum der USA von 1939-1949. Das IKS-Rezept zum verfertigen schöner Schaubilder ist so klar wie primitiv. Man nehme die höchsten bekannten Wachstumsraten und stelle sie der wirklichen Wachstumsrate gegenüber, und man erhält scheinbar ausreichend Zwischenraum zwischen beiden Kurven, um den restlichen Mist der »Dekadenztheorie« an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Natürlich wird das ganze ungeheuer verbrämt mit fadenscheinigen Begründungen. So handelt es sich laut IKS bei dem industriellen Produktionswachstum der USA um Wachstumsraten, die
»durch die Entwicklung der Technik während des Zweiten Weltkriegs möglich wurden«.
So hat also der Krieg, ganz gegen die These der IKS, nicht nur Destruktivkräfte, sondern auch Produktivkräfte in ungeheurem Ausmass freigesetzt? In der Tat jedoch beschränkte sich die Entwicklung neuer Techniken gerade in diesen Jahren auf die kriegswichtigen Sektoren und die Zunahme industrieller Produktion in der USA ist nicht so sehr auf das qualitative Wachstum der Produktivkräfte zurückzuführen, sondern vor allem auf die Auslastung der angehäuften brachliegenden Produktivkräfte durch den Wegfall der europäischen Konkurrenz in zahlreichen Sektoren des Weltmarkts und durch die quantitative Ausweitung der Produktion. Es darf nicht vergessen werden, dass die qualitative Entwicklung der Produktivkräfte in den USA schon vor Kriegsbeginn den europäischen Konkurrenten weit voraus war, da die nordamerikanische Bourgeoisie schon damals über einen enormen Binnenmarkt verfügte und trotzdem industrielle Überkapazitäten en masse hatte, eine der Hauptursachen der Wirtschaftskrise.

Auch die Zahlen, mit denen die IKS operiert, entbehren einer Quellenangabe. Sie selbst führt an, dass der industrielle Produktionszuwachs von 1939 mit der Indexzahl 109 bis 1944 auf die Zahl 235 geklettert sei, bei einem Index von 1938 = 100. Sie errechnet daraus eine Steigerung von 110 % innerhalb von 5 Jahren.

IKS Grafik Volumen der Weltindustrieproduktion

(Original IKS-Darstellung in der Broschüre "Die Dekadenz des Kapitalismus")

Es ist natürlich Quatsch im Quadrat, wenn man nun sogar diese 110 % als Zuwachsrate voraussetzt, sondern man könnte höchstens die durchschnittliche Zuwachsrate nehmen, diese läge dann bei ungefähr 22 %, ausgehend von unserem eigenen Quellenmaterial. Wir werden nun versuchen, die von der IKS angeführten Darstellungen etwas sauberer und mathematisch exakt darzulegen. Als datenmässiges Ausgangsmaterial dient uns wieder »Il corso del capitalismo mondiale 1750-1990«, herausgegeben von »Il partito comunista« und eigene Berechnungen. Die Indexzahlen basieren auf 1913=100:

Grafik Wachstum der Weltindustrieproduktion, verschiedene Raten

(Original-Grafik aus »Kommunistische Politik«)

Die IKS geht in ihrem Zahlenspiel von der Zahl Sternbergs aus, die dieser als Wachstumsrate der Industrieproduktion der Jahre 1880-1890 angibt. Nach Sternberg hätte sich der Industrieproduktionsindex in diesem Zeitraum mit 1,6 multipliziert. Diese Zahl Sternbergs beruht natürlich auf einer Schätzung, da in den meisten Ländern dieser Zeit Daten, die genügend Anhaltspunkte dafür geben würden, fehlen. Die von uns gegenübergestellten Zahlen gehen vom durchschnittlichen Zuwachs des Produktionsindexes der 4 grössten Industrienationen dieser Zeit aus, England, Frankreich, Deutschland und den USA, und beträgt für die Zeiträume 1880-1890, 1890- 1900 und 1900-1910 in gleicher Reihenfolge den Multiplikationsfaktor 1,519 / 1,515 und 1,513. Die durchgehende schwarze Linie zeigt die reale Entwicklung des Industrieproduktionsindex. Erstaunlich ist, welche Linearität sich zwischen wirklicher Entwicklung und Fortschreibung der Zuwachsraten – trotz der Abweichungen – seit 1913 ergibt, lässt man die IKS/Sternberg-Aussage einmal unbeachtet. Bis 1963 hinkt die reale Kurve den hochgerechneten Kurven hinterher, um sie 1973 bereits zu überwuchern und sich der IKS-Kurve anzunähern. Doch damit vollzog sich nur eine Ausgleichsbewegung, um, immer noch leicht höher als die hochgerechneten Zuwachsraten, 1993 knapp über dem Punkt anzugelangen, bei dem der Index gelandet wäre, wäre er stur seit 1913 den Zuwachsraten von 1880-1890 gefolgt. Es lässt sich also mit Sicherheit sagen, dass, wenn man das durchschnittliche Ansteigen des Industrieproduktionsindexes von 1880-1890 der damals 4 grössten Industrieländer zum Ausgangspunkt nimmt, der Kapitalismus aller Höhen und Tiefen und Krisen und Kriegen zum trotz eine langfristig recht gleichförmige Parabel beschreibt. Das Abweichen der realen Linie von der IKS/Sternberg-Kurve (wobei wir Sternberg keineswegs solche Zahlenschiebereien unterschieben wollen) erklärt sich aus der Differenz von ursprünglich 0,081 im Multiplikationsfaktor, der sich natürlich längerfristig potenziert. Wir haben weiter oben schon darauf hingewiesen, dass dieser Index die preislich-wertliche Seite industrieller Produktion widerspiegelt. Geht man also von Preisen aus den Jahren 1880-1890 aus, so muss es, bei der Verwohlfeilerung der meisten Waren durch viel rationellere Produktionsmethoden, als gesichert gelten, dass dann der reale Verlauf des Indexes die IKS-Kurve bereits in den Schatten gestellt hätte. Auf die Darstellung der zweiten Hypothese der IKS haben wir ganz verzichtet, weil sie all zu dumm und einfältig ist: exzeptionelle Zuwachsraten herauszugreifen, aus ihrem Zusammenhang zu isolieren und dann zu behaupten, sie könnten zum Massstab des eigentlichen wirtschaftlichen Potentials des Kapitalismus gemacht zu werden, das ist nur noch reine Demagogie. Danach müsste der Kapitalismus bereits 1960 erreicht haben, wo er bei ungestörter Fortentwicklung der Rate von 1880-1890 erst im Jahre 2015 angelangen würde, 1970 wäre der Index bei 45289 angelangt, dieses Jahr, 1994 wäre der Index auf sage und schreibe 5353450 geklettert, sprich das 1858fache der letztjährigen Indexzahl: die Erdenbewohner müssten sich gegenseitig aus den Warenbergen ausgraben und würden vor lauter Müll ersticken. Wir sind jedenfalls froh, dass es soweit doch noch nicht gekommen ist und dass es manchmal einfach ausreicht, schwachsinnige Thesen durchzurechnen, um ihre Absurdität nachzuweisen. Weniger Verständnis haben wir jedoch für die Bequemlichkeit einiger Genossen, dies nicht zu tun und sich dafür befleissigen, solchen Quatsch ungeprüft weiterzuverbreiten.

Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise

Wie also zu sehen war, kann von einer sogenannten »Verlangsamung« des Wachstums der Produktivkräfte nicht so ohne weiteres gesprochen werden. Die Schranken der kapitalistischen Produktionsweise treten gerade durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit hervor und verursachen somit die Krisen des Systems, Krisen, die erst dann revolutionär überwunden werden, wenn das Proletariat zur politischen Partei formiert und wenn die politischen Bedingungen es erlauben, zum letzten Gefecht gegen die sich zäh verteidigende Weltbourgeoisie zu rufen. Im Band drei des Kapitals hebt Marx den grundlegenden Widerspruch des Kapitals hervor:
»Der Widerspruch dieser kapitalistischen Produktionsweise besteht aber gerade in ihrer Tendenz zur absoluten Entwicklung der Produktivkräfte, die beständig in Konflikt gerät mit den spezifischen Produktionsbedingungen, worin sich das Kapital bewegt und allein bewegen kann. (…) Es wird nicht zuviel Reichtum produziert. Aber es wird periodisch zuviel Reichtum in seinen kapitalistischen, gegensätzlichen Formen produziert. Die Schranke der kapitalistischen Produktionsweise tritt hervor:
1. Darin, dass die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit im Fall der Profitrate ein Gesetz erzeugt, dass ihrer eignen Entwicklung auf einen gewissen Punkt feindlichst gegenübertritt und daher beständig durch Krisen überwunden werden muss.
2. Darin, dass die Aneignung unbezahlter Arbeit, und das Verhältnis dieser unbezahlten Arbeit zur vergegenständlichten Arbeit überhaupt, oder, kapitalistisch ausgedrückt, dass der Profit und das Verhältnis dieses Profits zum angewandten Kapital, also eine gewisse Höhe der Profitrate über Ausdehnung oder Beschränkung der Produktion entscheidet, statt des Verhältnisses der Produktion zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen, zu den Bedürfnissen gesellschaftlich entwickelter Menschen. Es treten daher Schranken für sie ein schon auf einem Ausdehnungsgrad der Produktion, der umgekehrt, unter andern Voraussetzungen weitaus ungenügend erschiene. Sie kommt zum Stillstand, nicht wo die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern wo die Produktion und Realisierung von Profit diesen Stillstand gebietet
«. (K. Marx, »Das Kapital«, Bd. 3, S. 268f)
»Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche die absolute Anzahl der Arbeiter verminderte, d. h., in der Tat die ganze Nation befähigte, in einem geringeren Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehen, würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrzahl der Bevölkerung ausser Kurs setzen würde. Hierin erscheint wieder die spezifische Schranke der kapitalistischen Produktion, und dass sie keineswegs eine absolute Form für die Entwicklung der Produktivkräfte und Erzeugung des Reichtums ist, vielmehr mit dieser auf einem gewissen Punkt in Kollision tritt. Partiell erscheint diese Kollision in periodischen Krisen, die aus der Überflüssigmachung bald dieses, bald jenes Teils der Arbeiterbevölkerung in ihrer alten Beschäftigungsweise hervorgehen. Ihre Schranke ist die überschüssige Zeit der Arbeiter. Die absolute Überschusszeit, die die Gesellschaft gewinnt, geht sie nichts an. Die Entwicklung der Produktivkraft ist ihr nur wichtig, sofern sie die Mehrarbeitszeit der Arbeiterklasse vermehrt, nicht die Arbeitszeit für die materielle Produktion überhaupt vermindert; sie bewegt sich so im Gegensatze«. (ebd. , S. 274)

Begreift man also die dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche, so sieht man eindeutig, dass nicht irgendeine »Verlangsamung« des Wachstums der Produktivkräfte den Kapitalismus zu seiner finalen Krise treibt, sondern, im Gegenteil, die Permanenz des Wachstums der Produktivkräfte, und die Tendenz des Kapitals, letztere absolut zu entwickeln. Die kapitalistische Produktionsweise lässt sich nicht mit primitiven Analogien fassen, wie dem »alternden Menschen«, der irgendwann in Agonie verfällt und stirbt, oder wie dem Seerosenteich, der zuwächst. Die kapitalistische Produktionsweise ist ein notwendiges Durchgangsstadium der Entwicklung des Menschen, er stirbt nicht, er wird überwunden und durch eine neue, kommunistische Produktionsweise ersetzt. Er hört nicht deshalb auf zu wachsen, weil er die Oberfläche der Erde mit seinen Waren überwuchert, sondern weil er perspektivisch die »klimatischen Bedingungen« für seine Existenz untergraben hat: die Konkurrenz unter den Arbeitern. Er scheitert eben nicht daran, dass er weniger produziert als es hypothetische Kurven der IKS von ihm verlangen, sondern weil er zuviel produziert: zuviel Reichtum auf der einen, zuviel Elend auf der anderen Seite. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ist, wie jede auf Klassen basierende Produktionsweise, prozessierender Widerspruch.

