IBKL – Internationale Bibliothek der Kommunistischen Linken
[home] [content] [end] [search] [print]


AUSDEHNUNG UND GRENZEN DES FRANZÖSISCHEN GENERALSTREIKS


Content:

Ausdehnung und Grenzen des französischen Generalstreiks
Umfang und Schranken der spontanen Bewegung
Imperialismus und Klassenkampf
Die »Politisierung« der Bewegung: Wahlen und Klassenkollaboration
Für den Wiederaufbau der internationalen Klassenpartei
Source


Ausdehnung und Grenzen des französischen Generalstreiks

Dieser Artikel erschien im Juni 1968 in unserer Zeitung «Le Prolétaire», unmittelbar im Anschluss an die grosse Streikbewegung der französischen Arbeiterklasse.

Mai 1968: Neun Millionen Streikende gegen über kaum zwei Millionen, als die Streikbewegung von 1936 ihren Höhepunkt erreichte! Selbst wenn man die seit damals angestiegene Zahl der Lohnarbeiter berücksichtigt, beleuchten die beiden Zahlen klar die aussergewöhnliche Ausdehnung des französischen Generalstreiks.

1936–1968: zweiunddreissig Jahre! Zweiunddreissig Jahre mussten vergehen bis der so lange abgelenkte, so lange unterdrückte Zorn der Arbeiter schliesslich ausbrach! Zweiunddreissig Jahre lang war das Proletariat der Bourgeoisie völlig untertan und die Arbeiterklasse ertrug abwechselnd den imperialistischen Krieg und die kapitalistische Ausbeutung, ohne auch nur der geringsten Geste einer Auflehnung grösserer Tragweite fähig zu sein: das ist, brutal ausgedrückt, der Zersetzungszustand in dem sich die Arbeiterklasse befand, und es wäre naiv zu glauben, die heutige Explosion genüge, sie daraus emporzureissen.

In dieser ganzen Periode hat das Proletariat nicht die Kraft finden können, sich mit seinem eigenen Programm, seinen eigenen Forderungen, und Kampfmethoden der feindlichen Klasse gegenüber zu behaupten. 1936 hat die Bourgeoisie die Krise durch das Manöver der »Volksfrontregierung« wieder absorbieren können, die einige wirtschaftliche Forderungen der Arbeiterklasse befriedigte und dafür deren Zustimmung zum imperialistischen Krieg erhielt; ein Krieg, der für die Bourgeoisie den einzigen Ausweg aus der Krise bedeutete (und der übrigens alle soeben errungenen wirtschaftlichen Vorteile wieder wegfegen sollte: kämpft man nicht heute für die bereits 1936 »gewährte« 40-Stunden-Woche?). Unter dem Einfluss der degenerierten Kommunisten, die zu den verbissensten Verteidigern des Vaterlandes geworden, vergass das Proletariat den Internationalismus und nahm an dem als Kreuzzug gegen den Faschismus maskierten Krieg seiner Bourgeoisie teil. War das Proletariat während des Krieges der Bourgeoisie hörig, so blieb es ihr auch nach der Wiederkehr des Friedens untertan, in der Hoffnung, nun endlich die so heiss versprochenen Früchte seines Opfers zu ernten.

In dem durch die »Befreiung« geschaffenen Klima nationaler Eintracht musste es sich damit zufriedengeben, »kommunistische« Minister unter der Präsidentschaft De Gaulles an die Regierung gehen zu sehen. Diese Minister übernahmen die Aufgabe, das Proletariat zur Geduld zu ermahnen: zuerst müsse man wieder aufbauen, das heisst, dem Kapital erlauben, sich zu stärken, danach würde es bestimmt nicht versäumen, etwas zu »gewähren«.

Das ist die verhängnisvolle Stellung derer, die auf jede revolutionäre Perspektive verzichtet haben: ihren Worten nach kann die Verbesserung des Geschicks der Arbeiter nur von einer Expansion des Kapitals kommen, d. h. von einer Steigerung der kapitalistischen Ausbeutung, die – aber das verschweigen sie sorgfältig – nur Krisen und Krieg zeugen kann.

