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DER DRANG NACH OSTEN


Content:

Der Drang nach Osten
Der unwiderstehliche Aufstieg des deutschen Kapitals
Die relative Unterentwicklung der UdSSR
Die neuen Kautskysten
»Der Imperialismus ist der Vorabend der sozialen Revolution des Proletariats« (Lenin)
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Der Drang nach Osten

Alle »Beobachter« haben die Versprechungen der neuen Version des deutsch-russischen Paktes gefeiert und haben es nicht versäumt, die Feierlichkeit der Unterzeichnungszeremonie hervorzuheben. Oh, wie schön ist die »Entspannung« und wie leicht war sie in Gang gebracht! »Le Monde« begrüsst gebührend die »Dynamik des Friedens«:
»So wie es eine Dynamik des Krieges gibt, die dazu führt, immer furchtbarere Verbrechen zu rechtfertigen, gibt es eine ›Dynamik des Friedens‹. Ihr ist es zu verdanken, dass so viele Konflikte, die im Augenblick unlösbar zu sein schienen, mit einer friedlichen Lösung in die Geschichte eingegangen sind. Von ihr, von ihr allein können wir uns erhoffen, dass in Europa der Eiserne Vorhang verschwindet«.

Welch prächtige Worte – abgesehen von dem feinen Unterschied, dass es nicht zwei entgegengesetzte »Dynamiken« gibt, deren Wahl vom Willen der Staatsmänner abhängt, sondern nur eine, nämlich die des Kapitals. Gewiss, sie ist voller Widersprüche, und zwar deswegen, weil die friedliche Entwicklung der Produktion und die dazu notwendige Ausdehnung des internationalen Handels still aber unabwendbar jene Handelskriege vorbereiten, die selbst nichts anderes sind als ein Vorspiel zum offenen Krieg. Unter der Herrschaft des Kapitals wird die »Dynamik des Friedens« immer in der »Dynamik des Krieges« ihre Fortsetzung finden, solange bis endlich der Sieg des Kommunismus im Klassenkrieg diesem aussichtslosen Kreislauf ein Ende setzen wird.

Der unwiderstehliche Aufstieg des deutschen Kapitals

Ironie der Geschichte. Der Besiegte von gestern steht gesammelt vor dem Grab des russischen Unbekannten Soldaten, der arme Muschik sieht seinen »Feind« von gestern wiederkommen, zwar nicht mehr an der Spitze von Panzerdivisionen – das stimmt – sondern seiner riesigen Industrie- und Finanzmacht. Das was der Pakt offiziell anerkennt, ist nicht nur der »Status quo« der Grenzen in Europa, sondern vor allem der Durchbruch des deutschen Kapitalismus: die Macht an der Ruhr war den Ex-Revanchisten wohl eine Umarmung wert, und Breschnew hat das nicht versäumt, in glanzloser Fortsetzung der traditionellen stalinistischen Diplomatie.

Wir haben anderweitig zur Genüge bewiesen, dass Deutschlands Aufstieg die direkte Folge des zweiten Weltkrieges ist, der ihm durch seine Zerstörungen Jugendkraft und Vitalität wiedergegeben hat. Aber dieser Gigant der Wirtschaft droht zu ersticken: er verfügt über keine Kolonien oder Halbkolonien, und hat sich seine Märkte hart erkämpfen müssen gegen die unerbittliche Konkurrenz der USA. Die deutsche Bourgeoisie ist sich des prekären Charakters ihrer Lage bewusst; die protektionistischen Bestrebungen des amerikanischen Senats haben sie neuerdings an die Sperre erinnert, die sich ihrer Expansion nach Westen entgegensetzt. So ist im von Waren und Kapital gesättigten Westen die Öffnung des Ostmarktes die einzige vorläufige Lösung für die ungeheuren Produktivkräfte Deutschlands und für sein aggressives Finanzkapital. Gewiss als Gegenleistung verzichten die Deutschen auf die »Ostterritorien«, die dem russischen Imperialismus für seine Teilnahme am »antifaschistischen« Kreuzzug geschenkt worden waren; damit verzichtet die westdeutsche Bourgeoisie aber auf etwas, was sie gar nicht besass, wofür sich ihr die Tore zum riesigen Markt des Ostblockes auftun.
»Da die Aufteilung der Welt beendet ist, zwingt eine neue Aufteilung, die Hand nach jedem beliebigen Territorium auszustrecken«
sagte Lenin. Für den deutschen Imperialismus ist es lebenswichtig, neue Märkte für sich zu gewinnen.