Diese Widersprüche wirken solange, bis sich ein Moment dieses Widerspruches aus der Verkettung gelöst hat: das Proletariat. Die Voraussetzung dafür schafft das kapitalistische System selbst, indem es die Arbeiter zur Aufhebung der Konkurrenz untereinander zwingt. Doch die Verwirklichung dieser Perspektive verlangt die Entwicklung der revolutionären Arbeiterpartei, der internationalen kommunistischen Partei, die Einsicht hat in die wirkliche Entwicklung der Bedingungen und Verhältnisse und die allgemeine Marschroute der Arbeiterklasse. Dies wiederum setzt voraus, dass die Kommunisten sich nicht Hirngespinsten und Illusionen hingeben, dass sie nicht an ihrem »theoretischen Erbe« willkürlich herumschrauben und herumdrehen, bis daraus Rechtfertigungen für theoretische Abweichungen werden, die zwar, weil empirisch zustandegekommen, vielleicht noch bis in die 40gerjahre dieses Jahrhunderts eine gewisse Toleranz in Anspruch nehmen konnten, heute aber absolut deplaziert sind und nur zur Verwirrung des Proletariats (sofern es diesen ein Ohr schenkt) beitragen. Verteidigung des Marxismus und damit der revolutionären wissenschaftlichen Theorie des Proletariats bedeutet heute auch vehementes Entgegenstemmen wider dem inhaltlichen Verfall revolutionärer Theorie, wie er von der IKS gepflegt wird und dessen gesatteltes Ross diese famose »Dekadenztheorie« darstellt.

Im Gegensatz zur IKS ist es heute gerade so, dass die revolutionäre Theorie auf alle sogenannten »Bereicherungen« des Marxismus verzichten kann, weil sich die von Marx gemachten Analysen der kapitalistischen Produktionsweise mit der Entwicklung derselben decken. Und nach wie vor dem Jahre 0 der »Dekadenztheorie« (1914) wirken die gleichen Gesetzmässigkeiten, nur auf höherer Stufenleiter als zu Marxens Zeiten (der auch dies voraussah):
»Gleichzeitig mit den Antrieben zur wirklichen Vermehrung der Arbeiterbevölkerung, die aus der Vermehrung des als Kapital wirkenden Teils des gesellschaftlichen Gesamtprodukts stammen, wirken die Agenzien, die eine nur relative Überbevölkerung schaffen. Gleichzeitig mit dem Fall der Profitrate wächst die Masse der Kapitale, und geht Hand in Hand mit ihr eine Entwertung des vorhandenen Kapitals, welche diesen Fall aufhält und der Akkumulation von Kapitalwert einen beschleunigenden Antrieb gibt.
Gleichzeitig mit der Entwicklung der Produktivkraft entwickelt sich die höhere Zusammensetzung des Kapitals, die relative Abnahme des variablen Teils gegen den konstanten. Diese verschiedenen Einflüsse machen sich bald mehr nebeneinander im Raum, bald mehr nacheinander in der Zeit geltend; periodisch macht sich der Konflikt der widerstreitenden Agenzien in Krisen Luft. Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandenen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen.
Der Widerspruch, ganz allgemein ausgedrückt, besteht darin, dass die kapitalistische Produktionsweise eine Tendenz einschliesst nach absoluter Entwicklung der Produktivkräfte
(…) während sie andrerseits die Erhaltung des existierenden Kapitalwerts und seine Verwertung im höchsten Mass (d. h. stets beschleunigten Anwachs dieses Werts) zum Ziel hat«.
»Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerem Massstab entgegenstellen.
Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: dass das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; dass die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel blosse Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der grossen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muss und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen
«. (Karl Marx, »Das Kapital«, Bd. 3, S. 259f)

Es geht im Grunde also überhaupt nicht darum nachzuweisen zu versuchen, dass der Kapitalismus deshalb überholt sei, weil er nicht so kann wie die IKS berechnet, dass er könnte. Welche Blüten dieser Ansatz treibt, haben wir gesehen. Es geht darum, in der reellen, wirklichen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise die bewahrenden Momente dieser Produktionsweise und diejenigen auseinanderzuhalten, die auf ihre Aufhebung zielen, ihre gegenseitige veränderliche Balance auszuloten, die Entwicklung und Dynamik dieses ständig gestörten Gleichgewichts zu analysieren und in dieser Bewegung die aufhebenden Tendenzen zu unterstützen, zu befördern und zu einer einheitlichen materiellen Kraft zu formen. Wie bereits gesagt, sind die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnenden Widersprüche permanenter Natur, doch diese Permanenz der Widersprüche und selbst sogar ihre beständige Verstärkung, bedeutet nicht, dass die Aufhebung dieser Widersprüche beständig wirklich (also nicht nur gesetzt von den Kommunisten) auf der Tagesordnung steht, aber nur ihre wirkliche Aufhebung ist auch wirklich revolutionär. Darum ist die Geschichte des Kapitalismus auch beständig durchzogen von Aufständen, Revolten und Revolutionen, nicht erst seit 1914! Die Oktoberrevolution und die damit zusammenhängende proletarisch-revolutionäre Dynamik in vielen anderen Ländern hat nur gezeigt, wie tief zu dem gegebenen Zeitpunkt die gesellschaftlichen Widersprüche gediehen waren. Der Verlauf der darauf folgenden Konterrevolution zeigte aber gleichermassen, dass diese Tiefe noch nicht ausreichend war für die wirkliche Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise – sprich, dass der Kapitalismus sein Potential noch nicht ausgereizt hatte. Er hat diesem ersten ausgedehnteren proletarischen Ansturm standgehalten und seine Macht – so barbarisch sie auch immer daherkommt – weiter ausgedehnt und gefestigt. Die finale Krise des Systems wird erst eintreten, wenn der Kapitalismus die Welt wirklich vollständig durchdrungen und die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung zwischen den einzelnen Nationen durch die weltweite Dispersion der ihm möglichen Produktions- und Verteilungsverhältnisse ein gutes Stück »nivelliert« hat, wenn sich also grob für das Weltproletariat wieder mehr oder weniger einheitliche Bedingungen herausgeschält haben, die die Dieselbigkeit der Lebensumstände und Interessen nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch, wirklich in das Bewusstsein der Weltarbeiterklasse einbrennen und in einer einheitlichen Bewegung der Klasse materialisieren.

Solange dies nicht der Fall, solange erscheint der Konflikt zwischen materieller Entwicklung der Produktion und ihrer gesellschaftlichen Form nur verzerrt, mehr oder weniger eingebettet in die kapitalistische Produktionsweise selbst. Fast jede sich auf Massen stützende konsequente Bewegung (d. h. wenn sie nicht nur um die Erhaltung bestimmter Privilegien kämpft), selbst wenn ihre offizielle Ideologie noch so durch und durch bürgerlich ist, trägt in ihrem Kern den Charakterzug einer Revolte gegen die bestehenden Produktionsverhältnisse. Nicht im Sinne einer fundamentalen kommunistischen Kritik versteht sich, sondern rein praktisch. Entwicklung und Ausgang dieser Bewegungen hängen davon ab, inwieweit eine Veränderung der bestehenden Produktionsverhältnisse erreicht werden kann ohne die Produktionsverhältnisse selbst aufzuheben und sind natürlich von vornherein in ihrer Entwicklungsfähigkeit eingeschränkt, weil sie keine proletarischen oder nur beschränkte proletarische Interessen repräsentieren. Aber die antikolonialen Bewegungen z. B., und solche, die an diesem Zopf weiterzustricken versuchen, lehnen sich gegen bestehende Produktions- und Verteilungsverhältnisse auf, weil sie sich ausgeschlossen fühlen oder ihren Anteil daran als zu gering erachten. Sie bewegen sich also notgedrungen im Rahmen des Systems. Ihnen gelingt es aber, die zur Zeit mehr instinktive rebellische Natur der jeweiligen Arbeiterklasse in Energien zu verwandeln, die systemimmanente Veränderungen anstreben, weil die ideologische Subsumtion der Arbeiter in den wirtschaftlichen Zentren unter das Kapital vorherrschend ist, weil also das Weltkapital noch in der Lage ist, in seinen Zentren solche Bedingungen aufrechtzuerhalten, die eine weitgehende Integration der Arbeiter in die bürgerliche Gesellschaft gestattet. Dieser Teufelskreis kapitalistischer Dominanz kann erst wirklich durchbrochen werden, wenn die Ausdehnung kapitalistischer Produktion einen solchen Grad erreicht hat, dass der Grossteil der Vergünstigungen des Metropolenproletariats wegfallen muss, weil dies die Wirkung des (unmanipulierten) Wertgesetzes vermittels der Konkurrenz der Kapitale gebietet. Dieser Prozess hat schon lange, mit der Entwicklung des Weltmarkts, eingesetzt, er ist Ausdruck der »historischen Mission« des Kapitals, entscheidend ist aber, wann der Punkt erreicht ist, in dem sich diese Entwicklung in der Arbeiterklasse so niederschlägt, dass sich dort eine wirkliche Bewegung entwickelt, die ihren Endpunkt nur in einer siegreichen proletarischen Revolution finden kann. In dieser revolutionären Kampfperspektive ist eine »Dekadenztheorie« nur ein überflüssiger Kropf der unnütz Gewebe bindet. Nun also zurück zu dieser famosen »Theorie«, und betrachtet, was für »Bereicherungen« sie uns auf dem Gebiet des Begriffs der produktiven Arbeit und der Krisen bietet.