Nachdem die Ordnung wiederhergestellt war, nachdem die schwierige Klippe der Umstellung von der Kriegs – auf die Friedenswirtschaft überstanden war, entledigte sich die Bourgeoisie ihrer »kommunistischen« Helfer, die nunmehr in der rein parlamentarischen Opposition »nützlicher« waren als an der Regierung. Die Expansion begann; eine gewisse Besserung im Vergleich zu den Einschränkungen der ersten Nachkriegsjahre gab es tatsächlich, und die Arbeiterklasse richtete ihre Hoffnungen auf einen Wahlsieg der »Linksparteien« Zu gleicher Zeit aber verbreitete sich eine Atmosphäre grosser politischer Instabilität, durch die Umwandlung bewirkt, die in der französischen Gesellschaft infolge des Kriegs in Gang war: der Kolonialismus lag im Sterben und überall nahm der moderne Imperialismus seinen Platz ein; die kleinbürgerliche Wirtschaftsstruktur konnte sich kaum mehr über Wasser halten und die Industrialisierung schritt rasch voran. Da das aus den Reihen der Kleinbürger stammende traditionelle politische Personal des französischen Staates sich als völlig machtlos erwies, nahm das Grossbürgertum die Zügel der Regierung direkt in seine Hände und schenkte der straffen Zügelführung des Vaterlandretters De Gaulle sein Vertrauen. So konnte die Krise überwunden und die Kolonialherrschaft im besten Interesse des französischen Kapitalismus liquidiert werden und die imperialistische Tendenz drängte sich nun rückhaltlos allen Sektoren des Wirtschaftslebens auf; stürmische Akkumulation Konzentration und folglich eine tiefgreifende Umwandlung der Produktivstruktur, dies alles geschah in einem internationalen Klima, das durch eine immer unerbittlichere Konkurrenz gekennzeichnet war.

Breite Schichten der Arbeiterklasse liessen sich vom Märchen der »persönlichen Macht« verführen: »wenn De Gaulle alles zum Schlechtesten wendet, wie die demokratische Linke behauptet, warum sollte er umgekehrt nicht auch das Geschick der Arbeiter verbessern können?« Und man wartete auf das »Sozialjahr.« Es kam zum Stabilisierungsplan und zu den ersten Anzeichen einer Krise, die – zusammen mit den Auswirkungen einer immer schärferen internationalen Konkurrenz – ein beträchtliches Ansteigen der Arbeitslosigkeit hervorrief. Die französische Arbeiterklasse hatte seit längerer Zeit nicht mehr darunter gelitten und war daher besonders empfindlich dagegen. Ohne bereits zu begreifen, dass die Expansion nur zu einer allgemeinen Krise führen konnte, hatte sich die Arbeiterklasse jedoch dank eigener Erfahrungen von einigen ihrer gröbsten Illusionen frei gemacht und ging zur direkten Aktion über; den Anstoss dazu gab ein völlig zweitrangiger Antagonismus ganz anderer Natur, die Universitätskrise.

Umfang und Schranken der spontanen Bewegung

Zunächst erscheint die Streikbewegung im Mai 1968 als radikale Verneinung der Taktik, die die Gewerkschaftsorganisationen bisher einer geteilten, desorientierten, ihrer eigenen Kraft nicht sicheren Arbeiterklasse aufgezwungen hatte.