Ausserdem ist der Ostblock für Deutschland nicht nur ein Markt auf den es seine Waren ausschütten kann, sondern er ist auch ein Reservoir von Arbeitskräften. Trotz der zwei Millionen ausländischer Proletarier, die bereits auf deutschem Boden arbeiten, mangelt es der deutschen Industrie an Arbeitern. Sie wird nun keine Schwierigkeiten haben, sie in bestimmten östlichen Ländern zu finden, wie das Börsenblatt »La Vie Française« am 13. Juli schreibt:
»Abkommen für Unteraufträge, Abtretung von Lizenzen und Herstellungsverfahren, Neueinrichtung und Verlegung von Produktionszentren, in denen es noch viel zu tun gibt; es sind schon bescheidene Versuche eingeleitet worden, vor allem mit Jugoslawien (…) und wir müssen anerkennen, dass diese äusserst ermutigend waren«.

Die relative Unterentwicklung der UdSSR

Chruschtschow hatte vorausgesagt, dass der »Kommunismus« den Kapitalismus im wirtschaftlichen Wettkampf ausstechen würde, und führte als Beweis die hohen Akkumulationsraten Russlands in den fünfziger Jahren an. Abgesehen davon, dass diese Galeere nichts mit Kommunismus zu tun hat, ist die sowjetische Wirtschaft dann bald ausser Atem gekommen und vor allem die Produktivität ist sehr niedrig geblieben im Vergleich zu der, die der westliche Kapitalismus erreicht hat.

Halten wir uns an einige frischere Nachrichten: K. S. Karol hat am 23. und 24. Juli in »Le Monde« berichtet, dass
»die Modernisierung der alten Fabriksanlagen nur selten durch Entlassung nicht spezialisierter Arbeiter vervollständigt wird […] Es scheint Fälle zu geben, in denen die Lage noch schlimmer ist und die Modernisierung zu einer Erhöhung der Beschäftigtenzahl geführt hat«
und er fügt hinzu:
»Während der Periode der beschleunigten Industrialisierung haben die sowjetischen Unternehmen die ungenügende Produktivität durch eine Vermehrung der nicht spezialisierten Arbeitskräfte kompensiert. Nun scheint aber trotz Modernisierung der Fabriken und Fortschritt der Produktivität die Zusammensetzung der Arbeitskräfte keine wesentliche Besserung er fahren zu haben«.

Was nun den russischen Proletarier anbelangt: dass er die unerbittliche Diktatur des Kapitals ohne Zornesausbruch ertragen hat, ist ohne Zweifel auf das äusserst niedrige Niveau der Produktivität zurückzuführen. Karol gibt uns da nützliche Informationen über sein Verhalten:
»Allein das Fehlen der Arbeitsdisziplin hat der sowjetischen Wirtschaft eine Verlust von 72 Millionen Arbeitstagen pro Jahr verursacht; der Abwesenheitsprozentsatz wird in den offiziellen Statistiken erst gar nicht berechnet, um niemanden zu alarmieren, und in bestimmten Industrien ist die Produktivität so niedrig, dass es scheint, die Arbeiter würden die Technik des ›go slow‹ praktizieren. In der Landwirtschaft könnte das Verhalten der Kolchosbauern an eine Art passiven Widerstand denken lassen«.

Die Sowjetleitung ist sich dieser Schwächen völlig bewusst und hat sich nun – als guter Verwalter des nationalen Kapitals – dazu entschlossen, Abhilfe zu schaffen. Aber sie weiss genauso gut, dass sie dabei auf einem Minenfeld voranschreitet; und dass jede zu brutale Massnahme dem Proletariat die Augen öffnen würde über die Fiktion des »Sozialismus in einem Lande«. Bis jetzt sind sie auch mit Vorsicht vorangegangen; heute sind sie jedoch nicht mehr in der Lage, das Inland mit allem notwendigen zu versorgen, dürfen aber trotzdem nicht aufhören, alle ihre Anstrengungen dem Aufrüstungswettrennen zu widmen. Es besteht also kein Zweifel, dass trotz aller Vorsicht und allen Zögerns in der Politik der wirtschaftlichen »Liberalisierung« die kommenden Reformen danach trachten werden, das russische Proletariat den Erfordernissen der Konkurrenz und der internationalen Arbeitsteilung zu beugen.