Die IKS und die Frage der Krisen seit 1939

Netterweise verweist die IKS in ihrem Dekadenzheft auf Artikel zur Krisentheorie, die dem Nichtkenner der französischen Sprache verschlossen bleiben müssen. Auch wir werden uns hier nicht die Arbeit der IKS machen, diese Machwerke auch nur partiell zu übersetzen und beschränken uns auf das, was die IKS dem gewöhnlichen durchschnittlichen Arbeiter im deutschsprachigen Raum zumutet. So heisst es, dass die neueren Krisen
»im Gegensatz zu den Krisen während der aufsteigenden Phase des Kapitalismus« eine allgemeine und beschleunigte »Bewegung des Verfalls zum Vorschein« bringen würden. »In dieser Tatsache«, so heisst es weiter, »liegt der Beweis des unterschiedlichen Wesens der Krisen«.
Es wird also von der IKS vorausgesetzt, dass man das »Dekadenzkonzept« teilt, den beschleunigten »systematischen Verfall« als Tatsache anerkennt und damit den Beweis für den Unterschied der Krisen von vor und nach dem Jahre 0 der »Dekadenztheorie« hat. Aus den bereits angeführten Gründen können wir uns dieses »Beweises« nicht bedienen. Es war vorher schon bei Marx zu lesen, dass die Krisen sich reproduzierende Momente der Entwicklung des Kapitalismus darstellen, die auf stets höherer Stufenleiter ausbrechen, aus dem einfachen Grunde, weil die zwischen den Krisen liegende Phase zu einer Reproduktion des Kapitalismus auf einer höheren Stufenleiter geführt hat. Die Krise mag subjektiv und für den Arbeiter als verheerend erscheinen, wie auch für den einen oder anderen Kapitalisten, wie auch momentan für das personifizierte Kapital schlechthin. Doch darüber darf nicht vergessen werden, dass die Krise gleichzeitig als »Gesundheitsbad« für den Kapitalismus wirkt, dass zum Austreiben des überflüssig gewordenen Kapitals dient, zum Abstossen der vom Standpunkt der Verwertung und des Durchschnittsprofits her ausgedienten Anlagen und Arbeiter. Erst dies schafft so wieder die Voraussetzungen für eine erhöhte Stufe der Akkumulation. Dies ist bis heute Ursache und Verlauf aller weltweiten Krisen, die immer Überproduktionskrisen sind, die vom kapitalistischen Standpunkt aus einen Überschuss an Arbeitskraft, Kapital und Produkten verzeichnen.

»So wie die ökonomische Depression von 1929«, so schreibt die IKS, »drückten die Weltkriege auf die brutalste Weise die Unfähigkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse aus, sich auf normale Weise zu erneuern«.
Zu dieser Auffassung gelangt man nur, wenn man fälschlicherweise die Kriege mit Krisen gleichsetzt. Natürlich sind auch die Kriege in letzter Instanz ökonomisch determiniert, aber in ihnen spiegeln sich nicht mechanisch Krisen wieder, sondern zuallererst politisch-ökonomische Projekte der Bourgeoisie, um den negativen Effekten von Krisen durch die Zuspitzung der Konkurrenz auszuweichen, das heisst, den ökonomischen Gegner niederzuringen, weil man in ihm das primäre Hindernis der eigenen Expansion sieht. Wie schon weiter vorn erwähnt, war das politische System des Weltkapitalismus gerade in der Zwischenkriegsperiode für die Bedürfnisse der Akkumulation auf der inzwischen erreichten Stufe selbst zu eng geworden, behinderten die engen nationalen Schranken »ungestörte« Akkumulation des Kapitals.

Aber diese Hindernisse waren durch das Kapital selbst hinwegzufegen, vermittels Krieg und damit Aufhebung der verkrusteten politischen Strukturen (und die Auflösung des Ostblocks zeigt, dass dies auch ohne unmittelbaren Krieg geschehen kann). Trotzdem haben der Erste Weltkrieg und der Zweite ausser ihrer Barbarei wenig gemeinsam. Der Erste Weltkrieg trug noch ganz die Spuren der Entstehungsgeschichte des Kapitals als nationalem Block. Die Kriegsziele waren einerseits auf die reine Erweiterung des eigenen Territoriums sowie fester Einflusszonen in den verschiedenen Weltregionen gerichtet. Ideologisch drückte sich dies in den irredentistischen Bewegungen aus, die später in Deutschland zum Beispiel die Parole des »Grossdeutschen Reiches« prägten, auch wenn die Nazis in ihren ökonomischen Projekten schon weit darüber hinaus reichten. Der Erste Weltkrieg wurde aufgrund der proletarischen Interventionen aber nicht zu Ende geführt, er zeigte dem Kapital, dass auch seine Barbarei es nicht vor dem Untergang rettet. So brachte im Endeffekt der Erste Weltkrieg in Wirklichkeit kein Aufbrechen der bisherigen weltpolitischen Strukturen zustande, sondern verfestigte sie nur noch.

Die beschleunigte Entwicklung der Produktivkräfte in der Zwischenkriegszeit erhöhte lediglich den Druck auf die Bourgeoisie, zu einer Neuordnung der weltpolitischen Strukturen zu gelangen und die Weltwirtschaftskrise von 1929 zeigte klar die Unvermeidlichkeit eines neuen Weltkrieges, weil dies die einzige Form für die Bourgeoisie war, zu einer solchen Veränderung zu gelangen. Dabei spielten die Nazis, als politische Repräsentanten der deutschen Bourgeoisie, so paradox dies erscheinen mag, eine weitaus progressivere Rolle – vom Standpunkt des Kapital aus gesehen – als zum Beispiel die verknöcherte englische Bourgeoisie, die damit beschäftigt war, mühsam das Empire zusammenzuhalten. Denn hinter aller grossdeutschen Phantasterei, die nur ideologisches Mittel war, verbarg sich bereits ein Konzept des europäischen Wirtschaftsraums, sprich eines politisch-ökonomischen Gebildes, dass in der Lage sein sollte, den USA Paroli zu bieten (und der Sowjetunion, die man wegen ihren gewaltigen Wachstumsraten beneidete und fürchtete) und die vorhandenen Möglichkeiten der entwickelten, aber in ihrer konkreten Anwendung gehemmten Produktivkräfte auszuschöpfen. Damit erhoffte man sich auch einen Vorsprung gegenüber denjenigen Nationen zu verschaffen, die immer stärker in die angestammten Bereiche der traditionellen Industrieländer vordrangen. Das Kapitel des europäischen Wirtschaftsraums ist bis heute noch nicht zugeschlagen. Aber was damals ein ökonomisches Konzept, dass mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden sollte, ist heute mehr oder weniger durchgesetzt. Diese für das Kapital notwendigen grossen ökonomischen Einheiten prägen heute das ganze politische Erscheinungsbild des Weltkapitals: ASEAN, EU, NAFTA, GUS sind dafür Beweis genug. Sie sind sozusagen politisches Zugeständnis der Bourgeoisie an die gewaltig gewachsenen Produktivkräfte und den daraus resultierenden Erfordernissen ihrer Verwertung: Erweiterung der Binnenmärkte auf mindestens 250- 300 Millionen »Seelen« (Binnenmärkte, die, mit Ausnahme der USA, in der Zwischenkriegszeit von heute aus gesehen völlig unentwickelt waren). Die einzige Bourgeoisie die sich dafür nicht zu verbünden braucht ist die chinesische…

Um Krisen und Kriege gleichzusetzen reicht auch der Hinweis nicht aus, dass in beiden Werte vernichtet werden. Schliesslich sind, was einfach zu sehen ist, die Ursachen dafür verschiedene. Das einemal folgt die Vernichtung von Werten den Wirkungen der ökonomischen Gesetze, die fast unentrinnbar für alle Kapitale die gleiche Gültigkeit besitzen und nicht zwischen »gut« und »böse« unterscheiden. Im Kriege verhält sich die Entwertung von Kapital einseitig, und die IKS rechnet uns selbst vor, wie grandios der Zuwachs der US-Industrie während des Krieges war – und in allen anderen Ländern, die nicht unmittelbar in die Kampfhandlungen einbezogen waren. Dies allein zeigt schon, dass die IKS-These
WELTKRIEG=WELTWIRTSCHAFTSKRISE
eine solch oberflächliche Betrachtungsweise an den Tag legt, dass selbst Seerosen vor Neid erblassen würden. Doch die IKS ist darob vollkommen erhaben:
»Die Krisen, von denen der Kapitalismus zwischen 1914-1946 erschüttert wurde, erübrigen sich eines jeden Kommentars: zwei Weltkriege und eine Depression (…) sprechen für sich selbst.«
Und wenn sie uns doch etwas anderes sagen? Da soll dann doch noch ein Kommentar helfen, dessen innere Logik von bekanntem IKS-Kaliber ist:
»Die Krise von 1929 verursachte einen Produktionssturz, der grösser als der des Ersten Weltkriegs war, der Zweite Weltkrieg« (der diesen Produktionssturz also nicht verursacht hat) »wirkte noch zerstörerischer als der 1. Weltkrieg« (aber wie zerstörerisch war die Krise 1929?) »und er war solch ein Desaster, das mit dem von 1929 nicht verglichen werden kann.«
Genau das aber tut die IKS mit ihrer Formel Krieg=Krise.

Wiederaufbau und Rüstungswirtschaft

Jedenfalls, weil die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg so gewaltig waren, hätte auch die Wiederaufbauperiode länger gedauert und durch die
»ständig aufrechterhaltenen lokalen Kriege wurde der Krieg zu einem ständig existierenden Phänomen und die Rüstungsproduktion erreichte in diesen ›Friedenszeiten‹; höhere Ausmasse als während der beiden Weltkriege.«
Beide Aussagen sind zunächst richtig. Doch bei näherer Betrachtung werden sie falsch. So hält die IKS die Wiederaufbauperiode als bis 1965 andauernd, was so sicherlich zu weit gefasst ist, versteht man unter dem Wiederaufbau das Ausgleichen der Kriegsschäden. Versteht man unter Wiederaufbauperiode aber die Weiterentwicklung des Kapitalismus nach dem Kriege, so wäre dies Kapitel noch nicht abgeschlossen. In dem Wort »Wiederaufbau« hat die IKS also einen relativ flexiblen und biegsamen Begriff gefunden, ohne dass sie erklärt, warum diese Periode 1965 abgeschlossen sein soll – und was dann folgt! Wie dem auch sei, laut IKS hing die wirtschaftliche Ausdehnung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg von den
»Mechanismen des ›Wiederaufbaus‹ und der Produktion für militärische Zwecke« ab. Damit sei schliesslich das Kapital »in eine neue Stufe seines Verfalls eingetreten, in der es eine Reihe von besonders wirksamen Hilfsmitteln entwickelt hatte, jedoch täuschte nichts über das Wesen dieser Mittel als Hilfsmittel hinweg.«

Es ist ein Kennzeichen aller versteckten und offenen »Dekadenztheoretiker«, dass nach ihrer Überzeugung das Kapital an irgendeinem Punkt zu Mitteln greift, die die von den »Dekadenztheoretikern« gemachten Aussagen über das endliche Eintreffen der Verfallskrise gemeinerweise zunichtemachen. Und so entwickelt sich eine feingesponnene Dialektik zwischen den dem Kapital zugeschriebenen Mitteln (die, wohlgemerkt, nur Hilfsmittel, oder gar »Beschönigungsmittel« sind) und der enttäuschten Theorie. Diese Mittel müssen natürlich auf der einen Seite »hochwirksam«, auf der anderen Seite aber nur begrenzt einsatzfähig sein. Hier bei der IKS zeigen sich »die Grenzen dieser Beschönigungsmittel« seit der zweiten Hälfte der 60er-Jahre, markieren also gleichsam das Ende der Wiederaufbauperiode. Die ganze Beschränktheit der »Dekadenztheorie« wird darin gleichfalls deutlich. Weil der absolute Verfall des Kapitalismus nicht so wie erhofft eingetreten, müssen dem Kapital selbst Zaubermittel zugestanden werden, weil sonst der Kapitalismus ja eigentlich schon hätte zusammenbrechen müssen. Diese Manipulationen des Kapitals, am Verlauf der Weltgeschichte wie am Wertgesetz, sind aber nichts anderes als die auf das Kapital projizierten Manipulationen der »Dekadenztheoretiker« an der marxistischen Theorie. Sie sind Zeichen der Dekadenz der »Dekadenztheorie«. Anstatt die grundlegenden Ausgangspunkte der Theorie zu prüfen, wenn gemachte Aus- und Vorhersagen nicht eintreffen, begnügt man sich damit, im Schatzkästlein der Bourgeoismacht Zaubermittelchen zu entdecken, die den auf sie gekommen Fluch der »Dekadenztheoretiker« noch, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, für ein Weilchen unwirksam werden lässt. Anders ausgedrückt: Man weiss, dass der Kapitalismus zum Untergang verurteilt ist, aber man weiss nicht wie und weiss nicht wann.