Nachdem der Streik am 14. Mai in der Flugzeugindustrie ausgebrochen war, dehnt er sich spontan aus, gewinnt fast sofort die wesentlichen Sektoren der Metallindustrie und des Transportwesens und nimmt schliesslich fast den Charakter eines Generalstreiks an. Die Gewerkschaften werden überrollt von einer Bewegung, die ihre ganze Politik verurteilt. Die Meister im Simulieren von Streiks, die jeder Wirkung beraubt sind, da man dem Gegner vorher sagt, der Ausstand werde nur 24 Stunden dauern, welches auch immer das erhaltene Resultat sein möge, von einer Bewegung überflügelt die schlagartig einen unbegrenzten Charakter annimmt und den Willen der Arbeiter ausdrückt, für einen ernsthaften Sieg zu kämpfen. Die Verfechter des Teilstreiks, der Zersplitterung der Lohnkämpfe nach dem Motto »jeder Berufszweig für sich allein, jede Fabrik für sich allein« sehen sich einer Bewegung gegenüber, die sich ausdehnt und schliesslich alle Berufszweige umfasst.

Aber die Gewerkschaften versäumen es nicht, diese ohne sie und gewissermassen gegen sie entfesselte Bewegung (weil sie mit den Kampfmethoden Schluss macht, die jene bei jeder Gelegenheit predigen) wieder in die Hand zu bekommen und sie in die gewohnten Geleise zurückzuleiten.

Eines steht fest: wenn die Streikwelle auch mächtig genug war, schlagartig ein von dem der Gewerkschaften völlig verschiedenes Kampfterrain aufzuzwingen, so hat sie doch nicht alle Hindernisse überwinden können und sich wieder eindämmen lassen. Haben die Arbeiter vor dem Streik den Gewerkschaften misstraut, gegen deren Willen den Streik ausgerufen, ihn aus eigener Initiative ausgedehnt, so handeln sie während des Streiks, als ob sie es normal und richtig fänden, dass die Gewerkschaftsbonzen trotz alledem beauftragt bleiben, den Streik zu Ende zu führen. Diese spontane Bewegung, die in einem grossartigen Zornesausbruch die Arbeitermassen an die Vorhut gestossen hatte, scheint ganz plötzlich stehenzubleiben, um der Nachhut der Gewerkschaftsbürokratie Zeit zu lassen, den Zug einzuholen und sich wieder an seine Spitze zu stellen.

Darin liegt die erste Grenze der Bewegung, die nicht in sich selbst die Kraft findet, den eingeschlagenen Weg bis zu Ende zu gehen. Gewiss, die Arbeiter haben bereits einen grossartigen Sieg errungen; einen Sieg über ihre eigene Unschlüssigkeit, über ihre eigene Teilung, über ihre eigenen Organisationen. Aber sie bleiben bei diesem Resultat stehen, anscheinend überzeugt, dass nun das Wesentlichste schon errungen sei, dass dieser Sieg über sich selbst und über ihre Gewerkschaften bereits der Sieg über den Klassenfeind, über die Fabrikherren und über den Staat sei.

Ihre Illusionen sollten rasch wieder zerfliessen; indessen erlauben sie jedoch den Gewerkschaften, die Zügel der Bewegung zu ergreifen. Vor allen hüten sich die Gewerkschaften davor, die sich ausbreitende Bewegung noch weiter auszudehnen: die Gewerkschaftsleitungen haben nie den Generalstreik ausgerufen und die CGT betont bei jeder Gelegenheit, es nicht getan zu haben. Dennoch – trotz der Gewerkschaften – dehnt sich die Bewegung aus: da weigern sich die Gewerkschaften nun, sie zu vereinigen und bemühen sich im Gegenteil, sie möglichst tief zu zersplittern und zu isolieren.

Es klingt paradox, aber dem ersten Anschein nach sind es die Streikenden selbst, die den Bonzen das Mittel bieten, um die Zügel wieder in die Hand zu nehmen, indem sie die Fabriken besetzen. Aus dem ungeschickten und unvollständigen Ausdruck einer Radikalisierung der Arbeiterbewegung gelingt es den Gewerkschaften, eine Waffe zur Verteidigung der Ordnung zu machen. Was wollten die Streikenden durch die Fabrikbesetzung? Vor allem wollten sie die Totalität des Streiks erreichen und daher jeden Streikbruch verhindern; ausserdem wollten sie ihre eigene Entschlossenheit zeigen, indem sie in Masse handelten und so die Zersplitterung vermieden, die jeden einzelnen seinen persönlichen Sorgen überlässt.