Es wäre besser und eindeutiger, nicht vom Ende der Wiederaufbauperiode sondern vom Ende der Nachkriegszeit zu sprechen. Es ist wohl klar geworden, dass, wie im Verlaufe dieses Artikels gezeigt, die Expansion des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg weitaus mehr Faktoren geschuldet war wie der Rüstungsproduktion und dem Wiederaufbau. Erstens bewegte sich die Expansion des Kapitalismus auch ausgeprägt in Gebieten, die nur vom Weltkrieg gestreift wurden, oder die sogar durch den Krieg erst richtig in das heitre Akkumulationsspiel hineingerissen wurden. Zweitens wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur enorm mehr Waffen produziert, sondern gleichzeitig auch ein vielfaches an Kühlschränken, Waschmaschinen, Autos, an Kleidungsstücken etc., darüber hinaus ein etliches mehr an Produktionsmitteln usw. usf. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt mehr von allem produziert, ein Phänomen, dass sich also nicht nur auf die Rüstungsproduktion beschränkt. Darüber hinaus wurde, wie im Kapitalismus üblich weil notwendig, die Produktionstechnik beständig umgewälzt und verbessert. Nun zu Zahlen: England erreicht bereits 1947 den Produktionstand von 1938, 1964 bereits das doppelte. Frankreich erzielt den Vorkriegsstand von 1938 ebenfalls 1947, bereits 1957 ist die Industrieproduktion doppelt so gross. Westdeutschland holt den Vorkriegsstand des Deutschen Reiches bereits 1952 ein, 1960 beträgt sie das Doppelte. Die USA erreichen ihren Höchststand von 1943 bereits 1952 wieder um ihn bis 1968 zu verdoppeln. Japan erreicht den Vorkriegsstand 1953 und hat bereits 1959 deutlich mehr als das Doppelte an Industrieproduktion zu verzeichnen. Die UdSSR erreicht den Stand von 1939 im Jahre 1948, verdoppelt ist er im Jahre 1954. Weltweit ist der Vorkriegsstand 1946 überschritten, im Jahre 53 verdoppelt, 1964 vervierfacht, 1975 verachtfacht und 1993 versechzehnfacht. Ab wann also bitte ist der Wiederaufbau abgeschlossen, wenn der Vorkriegsstand erreicht, wenn der Vorkriegsstand verdoppelt, wenn der Vorkriegsstand vervierfacht ist? Dahingegen ist eine Nachkriegsperiode dann beendet, wenn die ersten gewaltigen Stockungen in der weltweiten Kapitalakkumulation wieder auftreten und dem Kapital seine eigenen Grenzen wieder offen auftischt. Das Ende der Nachkriegsperiode bedeutet auch gleichzeitig die Eröffnung eines neuen Abschnitts, der über kurz oder lang ein erneutes Zusammenstossen gewaltiger kapitalistischer Nationenverbände vorbereitet, unabhängig vom Willen der Beteiligten – oder die proletarische Revolution -. Aber die lange Phase des mehr oder weniger ungehinderten Wachstums bis in die 60er-Jahre war nicht Zaubermitteln der Bourgeoisie geschuldet, sondern war in gewisser Hinsicht zum einen unmittelbares Resultat der Kriegspolitik, zum andern der Auflösung der korsetthaften Kolonialstrukturen geschuldet. Aber dies zu sehen kann nicht von einer Strömung verlangt werden, die in den vergangenen antikolonialen Kriegen nichts als lokale Stellvertreterkriege sehen will. Wie sieht die IKS das Ende dieser sogenannten Wiederaufbauperiode? Durch ein »Durcheinander« in den bis dorthin bestehenden ökonomischen Beziehungen, hervorgerufen dadurch, dass »die früheren Abnehmerländer der US-amerikanischen Bourgeoisie plötzlich anfingen, eine starke kommerzielle Aktivität zu zeigen. 1967 mussten die USA ihre erste negative Handelsbilanz seit 1893 verzeichnen. Die Mittel, welche das System jahrzehntelang eingesetzt hatte, waren erschöpft und keine mögliche Lösung war in Sicht«. Wie »plötzlich« diese Aggressivität der früheren Abnehmerländer der USA war, zeigt ein Blick auf die Graphik, die die Verschiebungen in der Weltindustrieproduktion darstellt. Von Plötzlichkeit also keine Spur:

Grafik Weltindustrieproduktionsanteilsverschiebung

(Original-Grafik aus »Kommunistische Politik«)

Wie klar zu erkennen ist, sinkt der Weltproduktionsanteil der USA wie aller anderen grossen Industrieländer, die hier einzeln aufgeführt sind, beständig und nicht erst seit 1967. Die Nachkriegsexpansionsperiode des Kapitals ist geradezu kontinuierlich von dieser Tendenz gekennzeichnet, die im übrigen schon vor dem Zweiten Weltkrieg beginnt. Die Erhöhung 1947 ist der darniederliegenden Produktion anderer Länder geschuldet, spiegelt also einen tatsächlichen Wiederaufbaueffekt wider. In einer weiteren Graphik (siehe weiter unten) zeigen wir die Verteilung dieser Industrieprodukte, die im übrigen auch belegt, dass die zentralen Absatzmärkte für die Industrieprodukte seit je her und – im Gegensatz zu den Thesen der »Dekadenztheoretiker« – in den entwickelten, vor allem den grossen Industrieländern waren.

Grafik Vewrteilungsverschiebung der Weltindustrieproduktion

(Original-Grafik aus »Kommunistische Politik«)

Aus beiden Graphiken lässt mit Leichtigkeit ablesen, dass die Verschiebungen innerhalb des Kapitals wie des dominanten Kapitals selbst erheblich sind, jedoch nicht »plötzlich« auftreten, sondern das Ergebnis eines stets langen Ringens darstellen. Warum aber die IKS bei dem nun 1967 einsetzenden Handelsbilanzdefizit nicht auf den Vietnamkrieg zu sprechen kommt, oder auf die Veränderungen des Weltwährungssystems, die Erdölfrage etc., das bleibt weiter ein Rätsel. Vielmehr geht nun die IKS zur Abwechslung in die theoretische Tiefe und versucht uns zu erklären, warum die Rüstungsproduktion einen »reinen Verlust für das globale Kapital« darstellen würde.

Das verworrene Wesen der Rüstungsproduktion

Nachdem die IKS nachzuweisen versuchte, das »Wiederaufbau« und Rüstungsproduktion zwei Stützen der Expansion des Kapitals waren (das ja angeblich nicht wirklich expandiert sein soll), sie aber als theoretische Krücken der IKS entlarvt sind, erklärt sie uns nun, dass
»die Grenzen dieser Art Absatzmärkte« untersucht werden müssen, wenn man »die Grundlagen der Unvermeidbarkeit der nächsten grossen Krisen des Systems begreifen will«.
Diese Grundlagen, mit Verlaub, zu begreifen, dafür braucht man gerade ein flüchtiges Studium des 1. Kapitalbandes. Man wird sie auf alle Fälle nicht in den »Absatzmarktgrenzen« für Rüstungsgüter finden, auch nicht in dem Sinne, wie die IKS das Thema abzuhandeln gedenkt und auch nicht wenn sie falsche Hoffnungen macht und erklärt:
»Die allgemein herrschende Verwirrung hinsichtlich des Wesens der Rüstungsproduktion zwingt uns dazu, dieses Problem zu klären.«
So edel wie die Absicht, so kläglich ihr Erfolg. Die Abhandlungen der IKS, zur Erläuterung des sogenannten »Wesens

(SCHAUBILD IN BEARBEITUNG)

(Quelle: w.o.)

der Rüstungsproduktion« tragen nur noch mehr zur Verwirrung bei, als dass sie irgend etwas klären würden, und um diese Verwirrung wieder aufzuknoten, sind wir hier gezwungen sozusagen das Einmaleins der marxistischen Theorie über produktive Arbeit wiederzukäuen – so entsetzlich ist das Niveau.

Die Besonderheit der Waffen besteht nach Auffassung der IKS darin, dass sie einen Gebrauchswert besitzen, der nicht in irgendeiner Form wieder in den Produktionsprozess einfliessen kann. Im Gegensatz dazu stünde beispielsweise eine Waschmaschine, die zur Reproduktion der Arbeitskraft dienen könne und damit, auf Grund ihres »Gebrauchswertswesens« wieder, in Form des variablen Kapitals, dem Produktionsprozess zugeführt werden. Computer etc., wenn sie als Arbeitsgegenstände benutzt würden,
»können als konstantes Kapital wirken. Aber Waffen können entweder nur zerstören oder rosten«.
Zunächst zur Einschränkung: für den Jäger, egal ob Kopfgeld- oder Rotwildjäger, ist die Waffe ersteinmal ein Produktionsmittel, wie für den Schuster der Hammer und für den Schraubendreher die Drechselmaschine. Fliesst der Wert des Sportgewehrs der Freizeitschützen wieder in das variable Kapital ein, wie der Wert des Fussballs, den der proletarische Feierabendkicker erstanden hat? Wohl ja, also eine Waffe, die der IKS-Waschmaschine gleicht. Für die Wach- und Schliessgesellschaft und für die Privatarmee sind die Waffen gleichfalls Produktionsmittel – ohne Knarre keine Produktion von »Sicherheit«, einer Ware, wie jede andere. Offensichtlich, dass das »Gebrauchswertswesen« der Waffen recht unterschiedlich sein kann. Die IKS redet von Waffen allgemein, aber sie kann, um ernst genommen zu werden, nur von den Waffen reden, die staatlich konsumiert werden, von den Verwaltungsagenturen des Gesamtkapitals also. Es kann also nicht um einen »Gebrauchswert der Waffen an sich« gehen, sondern wir haben hier schon eine zusätzliche Bestimmung, die des Konsumenten, ohne die diese These der IKS von vornherein schon reiner Nonsens wäre.