Was haben die Gewerkschaften aus der Fabrikbesetzung gemacht? Geschickt haben sie die korporativen Schranken der Bewegung ausgenützt, die sich eben im Zurückziehen in die Fabriken ausdrückten, und haben vorsätzlich die Arbeiter in den Fabriken eingesperrt. Dadurch erreichten sie, dass ein fast totaler Generalstreik letzten Endes zersplittert blieb und jener allgemeinen Führung entbehrte, die sie um keinen Preis übernehmen wollten. So blieb dem Arbeiter die Strasse versagt und somit auch der Kontakt mit dem Genossen eines anderen Betriebs oder eines anderen Berufszweigs. Die Kraft der Bewegung wurde passiv durch deren Aufteilung in lauter einzelne isolierte Zellen. Die Gewerkschaft weigerte sich, klar für die gemeinsamen Forderungen einzutreten, die trotz allem aus den vielfältigen von den Arbeitern in jeder einzelnen Fabrik aufgestellten Forderungen hervortraten: die Gewerkschaftsbürokratie hielt sich so die Hände frei für die Gipfelverhandlungen und warf die Grundlagen für ein eventuelles Zerbröckeln des Streiks. Kurz gesagt, alle Anstrengungen der Gewerkschaften waren daraufhin gerichtet zu verhindern, dass die Streikbewegung einen deutlichen Klassencharakter annahm.

Imperialismus und Klassenkampf

Dabei waren alle Bedingungen gegeben, damit der offene Zusammenprall zwischen Staat und Lohnarbeiterschaft in dieser Krise in aller Deutlichkeit den Klassencharakter des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit an den Tag legte: seitens der Arbeiter die Ausdehnung und Entschiedenheit einer Bewegung, die vor allem wesentliche Forderungen wie die Erhöhung des Preises der Arbeitskraft und die Kürzung der Arbeitszeit anbetraf; seitens der Kapitalisten die Lebensnotwendigkeit, auf Grund der äusserst harten Bedingungen der internationalen Konkurrenz auf diesen für die Ausbeutung der Lohnarbeit wesentlichen Kategorien standzuhalten.

Wie haben sich die Zeiten doch geändert seit 1936, als der reformistische Führer Frachon den Arbeitern sagen konnte: »die Fabrikherren können zahlen«! Er hütet sich wohl davor, das heute zu sagen, wo seine Gewerkschaftszentrale und seine Partei offen für die Sache der Verteidigung der französischen Industrie, d. h. der Expansion des nationalen Finanzkapitals, eintreten!

Immer weniger sind die »Fabrikherren« in der Lage, zu zahlen. Das nationale Finanzkapital – als verhältnismässig autonome Kraft des internationalen Finanzkapitals – erschöpft seine letzten Möglichkeiten. Man könnte sonst nicht verstehen, warum die französische Bourgeoisie nach Ausbruch einer derartigen Explosion und trotz ihres Vertrauens in die subjektive Schwäche der Lohnforderungsbewegung und auf die Hilfe ihrer reformistischen, sozialistischen und »kommunistischen« Handlanger, von vornherein die Wilsonsche Lösung ausgeschlossen hat, d. h. der bürgerlichen Linken der Mendès France und Mitterand die Regierung zu überlassen.

Der wohl nicht verzweifelte, aber äusserst »energische« Widerstand, den die Leiter des französischen Finanzkapitals der Spontanbewegung leisteten, beweist dass sie genau wissen – und nicht nur »vermuten«, wie sie vorgeben – dass die kräftige Lohnerhöhung und fühlbare Kürzung der Arbeitszeit, die eine »linke« Regierung gewähren müsste, in Kürze zu einer äusserst schwierigen Lage im Exportgeschäft führen würde (es ist überflüssig darauf hinzuweisen, wieviel enger die französische Wirtschaft heute an den europäischen und an den Weltmarkt gebunden ist als 1936, und wie weitaus wichtiger der Aussenhandel heute im Verhältnis zu damals ist); aber auch – sie sagen es zwar nicht, aber es ist trotzdem klar – dass die nach der langen vom Proletariat erduldeten Enthaltsamkeitsperiode nun von der »Linken« gewährten Konzessionen nicht durch eine Geldentwertung wieder »aufgesaugt« werden könnten nach der klassischen Methode Blums 1936 und Wilsons im heutigen England: sie würde weitere Konzessionen nach sich ziehen, Träger von Inflation und »Instabilität«, und würden die französische Wirtschaft zur Katastrophe führen auf einem ähnlichen Weg wie dem, den das von Wilson regierte England eingeschlagen hat – jenes England, das De Gaulle sorgfältig vom Gemeinsamen Markt ausschliesst, um die Auswirkungen seiner Krise zu beschränken.

Die Bourgeoisie hat nämlich diese Schlüsse gezogen: welche auch immer die augenblicklichen oder weitergreifenden Schäden einer Verlängerung des Streiks sind, so sind sie doch immer noch unendlich geringer als die Schäden, die in nächster Zukunft aus einer Steigerung des politischen Bewusstseins des Proletariats entstehen würden, als Folge der unvermeidlichen Entlarvung der an die Regierung gekommenen »Linken« und der wirtschaftlichen Rückwirkungen ihrer Reformen.

Wir schliessen daraus folgendes: je länger der Kapitalismus sich selbst überlebt, je mehr er sich konzentriert, desto weniger kann er den elementarsten Forderungen des Proletariats nachgeben. Das was der liberale Kapitalismus des 19. Jahrhunderts (für Frankreich die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) den Lohnarbeitern »gewähren« konnte, kann heute der Staat als kollektiver Verwalter des Finanzkapitals nicht mehr tolerieren. Darum ist eine die ganze Arbeiterklasse umfassende Bewegung eine potentiell politische Bewegung, auch wenn das Niveau ihres politischen Bewusstseins am Anfang noch äusserst niedrig ist.

Die »Politisierung« der Bewegung: Wahlen und Klassenkollaboration

Die »Politisierung« der Bewegung erschien von dem Augenblick an, als die Vorschläge des Staats und der Unternehmer bekannt wurden. Die Lohnarbeiter wiesen die lächerlichen, von den Unternehmern »gewährten« und von den Gewerkschaften für annehmbar gehaltenen Konzessionen sofort in Bausch und Bogen ab; aber in Abwesenheit einer starken marxistischen Partei, die fähig ist, ihren Kampf unnachgiebig in Aussicht auf einen weiteren Kampf gegen den bürgerlichen Staat für die Diktatur des Proletariats und die Zerstörung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse fortzuführen, kurz einer vom Programm der Revolution des Proletariats geleiteten Partei, kam die Politisierung von aussen.

Nicht von der Französischen Kommunistischen Partei, die vor dem Proletariat in Aktion zu viel Angst hat, und genausowenig von den Gewerkschaften (CGT) die seit Jahren ihre Mitglieder gegen den… ausländischen Imperialismus mobilisieren, sondern von den Organisationen, die die Interessen der »neuen Mittelklassen« vertreten, die an die Industrialisierung der imperialistischen Epoche gebunden sind. Ihr Theoretiker ist Mendès France und ihre Ideen kamen klar zum Ausdruck von dem Tag an als dieser Exradikale alten Stils sich 1960 zum… »Sozialismus« bekehrte. Im Wesentlichen sagen sie folgendes: dem Anstieg des Wohlstands und seiner Ausdehnung auf alle Gesellschaftsschichten sind keine Grenzen gesetzt, wenn das »Zeitalter der Technik« alle seine Möglichkeiten frei entfalten kann durch eine ununterbrochene Reihe von Strukturreformen, wo durch die von der Produktion erreichten Grenzen immer weiter ausgedehnt werden. Das werde allen Lohnarbeitern zunutze kommen dank des »gesellschaftlichen Aufstiegs« durch eine innerbetriebliche Qualifizierung und vor allem durch den Besuch der demokratischen Universität. Die Lohnarbeiter sollen folglich an der Betriebsleitung »teilnehmen« und sich der von der Konkurrenz diktierten Bedingungen der Produktionserweiterung bewusst werden, und auch an der Leitung des Staats, dieses Meisters demokratischer Planungswirtschaft, »teil nehmen«, mittels der… Wahlen!