Wir haben also gesehen, dass Produkte der Rüstungsproduktion – sie auf Waffen zu reduzieren ist eh Beweis der Unkenntnis über Armeeorganisation – vom Staat konsumiert werden müssen, damit sie nicht unmittelbar wieder in den Verwertungsprozess des Kapitals einzugehen haben. Nur, bevor der Staat diese Waffen konsumieren kann, muss er, wie jeder andere Konsument auch, diese Waren in der Regel bezahlen. Er gibt eine Zahlungsanweisung, die Kasse klingelt, und der Waffenschmied oder Uniformnäher zieht befriedigt von dannen, weil er in diesem Moment den Wert der Waren ersetzt erhalten, den Mehrwert realisiert hat, und möglicherweise noch einen Extraprofit abzüglich des Schmiergelds für den betreffenden Beamten. Der Staat zahlt übrigens mit Geld, und nicht mit Kapital, wie die IKS vermutet! Dieses Geld, nachdem der Kreislauf G-W-G' nun abgeschlossen, muss erst wieder in Kapital verwandelt werden. Der solchermassen realisierte Mehrwert wird in drei ungleiche Teile aufgeteilt, in Rente und Profit, der zerfällt in den privaten Konsumtionsfond des Kapitalisten und in neu zu verauslagendem Kapital. So wird ein Teil, vermutlich der Grössere, des Profits in Kapital zurückverwandelt und verauslagt in variablem (Arbeitskräfte) und konstantem (Arbeitsmittel) Kapital. Dabei wird die Grösse des konstanten Kapitals die Grösse desselben aus dem vorhergehenden Prozess möglichst übersteigen, damit beim nächsten Umschlag des Kapitals aus G' ein G'' geworden ist.

Die IKS aber weiss es besser, sie war dabei:
»Der Waffenkäufer zahlt mit Kapital, und er erhält dafür eine Ware, die nie Kapital werden kann. Das, was das globale Kapital in der Person des Waffenkäufers gewinnt, geht in der Person des Waffenverkäufers verloren. Das Gesamtergebnis der Operation ist gleich null.«
Kapital, so stellt die IKS richtig fest, ist »vor allem ein gesellschaftliches Verhältnis«. Doch nun macht die IKS Kapital zu einem Zahlungsmittel, deshalb wahrscheinlich die Einschränkung »vor allem«. Sehen wir einmal vom Begriff des »globalen Kapitals« ab (wir werden ihn weiter hinten auseinandernehmen) und übertragen das ganze Ringelspiel auf die nationale Ebene. Wir haben gesehen, dass der Staat dem Uniformnäher Hosen und dem Waffenschmied Waffen abgekauft hat, vermittels Geld. Das Geld des Staates aber ist sicher nicht von vornherein Kapital. Um dies zu werden, müsste es produktiv investiert werden, in staatlichen Unternehmungen zum Beispiel. Das Geld des Staates ist Resultat der Besteuerung der verschiedenen Revenuen, des Lohns, der Rente und des Profits, abgesehen von allen anderen Einnahmen, wie Wegelagerei, Zöllen, Strafen etc. Die Einnahmen des Staates sind Geldeinnahmen, sie sind also alles andere als Kapital. Deshalb kann der Staat entweder Geld zur Konsumtion ausgeben oder es aber selbst in Kapital umwandeln, einmal direkt, indem er selbst als Unternehmer tätig wird, oder indirekt, als Geldsubvention an die Kapitalisten, die diesen Geldsegen dann ihrerseits erst zu Kapital machen müssen. Der Staat ist zwar der zentrale politische Ausschuss des nationalen Gesamtkapitals, also des Kapitals, das innerhalb seiner Grenzen nach steter Verwertung trachtet, aber er ist selbst nicht das Kapital schlechthin, und seine Gelder sind es auch nicht:
»Kapital aber wird Ware oder Geld dadurch, dass sie direkt gegen Arbeitsvermögen ausgetauscht wird und nur ausgetauscht wird, um durch mehr Arbeit, als in ihr selbst enthalten ist, ersetzt zu werden.« (K. Marx, »Theorien über den Mehrwert«, MEW, Bd. 26.1, S. 126 und in fast allen anderen Schriften Marx, die diese Frage behandeln)
Die Konsumtion von Waffen und anderem kriegstauglichen Gerät ist also für den Staat und für die Ökonomie insgesamt nichts anderes, als die Konsumtion von Bleistiften für die Amtsstuben, von Autos für die Minister, von Lutschern für staatliche Kindergärten etc. Das mystische »Gebrauchswertswesen« der Waffen löst sich also mehr und mehr in Wohlgefallen auf. Die Operation des Waffenkaufs wäre höchstens dann gleich null, wenn der Staat die Waffen als Unternehmer produzieren würde, um sie dann selbst zu konsumieren. In dieser Lage müsste dringend ein auswärtiger Kunde gefunden werden. Die Besonderheit des Gebrauchswerts der Rüstungsgüter (sofern sie nicht mit Zivilgütern identisch sind) besteht darin, dass sie in der Regel nicht als Produktionsmittel für oben genannte Privatarmee konsumiert werden, sondern von staatlichen Organisationen, die damit ihrem jeweiligen Kapital einen natürlich nicht ganz unentgeltlichen Dienst erweisen, aber einen Dienst, auf den das jeweilige Kapital nicht verzichten möchte angesichts der bedrohlichen äusseren Konkurrenz.

Gesellschaftliches Gesamtkapital oder »globales Kapital«?

Mit dem Fall der These, dass die Rüstungsproduktion »mit Kapital gekauft wird«, fällt überhaupt schon das ganze Konstrukt der IKS, sogenanntes »globales Kapital« hin oder her. Es sei hier aber untersucht, wie die IKS den Begriff des »globalen Kapitals« konstruiert und welcher Methoden sie sich dabei bedient. Zunächst werden wir wieder mit einer Geschichte aus dem wirklichen Leben, diesmal nicht der Seerosen, aber dafür fast der Seeräuber, aus dem wirklichen Leben der Grossstadtdiebe:
»Die Tatsache, dass das Kapital als Globalität nur in zersplitterter Form 'lebt', heisst nicht, dass es nicht existiert. Die Diebe einer Stadt leben in ständiger Konkurrenz zueinander, und das Gesetz ihres Milieus ist das des Stärkeren. Aber dennoch besteht dieses Milieu als solches, und es besitzt ebenso eigene Interessen (z. B. gegenüber der Polizei). Die Tatsache, dass dieses Milieu nicht für sich bestehen kann, d. h. ein kollektives und einheitliches Bewusstsein seiner Interessen haben kann, ändert nichts am Problem. Das globale Kapital ist immer eine Summe antagonistischer Kapitale. Es wird von allgemeinen Gesetzen regiert, die nur auf der Ebene des globalen Kapitals wirken. Es besitzt besondere Eigenschaften (Weltkriege, Weltkrisen), denen keiner der Teile entweichen, und die keiner der Teile entscheidend kontrollieren kann
Es ist natürlich sehr naheliegenden, die Diebe mit dem Kapital zu vergleichen, aber dadurch wird die Sache weder eindeutiger noch richtiger. Erstens ist nicht einzusehen, warum das Kapital global sein darf, die Diebe es aber nicht sein sollen und nur in einer Stadt »das Milieu« bilden. Jedenfalls sind die Diebe keine wirkliche Einheit, auch wenn man sie begrifflich als Einheit fassen kann. Jeder revolutionär weiss, dass das kriminelle Milieu gerade deshalb zu meiden ist, weil es bei aller Interessensgleichheit gegen die Polizei zum einen doch mit ihr kooperiert, wenn daraus ein Nutzen zu ziehen ist (und diese Interessensgleichheit eher eine romantische Verklärung darstellt), und zweitens weil alle Diebe untereinander ebenfalls unter Konkurrenz stehen und sich gegebenenfalls auch gegenseitig beklauen, umnieten und übers Ohr hauen. Aber wie das Kapital global, so ist es auch die Kriminalität. Verlassen wir aber die Sphäre des hinkenden Vergleichs und betrachten das »globale Kapital«. Auch das globale Kapital hat gemeinsame Interessen, so zum Beispiel gegenüber der Arbeiterklasse, was Marx explizit anlässlich der Niederschlagung der Pariser Kommune hervorhob. Und schliesslich ist es ein weltweites gesellschaftliches Verhältnis. Aber dieses weltweite Verhältnis impliziert gerade für das Kapital die Konkurrenz gegeneinander, die in den Krisen die Sieger dieser Konkurrenz herausschält und in den Kriegen die Sieger zunächst in Frage stellt. Das Kapital erscheint als eine einheitliche und geschlossene Macht gegenüber dem unterdrückten und ausgebeuteten Teil der Menschen, aber es agiert nur in den Ausnahmefällen als solches, und dies dann politisch. Ökonomisch ist die Existenzform des Kapitals seine Zersplitterung. Darin, und nur darin, kann es sich fortentwickeln. Hier genau haben wir wieder den Gegensatz zwischen gesellschaftlicher Produktion, das Kapital als globales gesellschaftliches Produktionsverhältnis, und privater Aneignung, also nationaler, monopolistischer und noch kleinerer Aneignung des Mehrwerts. Die IKS hat kein bisschen verstanden vom grundlegenden Widerspruch des Kapitalismus, aber sie tut so, als hätte sie die Weisheit mit den Löffeln und den Marxismus von goldenen Tellerchen gefressen. Doch sehen wir, wie die IKS ihren hohlen Begriff (von »Begreifen« kann hier jedoch kaum die Rede sein) zusammenschustert. Sie behauptet glatt, dass Marx
»nicht zögerte, sich auf diese Ebene zu stellen«.
Wir werden sehen, dass dies eine glatte Lüge ist. Um ihre Gefolgs- und Leserschaft gleich richtig einzustimmen, so wie Marx »nicht zu zögern« zur »Dekadenztheorie« und ihren Ausdünstungen überzulaufen, wird vorher noch bedrohlich geweissagt:
»Wollte man das Wesen der Waffenproduktion ohne das Konzept des globalen Kapitals begreifen, so könnte man gleich auf eine Analyse verzichten«,
im Klartext also: nun macht es wie Marx, zögert nicht und akzeptiert das »Konzept des globalen Kapitals«. Nun wird, anhand eines Zitates gezeigt, mit welcher Kühnheit sich Marx dieses Konzepts bediente:
»Um den Gegenstand der Untersuchung in seiner Reinheit, frei von störenden Nebenumständen aufzufassen, müssen wir hier die gesamte Handelswelt als eine Nation ansehen und voraussetzen, dass die kapitalistische Produktion sich überall festgesetzt und sich aller Industriezweige bemächtigt hat.«