Diese vom PSU entwickelte Ideologie der Klassenkollaboration wird von den Leitern des französischen nationalen Studentenbundes (UNEF) unter den zukünftigen »Kadern« verbreitet, die nur darauf aus sind, von der hohen Produktivität der Lohnarbeit zu profitieren; unter den Arbeitern wird diese Ideologie von der CFDT verbreitet, einer gelben Gewerkschaft die, um präsentabler zu sein, ihre Maske erklärten christlichen Sozial-Konservativismus abgelegt hat. Es waren also diese beiden Organisationen, die die Initiative ergriffen, die Arbeiter wieder auf die Strassen hinauszulassen: mit Losungsworten, deren Inhalt – Beteiligung an den Wahlen – von De Gaulle einerseits und von allen Parlamentsparteien, PCF an der Spitze, andererseits, flugs aufgegriffen wurde. PSU und CFDT begannen, getrennt ihre Kundgebungen zu halten: während die Arbeiter in den Fabriken vereint geblieben waren, gelang es also, sie zu trennen, indem man ihren Wunsch nach Strassenkundgebungen ausnützte. CGT und PCF, die ihre Kundschaft nicht verlieren wollten, beeilten sich auch auf diesem Gebiet Schritt zu halten, wie sie es seit Jahren schon auf dem Gebiet der Theorie tun (auch sie sind schliesslich soweit gelangt, dem technischen Fortschritt und der demokratischen Planwirtschaft Lob zu singen!) und riefen die Arbeiter zu anderen, getrennten Kundgebungen unter ihrer eigenen Fahne.

So legte die »vereinte Linke« ihre Unfähigkeit an den Tag, in einer tiefgreifenden Krise die Spontanbewegung auch nur dazu zu benutzen, um die Regierung zu stürzen und ihren niedrigen, auf die Wahlen beschränkten Politikantendünkel zu befriedigen. De Gaulle brauchte nichts anderes zu tun als mit der Faust kräftig auf den Tisch zu schlagen, und schon verkrochen sich alle diese Herren in ihre Mauselöcher und machten sich fieberhaft daran, ihre eigene Wiederwahl vorzubereiten und überliessen somit die Streikbewegung sich selbst angesichts der vielfältigen Einschüchterungs- und Teilungsmanöver des Staats, der die Gewerkschaften in ihrer »Arbeit« ablösen gekommen war. Die Wahlen nicht stören wurde für alle das grosse Losungswort. Gleichzeitig erhitzten sich die diversen Gruppen, Prochinesen, Theoretiker der »Arbeitermacht im Betrieb« und »Studentenmacht in der Schule«, Trotzkisten und Anarchisten, und schrien wohl auch nach Gewalt und wandten Gewalt an, aber für im Grunde genommen ähnliche Ziele: mehr Demokratie! Es war das Ende…!