Wie immer bei der Lektüre von Texten von Eklektizisten lohnt es sich, die angeführten Textstellen nachzuschlagen. Und hier bleibt einem nur noch übrig, den Hut zu ziehen vor soviel verfälschender Dreistigkeit. Zitiert wird eine Anmerkung Marxens, die Genosse Karl nur deshalb angebracht hat, um falsche Rückschlüsse auszuschliessen, Betrachten wir die ganze Nebenbemerkung 21a:
»Es wird hier abstrahiert vom Ausfuhrhandel, vermittelst dessen eine Nation Luxusartikel in Produktions- und Lebensmittel umsetzen kann und umgekehrt. Um den Gegenstand der Untersuchung…« (K. Marx, Kapital, 1.Bd, MEW, Bd. 23, S. 607).
Marx zögerte nicht nur, er abstrahierte vom Ausfuhrhandel, der weltweiten Verflechtung der Einzelkapitale, das heisst auf gut deutsch: sehen wir von der Verflechtung der einzelnen Kapitale ab, um den Arbeitsgegenstand klar darzulegen, unabhängig von den besonderen Einflüssen, die der Welthandel mit sich bringt. Positiv ausgedrückt heisst dies, dass der Welthandel eben noch andere Momente hineinbringt, die hier aber nicht behandelt werden sollen. Die IKS geht aber in ihrem Unverständnis soweit, dass sie zu primitivsten Formen der Vulgarisierung zurückgreift und das Kapital als aus einem Topf wirtschaftend darzustellen versucht, das Kapital scheffelt und mit Kapital bezahlt, kurzum, sie fallen nicht nur hinter alle Kategorien des Marxismus, sondern sogar weit hinter die bürgerliche Ökonomie zurück. Das Kapital als weltgesellschaftliches Verhältnis, als sogar weltgesellschaftliches Gesamtkapital ist keine einheitliche Grösse, sondern Ausdruck für einen kontinuierlichen Verwertungsprozess, der nach bestimmten Gesetzmässigkeiten funktioniert und ein Verteilungsverhältnis miteinbezieht. Eine Gesamtheit gleicher Bedingungen ist aber nicht automatisch eine Einheit, und Marx unterstreicht dies im Bezug auf den Kapitalismus, indem er beständig die Anarchie der kapitalistischen Produktion hervorhebt. Ein Beispiel dafür, der Autoverkehr. Auch dieser lässt sich als weltweit fassen, und unterliegt weltweit den gleichen Einflüssen, zum Beispiel durch Verringerung der Rohölpreise und damit des Kraftstoffs wird er zunehmen (vorausgesetzt dies schlägt sich im Preis nieder), durch Erhöhung der Rohölpreise wird er abnehmen usw. Aber niemand käme ernsthaft auf die Idee, dem Verkehr, obwohl begrifflich als Einheit gefasst, ein »Sein als Einheit« zuzuschreiben. Der Autoverkehr unterliegt weltweit den gleichen Bedingungen, funktioniert nach mehr oder weniger gleichen Regeln, und dennoch ist er nur anarchisch zusammenhängend. Ebenso verhält es sich mit der kapitalistischen Produktion. Das Problem der IKS besteht darüber hinaus darin, der Dialektik der gegensätzlichen Bewegung innerhalb des Verwertungsprozesses des Kapitals vollkommen fassungslos gegenüberzustehen. Sie sieht nicht, aufgrund ihrer falschen Auffassung über die Ursachen der Krisen, dass die »disharmonische« Entwicklung durch die Krisen wieder in »harmonische« Bahnen gelenkt wird, dass die Krisen nicht nur Chaos und Durcheinander sind (das sind sie nämlich nur auf der Erscheinungsebene), sondern dass sie das Korrektiv für ein sich entwickelndes Durcheinander darstellen, in denen sich die verschiedenen Kapitale und die verschiedenen Abteilungen des Kapitals wieder in einen mehr oder weniger vernünftigen Zusammenhang bringen, nicht willentlich versteht sich, sondern als Resultat der im Hintergrund aller Operationen wirkenden ökonomischen Gesetze dieser Produktionsweise.

»Während, auf Basis der kapitalistischen Produktion, der Masse der unmittelbaren Produzenten, der gesellschaftliche Charakter ihrer Produktion in der Form streng regelnder Autorität und eines als vollständige Hierarchie gegliederten, gesellschaftlichen Mechanismus des Arbeitsprozesses gegenübertritt – welche Autorität aber ihren Trägern aber nur als Personifizierung der Arbeitsbedingungen gegenüber der Arbeit, nicht wie in früheren Produktionsformen als politischen oder theokratischen Herrschern zukommt –, herrscht unter den Trägern dieser Autorität, den Kapitalisten selbst, die sich nur als Warenbesitzer gegenübertreten, die vollständigste Anarchie, innerhalb deren der gesellschaftliche Zusammenhang der Produktion sich nur als übermächtiges Naturgesetz der individuellen Willkür gegenüber geltend macht.« (K. Marx, »Das Kapital«, Bd. 3, MEW, Bd. 25, S. 888)

»Da diese sich nur als Warenbesitzer gegenübertreten und jeder seine Ware so hoch als möglich zu verkaufen sucht (auch scheinbar in der Regulierung der Produktion selbst nur durch seine Willkür geleitet ist), setzt sich das innere Gesetz nur durch vermittelst ihrer Konkurrenz, ihres wechselseitigen Drucks aufeinander, wodurch sich die Abweichungen gegenseitig aufheben. Nur als inneres Gesetz, den einzelnen Agenten gegenüber als blindes Naturgesetz, wirkt hier das Gesetz des Werts und setzt das gesellschaftliche Gleichgewicht der Produktion inmitten ihrer zufälligen Fluktuationen durch«. (ebd. , S. 887)

Das sogenannte »Konzept des globalen Kapitals«, dessen Urheber sicherlich nicht Marx, sondern die verbissen nach Neuinterpretation der Verhältnisse suchende IKS ist, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als eine weitere Beigabe zum Gruselkabinett der Entstellungen des Marxismus, als ein metaphysisches Konstrukt krampfhafter »Erneuerer«.

Produktive Arbeit und unproduktive Arbeit

Nun will die IKS erklären, warum
»und wie der Staat, der Repräsentant des nationalen Kapitals, den Rüstungskapitalisten am Leben hält, während die Produktion desselben für das nationale Kapital 'unproduktiv' ist.«
Um dies erklären zu können, will die IKS
»auf präzise Weise das marxistische Kriterium des 'produktiven und unproduktiven’ Wesens einer Industrie definieren.«
Wir haben also nicht nur produktive und unproduktive Arbeit, sondern wir haben es gleich mit einer ganz »unproduktiven Industrie« zu tun. Oh Jammer!, doch der Anfang ist vielversprechend. Richtig zitiert wird zunächst Genosse Karl:
»Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für den Kapitalisten produziert oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient.« (K. Marx, Kapital, 1.Bd. , MEW, Bd. 23, S. 532).
Danach folgt, geschmückt mit Marx-Zitaten, ein kleiner Exkurs zur Frage, was produktive Arbeit vor dem Kapitalismus war, und kommt zum richtigen Schluss, dass vor dem Kapitalismus gewissermassen jede Arbeit produktiv ist, die in irgendeiner Form ein Produkt hervorbringt. Aber diese Frage interessierte Marx nicht so sehr, sondern die Frage, wann die Arbeit produktiv für das Kapital ist. Wie dem auch sei, nun erklärt die IKS, dass obiges Zitat »unzureichend, ja fast tautologisch ist« und dafür gäbe es zwei Gründe. Grund 1: es muss ein Mehrwert geschaffen werden, Grund 2: der Kapitalist muss und will Mehrwert auspressen. Als ob dies in der Formel oben nicht ausgedrückt, und als ob dies eine Tautologie sei. Aber die »trapsende Nachtigall« ist schon zu hören:
»dies schaltet damit den ersten Bestimmungsgrund der produktiven Arbeit aus, solange der Kapitalist Waren produziert, und somit Gebrauchswerte (…) So reicht es für den individuellen Kapitalisten nicht aus, dass die von ihm gekaufte Arbeit in irgendeinem Gebrauchswert vergegenständlicht wird: sie muss den Wert seines Kapitals erhöhen.«
Zwei Unsauberkeiten sind hier gleich festzuhalten: zum einen produziert der Kapitalist Waren, dann produziert er nicht Gebrauchswerte schlechthin, sondern zuallererst Tauschwerte, die aber in der Form von Gebrauchswerten auftreten müssen. Auch in der Formulierung des zweiten Satzes taucht dieser Gebrauchswert wieder in etwas sonderbarer Form auf. Den Kapitalist interessiert der Gebrauchswert nur insoweit, als er vermittels ihm den in der Ware versteckten Tauschwert realisieren kann, ihn interessiert also nicht, es reicht ihm nicht nur nicht aus, ob sich die Arbeit in einem Gebrauchswert vergegenständlicht, sondern für das Kapitalinteresse ist dies nur sekundär entscheidend. Dies muss hier gesagt werden, denn der langen IKS-Vorrede Sinn besteht darin, wie zu sehen sein wird, den Gebrauchswert durch die Hintertür an solchen Stellen hereinzubringen, wo er nichts zu suchen hat.

Zur besseren Einstimmung auf das Problem werden nun erst einmal die Begriffe ordentlich verzwirbelt. Auf die Feststellung, dass
»die Bestimmung« der produktiven Arbeit im Kapitalismus von den »allgemeinen Bestimmungsgrundlagen, die in der Vergangenheit gültig waren« abweicht, folgt eine Beschreibung dieser These. Bevor wir auf diese zu sprechen kommen: nicht die »Bestimmung« oder gar die »Bestimmungsgrundlagen« der produktiven Arbeit haben sich im Kapitalismus geändert, sondern die produktive Arbeit selbst. Da für das Kapital nur die mehrwertproduzierende Arbeit produktiv, hat also die produktive Arbeit ihre konkrete Gestalt im Kapitalismus abgestreift und die abstrakte, Produzent von Tauschwert zu sein, angenommen. Für die IKS aber liegt der Unterschied zu den vorangegangenen Produktionsweisen
»nicht in der Auspressung des Mehrwerts selber«!!!
Begründet wird dies damit, dass auch der feudale Gutsherr und der Sklavenhalter ihren »Profit« aus der Mehrarbeit der Leibeigenen und Sklaven erhalten hätten. Müssen wir denn zum marxistischen Einmaleins zurückkehren? Hier erfolgt nichts als die Verwischung vom Unterschied des Mehrwerts, dessen Erzeugung für den Kapitalismus charakteristisch ist, vom angeeigneten Mehrprodukt der Feudalen und der Sklavenhalter. Das von den Leibeigenen und Sklaven abgepresste Mehrprodukt war nur interessant von seiner Gebrauchsseite her, nicht von seiner Tauschseite, dem Tauschwert. Im Kapitalismus erst nimmt das Mehrprodukt auch die Form des Mehrwerts an, und gerade dies ist eine der elementarsten Unterscheidungen zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und den vorhergehenden, und daher kann nur die kapitalistische Produktion »Mehrwertproduktion« genannt werden.

Diese Begriffsschüttelei war für die IKS deshalb von Bedeutung, weil sie nicht nur richtig bemerkt, dass das Mehrprodukt in der Antike oder zu Feudalzeiten grösstenteils unproduktiv verbraucht wurde, weil es zur »Reinvestition« nur begrenzt geeignet war (abgesehen von den Frondiensten der Bauern zum Burgenbau oder der Heranziehung von Sklaven z. B. zu Kriegszwecken usw. in der Antike, einer damaligen »Produktionsform«) und im Kapitalismus das Mehrprodukt in der Form des Mehrwerts erneut in Kapital verwandelt werden muss, damit das Akkumulationskarusell sich drehe. Sodann aber erklärt sie, dass
»das Problem der Möglichkeit dieser Umwandlung eine grundlegende Frage bei der Definition der produktiven Arbeit im kapitalistischen System«
sei. Damit dies überhaupt zum »Problem« wird erklärt die IKS etwas später:
»Vom Standpunkt des globalen Kapitals, des Prozesses der allgemeinen Akkumulation des Kapitals (…) ist die Arbeit produktiv, die Mehrwert schafft, und die in Gebrauchswerten kristallisiert wird, welche selbst in dem Prozess der Akkumulation des Kapitals konsumiert werden können. Deshalb vertreten wir die Ansicht, dass die Arbeit – tote oder lebendige –, welche für die Produktion von Waffen verwendet wird (sowie Luxusgüter usw.) unproduktive Arbeit ist.«

Hier taucht also der Gebrauchswert auf, von dem vorher so umständlich geredet wurde. Die ganze Verwirrung, die die IKS hier hereinbringt, um ihr »Konzept des globalen Kapitals« und letztendlich ihre »Dekadenztheorie« aufzupolieren, lässt sich am besten dadurch widerlegen, dass man bei Marx sozusagen von vorn beginnt und wieder in die Schule geht:
»Nur die Arbeit, die Kapital produziert, ist produktive Arbeit. Kapital aber wird Ware oder Geld dadurch, dass sie direkt gegen Arbeitsvermögen ausgetauscht wird und nur ausgetauscht wird, um durch mehr Arbeit, als in ihr selbst enthalten ist, ersetzt zu werden. Denn der Gebrauchswert des Arbeitsvermögens besteht für den Kapitalisten als solchen nicht in seinem wirklichen Gebrauchswert, in der Nützlichkeit dieser besonderen konkreten Arbeit, dass sie Spinnarbeit, Webarbeit usw., sowenig wie ihm am Gebrauchswert des Produkts dieser Arbeit als solchem liegt, indem das Produkt für ihn Ware (und zwar vor ihrer ersten Metamorphose), nicht Konsumartikel ist. Was ihn an der Ware interessiert, ist, dass sie mehr Tauschwert besitzt, als er für sie zahlte, und so ist der Gebrauchswert der Arbeit für ihn, dass er ein grössres Quantum Arbeitszeit zurückerhält, als er in der Form des Salair bezahlt hat. Unter diese produktiven Arbeiter gehören natürlich alle, die zur Produktion der Ware d’une manière ou d’une autre mitarbeiten, vom eigentlichen Handarbeiter bis zum Manager, engineer (als unterschieden vom Kapitalisten). (…) Die produktive Arbeit wird hier bestimmt vom Standpunkt der kapitalistischen Produktion aus, und A.Smith hat die Sache selbst begrifflich erschöpft, den Nagel auf den Kopf getroffen – es ist einer seiner grössten wissenschaftlichen Verdienste (…), dass er die produktive Arbeit als Arbeit bestimmt, die sich unmittelbar mit dem Kapital austauscht, d. h. durch Austausch, womit die Produktionsbedingungen der Arbeit und Wert überhaupt, Geld oder Ware, sich erst in Kapital verwandeln (und die Arbeit in Lohnarbeit im wissenschaftlichen Sinn. Damit ist auch absolut festgesetzt, was unproduktive Arbeit ist. Es ist Arbeit, die sich nicht gegen Kapital, sondern unmittelbar gegen Revenue austauscht, also gegen Salair oder Profit (natürlich auch gegen die verschiednen Rubriken, die als copartners am Profit der Kapitalisten partizipieren, wie Zins und Renten). (…) Diese Bestimmungen sind also nicht genommen aus der stofflichen Bestimmung der Arbeit (weder der Natur ihres Produkts noch der Bestimmtheit der Arbeit als konkreter Arbeit), sondern aus der bestimmten gesellschaftlichen Form, den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, worin sie sich verwirklicht. Ein Schauspieler z. B., selbst ein Clown, ist hiernach ein produktiver Arbeiter, wenn er im Dienst eines Kapitalisten arbeitet (des entrepreneur), dem er mehr Arbeit zurückgibt, als er in der Form des Salärs von ihm erhält, während einer Flickschneider, der zu dem Kapitalisten ins Haus kommt und ihm seine Hosen flickt, ihm einen blossen Gebrauchswert schafft, ein unproduktiver Arbeiter ist. Die Arbeit des erstren tauscht sich gegen Kapital aus, die des zweiten gegen Revenue. Die erste schafft einen Mehrwert; in der zweiten verzehrt sich eine Revenue. (…)
Der Gebrauchswert der Ware, worin sich die Arbeit eines produktiven Arbeiter verkörpert, mag von der futilsten Art sein. Diese stoffliche Bestimmung hängt mit dieser ihrer Eigenschaft gar nicht zusammen, die vielmehr nur ein bestimmtes gesellschaftliches Produktionsverhältnis ausdrückt. Es ist eine Bestimmung der Arbeit, die nicht aus ihrem Inhalt oder ihrem Resultat, sondern aus ihrer bestimmten gesellschaftlichen Form stammt
.« (K. Marx, »Theorien über den Mehrwert«, MEW, Bd. 26, S. 126ff)

Voilà! Der ganze Kern marxistischer Auffassung über produktive und unproduktive Arbeit, die genaue Bestimmung der Begriffe ohne irgendein Drehen und Wenden. Eine ausführliche Darlegung des im Eingang dieses Abschnitts aufgeführten Zitats, das die IKS für eine Tautologie hält. Nur besitzt die IKS nicht den Schneid laut zu postulieren, dass sie den Marxismus für überholt und ihre eigenen intellektuellen Kunststückchen für des Pudels Kern hält, die aber nur belegen, wie wenig überhaupt von der ökonomischen Theorie verstanden bzw. verdaut wurde. Die ganze Trickserei der IKS besteht lediglich darin, ihre eigenen abgeschmackten und »neuentdeckten ökonomischen Kategorien« seicht und ohne wirklich kohärent-logischen Zusammenhang zwischen herausgeklaubte Marx-Zitate zu quetschen um sie in ihrem Schatten und sozusagen in der Nähe des grossen Meisters stillschweigend einzuführen, so hier den »Standpunkt des globalen Kapitals«, der alle bisherige marxistische Analyse natürlich bereicherungswürdig und erneuerbar macht. Ein Göttinger Professor erklärte vor ca. 200 Jahren, dass ein Buch wie ein Spiegel sei, und wenn ein Esel hineinblicke, dann könne kein Gelehrter herausgucken. Ganz so hat man den Eindruck verhält es sich noch heute, wenn die IKS Marx liest. So zitiert sie aus dem 1. Band des Kapitals, um ihre Theorie zu rechtfertigen:
»Um zu akkumulieren, muss man einen Teil des Mehrprodukts in Kapital verwandeln. Aber, ohne Wunder zu tun, kann man nur solche Dinge in Kapital verwandeln, die im Arbeitsprozess verwendbar sind, d. h. Produktionsmittel, und des ferneren Dinge, von denen der Arbeiter sich erhalten kann, d. h. Lebensmittel. Folglich muss ein Teil der jährlichen Mehrarbeit verwandt worden sein zur Herstellung zusätzlicher Produktions- und Lebensmittel, im Überschuss über das Quantum, dass zum Ersatz des vorgeschossenen Kapitals erforderlich war. Mit einem Wort: der Mehrwert ist nur deshalb in Kapital verwandelbar, weil das Mehrprodukt, dessen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile eines neuen Kapitals enthält.« (Hier folgt übrigens die vorher erwähnte Anmerkung Marx Nr.21a) (K. Marx, Kapital, Bd. 1, MEW, Bd. 23, S. 606f)
Marx redet nicht davon, dass das gesamte Mehrprodukt in Kapital zu verwandeln ist, sondern nur ein Teil dessen, dass nicht die gesamte jährliche Mehrarbeit zur Herstellung zusätzlicher Produktions- und Lebensmittel verausgabt werden muss, sondern, wiederum, nur ein Teil davon. Nur für die IKS ist es natürlich notwendig, dass alles rekapitalisiert wird, weil sonst die grandiose Wachstumsrate von 22 % jährlich seit 1943 nicht weiter vom globalen Kapital erzielt werden kann. Was heisst dies aber wirklich? Damit der Akkumulationsprozess fortschreitet ist es erforderlich, dass wenn beispielsweise 100 Arbeiter an 1000 Maschinen produziert haben, diese Arbeiter mehr als 1000 Maschinen produziert haben müssen und mehr Lebensmittel als für 100 Arbeiter, damit das Kapital im nächsten Zyklus 150 Arbeiter an 2000 Maschinen beschäftigen kann usw. Dies bedeutet aber nicht, dass die von den Arbeitern verrichtete Mehrarbeit nur ausreichen musste um 1000 neue Maschinen und die Ersatzteile für die alten herzustellen, oder um nur Lebensmittel für 50 weitere Arbeiter zu produzieren, sondern die gesellschaftliche Produktivkraft reicht zur Produktion über das Akkumulationsbedürfnis des Kapitals hinaus. Das heisst, es reicht auch aus, um Waren herzustellen, die nicht wieder in den unmittelbaren Produktionsprozess als konstantes oder variables Kapital zurückfliessen, sondern die unproduktiv verzehrt werden können, also bezahlt werden aus den Revenuen der Kapitalisten und der sich daraus ableitenden Konsumtionsfonds. Betrachtet man den Akkumulationsprozess isoliert von der gesellschaftlichen Reproduktionssphäre des Kapitals, dann kann man natürlich sagen, dass die produktive Konsumtion für den Akkumulationsprozess charakteristisch ist. Dies aber bedeutet nicht, dass nur die Arbeit produktiv für das Kapital ist, die Gegenstände herstellt, die erneut in den Verwertungsprozess einfliessen, denn, wie zu sehen war, reicht es aus, dass sie Mehrwert schafft, auch in den Sektoren, die Waren für die unproduktive Konsumtion herstellen. Im übrigen erläutert Marx ausführlich im III. Abschnitt des 2. Bandes des »Kapitals«, wie sich die Verhältnisse zwischen Luxusgüterproduktion oder Produktion für die unproduktive Konsumtion und den anderen Abteilungen des Kapitals gestalten. Unter Luxus sind hier alle Dinge gefasst, die weder Produktionsmittel noch Lebensmittel für die Arbeiter sind, also Dinge, die nur in den Konsum der Kapitalistenklasse eingehen, von Marx als Unterabteilung IIb bezeichnet. Es würde den Rahmen dieser Abhandlung bei weitem sprengen, dieses kompliziertere Kapitel im einzelnen auszuführen, es sei dem Leser aber anempfohlen, diesen Abschnitt genau zu studieren (MEW, Bd. 24, S351ff) um zum einen zu verstehen, warum der Gebrauchswert in der Bestimmung ob Arbeit produktiv oder unproduktiv unerheblich, und warum auch der Arbeiter Mehrwert schafft, das Kapital vermehrt, der in der Luxusgüter- oder Rüstungsproduktion arbeitet. Marx geht darüberhinaus und zeigt den Zusammenhang und gegenseitige Bedingtheit der verschiedenen Abteilungen des Kapitals (das alleine schon deshalb in jedem Zweig, auch in der Luxusgüter- und Rüstungsproduktion produktiv ist, weil es als Kapital fungiert, wie auch die Lohnarbeiter dieses Kapitals produktiv sind). Eine Besonderheit der Luxusgüterproduktion besteht darin, dass sie von Krisenzeiten besonders betroffen wird, weil die anderen Kapitalisten, Kunden der Luxusgüterproduzenten, einen geringeren Profit zu verzeichnen und deshalb in der Regel auch weniger Geld in ihrer Privatschatulle haben, weil am normalen Akkumulationsfond nicht eingespart werden sollte. Ein Beweis übrigens dafür, dass die Luxusgüterindustrie nicht die Akkumulationsfonds des Kapitals plündert, sondern die Existenz dieser Industrien zeigt in der Regel, dass ein erheblicher Überschuss über die notwendigen Akkumulationsfonds der Kapitalisten besteht. Rüstungsproduktion ist teils für das Kapital notwendiger Luxus, wie der Staat, und auch er wird in Krisenzeiten vom nationalen Gesamtkapital an die ökonomische Kandare genommen. Aber die Zurückname der Ausgaben für Luxus- oder Rüstungsartikel beinhaltet natürlich gleichzeitig einen Produktionsrückgang in den anderen Sektoren, denn Panzer werden nicht mit Panzern hergestellt, sondern mit handelsüblichen Produktionsmitteln, wie auch das Luxusparfum »Sowieso« nur mit üblichen Produktionsmitteln hergestellt wird. Schliesslich sind die von der kriselnden Luxusgüterindustrie auf die Strasse geworfenen Arbeiter nicht mehr in der Lage, in üblicher Weise zu konsumieren, sondern werden auf Schmalkost gesetzt. Jetzt sind sie wirklich unproduktiv für das Kapital geworden, und ein reiner Luxusartikel, weil nicht verwertbar im Produktionsprozess. Jetzt konsumieren diese Arbeiter erst wirklich »Mehrwert«, weil sie ausserstande gesetzt sind, Mehrwert zu erarbeiten.