Für den Wiederaufbau der internationalen Klassenpartei

Es ist noch zu früh, um aus dieser Krise alle Schlüsse zu ziehen; einige können wir aber bereits formulieren:

Für die Bourgeoisie und vor allem für die Mittelklassen, die bisher zwecks leichterer Demoralisierung der Arbeiter behaupteten, infolge des allgemeinen Wohlstands (der Dreiheiligkeit »Kühlschrank – Fernsehen – Auto«) gäbe es kein Proletariat mehr: für sie alle ist die Stunde der Wahrheit gekommen: das Proletariat existiert und handelt, auch wenn seine Schritte noch unsicher und seine Kampfformen elementar sind, da es seine Klassenpartei noch nicht wiedergefunden hat.

Jedenfalls hat die Bourgeoisie bereits ihren Traum fallen lassen müssen, das Proletariat auf dem Altar des Vaterlands und der Produktivität und im Namen der hochheiligen internationalen Konkurrenz an seiner eigenen Ausbeutung teilhaben zu lassen: zuerst kommt die Orgie der Wahlen, dann die des Knüppels.

Für das Proletariat: nach einer Bewegung solcher Ausdehnung und Dauer ist es unmöglich, dass es durch den Zusammenbruch der Illusionen der »vereinten Linken« nicht erkennt, welche Rolle die reformistischen Gewerkschaftsleitungen und die PCF in dieser Krise gespielt haben. Es ist unmöglich, dass nicht ein Bruchteil davon sich, der spontanen Stärke der Bewegung und zugleich der äussersten Schwäche – besser gesagt, des offenen Verrats – seiner Führung bewusst wird und nicht daraus den Schluss zieht, den Reformismus und die Illusionen eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus über Bord zu werfen und sein Programm und seine Klassenpartei suchen zu müssen.

Für uns als Internationale Kommunistische Partei bedurfte es nicht dieser Krise, um uns in der Gewissheit der Gültigkeit der marxistischen Theorie des Klassenkampfs zu stärken, und in der Überzeugung, dass die revolutionäre Partei dazu notwendig ist, um auch nur im Lohnkampf zu siegen: für uns bedeutet diese Krise den so lange erwarteten Beginn der Wiederaufnahme des Klassenkampfs. Wir begrüssen sie!

Diese Ereignisse, die den reformistischen Gewerkschafts- und Parteibonzen typisch französisch zu sein scheinen (»die Schuld daran trägt De Gaulle mit seinem Autoritarismus; wenn er auf uns gehört hätte, wäre es nicht so weit gekommen«) bedeuten für uns ein neues Anzeichen, dass die Weltkrise der kapitalistischen Produktionsweise heranreift. Immer häufiger erscheinen solche Anzeichen!

In den abhängigen Ländern ist es die Tatsache, dass der Vietnamkrieg und der mehr oder weniger verhüllte Krieg im Mittleren Osten sich endlos hinausziehen; in den kapitalistischen Ostländern ist es der wiederholte Ausbruch von Gegensätzen zwischen dem russischen Imperialismus und den nationalen Ökonomien der Satellitenstaaten (heute die Tschechoslowakei, gestern Rumänien, und morgen?); in den westlichen kapitalistischen Ländern das Elend und der Kampf des Negerproletariats in den amerikanischen Metropolen und die innere Zerrissenheit des USA-Regimes, das langsame Ersticken der englischen Wirtschaft und die Rückkehr eines lange Zeit durch die Arbeiteraristokratie vergifteten Proletariats zu offenen Kampfmethoden.

Heute ist Frankreich dran, und schon zittert die Bourgeoisie Deutschlands und Italiens. Alle Gegensätze häufen sich an, eine Krise folgt der anderen in immer kürzeren Zeitabständen: dies sind die Voraussetzungen, damit das Proletariat der ganzen Welt begreift, dass es keine nationalen Probleme gibt, dass es nur eine einzige Lösung gibt: die Weltdiktatur des Proletariats, die Zerstörung der nationalen Staaten.

Dies ist der einzige Weg zum Sozialismus: er führt über den Wiederaufbau der Weltpartei der Arbeiterklasse.


Source: «Internationale Revolution», Nr. 2, Juni 1969, S. 17–23

[top] [home] [mail] [search]