Für die IKS aber ist alles, was mit Mehrwert bezahlt wird, unproduktive Arbeit. Zu dieser These versteigt sie sich:
»Die Löhne der Arbeiter dieser Industrien sowie die Profite der Kapitalisten dieser Industrien werden mit dem schon geschaffenen Mehrwert bezahlt. Der Wert des globalen Kapitals wird nicht um eine Stunde bereichert, die diese Industriebereiche abgeben. Das globale Kapital wird dagegen eines Teils seines Mehrwerts, der seiner Selbstausdehnung hätte gewidmet sein können, zum Unterhalt der Arbeiter und der Kapitalisten dieser unproduktiven Branchen verwendet.«
Weil der Ursprung der Profite »bereits geschaffener Mehrwert« sei, wäre dies ein Unterschied zum »wirklichen Mehrwert« des von der IKS als produktiv bezeichneten Sektors. Traurig aber war, schon wieder eine neue Kategorie, der »wirkliche Mehrwert«. Doch lassen wir ihn beiseite: Wenn der Nudelfabrikant, der keine Luxusnüdeli herstellt und auch nicht ausschliesslicher Hof- bzw. Armeelieferant ist, sondern gewöhnlich von Arbeitern konsumierte Nudeln produziert, wenn dieser einer neuen Teigpresse bedarf, dann muss er zunächst einige tausend Kilometer Spaghetti verkaufen, um den in ihnen enthaltenen Mehrwert zu realisieren, er muss also die übliche Metamorphose G-W-G' zu Ende gebracht haben. Nun hat er Geld in seinen Pranken und eilt mit einem Grossteil davon zum Maschinenfabrikant H., an dessen Büro ein Produktivitätszertifikat der IKS angebracht ist, und sagt:
»He, ich bin der Nudelfabrikant T. und möchte eine Teigpresse bei Dir kaufen«.
Da H. von Natur her neugierig, will er wissen, woher T. denn das Geld dafür hat. T. kann das nicht so richtig erklären, aber wir: er bezahlt diese Teigpresse mit in Geld verwandelten Mehrwert, ein Mehrwert, der »schon geschaffen« ist. Wäre T. aber Luxusnudelfabrikant, und hätte er all seine Luxusnudeln genauso abgesetzt wie seine Spaghettis à la prolétaire, er würde nicht anders verfahren. Nun hat Maschinenproduzent H. aber gegen den entlarvten Luxusnudelfabrikant T. seine Bedenken, da er die Produktivitätsbescheinigung der IKS nicht verlieren will. Darf er, ohne selbst unproduktiv zu werden, T. nun die Maschine verkaufen, gegen einen schon bereits zweimal »geschaffenen Mehrwert«? Aber wenn er die Teigpresse nicht verkauft, dann gerät seine eigene Unternehmung möglicherweise ins Straucheln. Dann kann er selbst seinen Mehrwert, vergegenständlicht in der Maschine, nicht realisieren. Und so kann er auch nicht einen Teil seines »wirklichen Mehrwerts« wirklich produktiv investieren, in Kapital verauslagen und einen neuen Produktionsprozess anleiern (der dann ihm als Teil des »globalen Kapitals« nützen würde), um endlich die 22 % Wachstumsplanvorgabe der IKS zu erfüllen…

Werden wir wieder ernst, auch wenn es schwer fällt angesichts dieser Abstrusitäten. Doch weil wir auch zu einem Ende kommen müssen, beschränken wir uns, das Wesentlichste ist gesagt, auf weitere Blüten der »Dekadenztheorie« à la IKS. Auf Seite 32 erfahren wir folgendes:
»Der Waffenkäufer, der kapitalistische Staat, wie jeder andere Kapitalist ist dem Wertgesetz unterworfen, er kann nur das kaufen, was tatsächlich wirklichen Bedürfnissen entspricht«.
Nein, nein, nein, es ist wirklich zum verzweifeln. Jeder Käufer, ob Arbeiter, Kapitalist, oder Staat, kann grundsätzlich, sofern ihm Geld zur Verfügung steht, kaufen, was er für dieses Geld kriegen kann. Er schaut nicht erst nach, ob neben dem grünen Punkt der »rote Engel« der IKS klebt und der Ware bescheinigt, »einem wirklichen Bedürfnis« zu entsprechen. Er geht allerhöchstens in sich und fragt sich, ob er das Ding wirklich braucht, also ob der Besitz der Ware ihm selbst wirkliches Bedürfnis ist. Das hat aber mit dem Wertgesetz nichts zu tun. Denn das Wertgesetz ist kein »Gebrauchswertgesetz« sondern höchstens »Tauschwertgesetz«. Nachzulesen im 1. Band des Kapitals, Elementar für alle, die sich Kommunisten nennen!

Unter der Überschrift »Die unproduktiven Kosten« werden zunächst die ganzen Staatsausgaben subsumiert, was durchaus allgemein richtig ist, aber nichts an der Tatsache ändert, dass die vom Staat mit Geld gekaufte Ware den Mehrwert eines Kapitalisten realisiert hat, was diesem wiederum erlaubt, sein Akkumulationszyklus erneut in Bewegung zu setzen. Ferner fallen unter die unproduktiven Kosten auch, wie richtig erwähnt, die ganzen Zirkulationskosten, sprich die faux frais der Produktion. Doch wiederum tauchen neue Kategorien unter den faux frais de production auf, zum Beispiel
»Ausgaben, die durch Irrsinnigkeiten hervorgerufen werden, die von den verzweifelten Handlungen einiger Firmen in bestimmten Ländern herrühren«.
Wer dies liest, der denkt zunächst an Versicherungsbetrüger, die ihre Fabrik in Brand stecken und damit die Assekuranzfonds in die Höhe treiben, oder Reeder, die Tanker auf dem Meer versenken, in gleicher Absicht aber mit noch mehr Effekt auf die Erhöhung der faux frais… Weit gefehlt! Die IKS versteht darunter die
»offensichtlich geplante, wohl durchdachte Senkung des Gebrauchswertes einiger Güter«
und als Beispiel werden Autos, Strumpfhosen, elektrotechnische Haushaltsgeräte etc. genannt. Selbst die Ausgaben für Entwurf und Planung dieser gebrauchsentwerteten Waren sind produktive Arbeiten und haben mit den faux frais nichts zu tun. Für die Entstehung der Ware ist es gleichgültig, ob sie nun dauerhaft oder gebrechlich konzipiert, entworfen und schliesslich produziert wird. Entscheidend ist, dass die Ware kapitalistisch produziert und verkauft wird. Je öfter sie kaputt, je gebrechlicher, um so vorteilhafter für die Produzenten dieser Ware, sofern sie Kapitalist, weil dies stimulierend auf die Nachfrage wirkt, sofern man es nicht zu doll treibt. Ein übrigens keineswegs neues Mittel des Kapitals, es ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Ähnlich verhält es sich mit der Mode. Zwar ist die Werbung, die den Leuten die Mode auf die Augen drückt, den faux frais, genauer den Zirkulationskosten zuzurechnen. Aber deswegen ist die handfeste, in Kleidungsstücken materialisierte Mode trotzdem Erzeugnis produktiver Arbeit im Verwertungsprozess des Kapitals. Rasch wechselnde Mode erhöht das Bedürfnis, Socken nicht erst dann wegzuwerfen, wenn sie schmutzig, sondern schon dann, wenn sie unmodern sind. Ganz heikel wird es mit dem nun erwähnten Auto. Hier schreibt die IKS:
»Anfänglich ein wirkliches, soziales Bedürfnis, ist es nun zu einer wahren gesellschaftlichen Katastrophe geworden. Der produktive Teil des Autos (Transportmittel der Arbeitskraft) weicht immer mehr dem unproduktiven Teil der Ware als schädlicher Verschwendung«.
Daraus geht klar hervor, dass die IKS ihren »roten Engel«, Prädikat für »wirkliches Bedürfnis«, dem Auto schon entzogen hat. Doch ab wann ist das Auto nichtmehr nur »Transportmittel für die Arbeitskraft« (es kann ja nur Transportmittel für den Arbeiter sein) und ab wann tritt die »schädliche Verschwendung«, der »unproduktive Teil der Ware« auf (wieder zwei neue Kategorien der politischen Ökonomie)? Ist ein 2CV nur Transportmittel und unschädlich, dahingegen ein VW-Golf mit Zigarettenanzünder und Schiebedach schädlich? Mit wieviel PS darf der Arbeiter zur Maloche rutschen – oder soll er den Bus nehmen und dafür noch weniger schlafen? Und seit wann zerfällt eine Ware in einen produktiven und einen unproduktiven Teil?

Es reicht, obwohl noch viel zu sagen wäre. Aber das Gesagte muss ersteinmal genügen, um den Verfall der Theorie durch die »Dekadenztheorie« nachzuweisen. Dies ist allein die Absicht dieser Polemik.
KomPol-Redaktion 1993/94


Source: »Kommunistische Politik«, Nr. 7, 1994 [2001 Fehlerkorrektur, farbige Schaubilder und einige Zwischenüberschriften hinzugefügt].

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