Um sich davon zu überzeugen genügt es, die stalinistische Zeitung »La Marseillaise« vom 20. August zu lesen:
»So gebe man uns doch die Erlaubnis, Personal zu entlassen; so gebe man uns doch die Bewilligung, denselben Lohnberg nach unserem Gutdünken zu verwenden, dann sind wir sicher die Produktion wesentlich zu steigern«,
so lässt die Zeitung russische Fabriksdirektoren zu Wort kommen und gibt dazu folgende Zahlen bekannt:
»Im Chemiekonzern von Tschekinow ist die Belegschaft um 800 Personen verringert worden (10 %), die Löhne sind insgesamt um 12,7 % erhöht worden, und die Produktivität ist um 22 % gestiegen.«
Und jene Herren sind ganz begeistert vom Wunder der… kapitalistischen Ausbeutung in Russland! Wohl gemerkt, sie beeilen sich hinzuzufügen, dass die aus Gewinngründen entlassenen armen 800 anderswo »neu eingestuft« wurden, aber es ist wohl vollkommen klar, dass dies nicht mehr möglich sein wird, sobald das Produktivitätswettrennen sich beschleunigen und vor allem verallgemeinern wird. Zweifelsohne werden dann jene Schreiberlinge die Faulheit der Rowdys und Halbstarken und den Mangel an sozialistischem Bewusstsein der von Beruf Arbeitslosen brandmarken.

»La Vie Française« vom 21. August gibt ihrerseits einige Daten über die russische Wirtschaft bekannt:
»Der neue sowjetische Fünfjahresplan (1971–1975) sieht massive Investitionen in der Industrie vor, entsprechend 310 Milliarden Mark und einer Erhöhung von 70 %. Im Gegenteil zu den früheren Plänen wird dieser jedoch seine Anstrengungen hauptsächlich auf die Modernisierung der industriellen Strukturen Weissrusslands richten. Für diesen Vorwärtssprung innerhalb der kommenden fünf Jahre braucht die sowjetische Industrie aber massiven technischen Beistand. Wie Kossygin Willy Brandt klar zu verstehen gegeben hat, wird die BRD ihn liefern müssen«.
Hierzu lässt die Zeitung einen grossen rheinischen Bankier zu Wort kommen:
»Unser bester ausländischer Kunde für Werkzeugmaschinen ist nun die UdSSR… Moskau erwartet technische Unterstützung von uns, und zwar auf der Basis sehr langfristiger Kredite: man spricht bereits von 4 bis 5 Milliarden DM pro Jahr, für eine Dauer von 20 Jahren, das macht an die hundert Milliarden aus«.
Russland stellt folglich nicht nur einen Ausweg für die westdeutschen Waren dar, sondern auch – und vor allem – für sein Kapital.

Die neuen Kautskysten

Der »Prawda« nach ist der Vertrag »im Interesse des Friedens und der Sicherheit« abgeschlossen worden und die »Humanité« singt Loblieder über den Erfolg der »Friedenskräfte, die heute die Berechtigung ihrer Forderungen anerkannt sehen«.

Im »Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« brandmarkte Lenin alle diejenigen, die den Gedanken äussersten,
»dass die internationalen Kartelle, die die Internationalität des Kapitals ja am deutlichsten zum Ausdruck bringen, die Hoffnung auf Frieden zwischen den Völkern beim Kapitalismus gewähren«.

Er brandmarkte damals die Theorien Kautskys, dessen Jünger heute in den stalinistischen Bewegungen wiederzufinden sind und die dem Proletariat zu verstehen geben wollen, dass die »friedliche Koexistenz« die Konkurrenz ersetzen und die Krisen vermeiden könne.

Lenin hat ihnen schon im vorhinein geantwortet:
»Die internationalen Kartelle zeigen bis zu welchem Grade die kapitalistischen Monopole angewachsen sind und um was der Kampf zwischen den Kapitalistenverbänden geht (…). Die Form des Kampfes kann wechseln und wechselt auch beständig, je nach den verschiedenen privaten und zeitlichen Verhältnissen, aber das Wesen des Kampfes, sein Klassen-Inhalt kann sich nicht verändern, solange Klassen bestehen. Gewiss liegt es im Interesse z. B. der deutschen Bourgeoisie, den Inhalt (Teilung der Welt) des heutigen wirtschaftlichen Kampfes zu vertuschen und bald diese, bald jene Form des Kampfes hervorzuheben (…). Die Kapitalisten teilen die Welt unter sich nicht etwa aus besonderen Schlechtigkeit, sondern weil die erreichte Stufe der Konzentration sie diesen Weg zu beschreiten zwingt um Profite herauszuschlagen«.

Unseren modernen »Antiimperialisten« nach wurde der deutsch-russische Vertrag den Frieden in Europa bringen. Mit Lenins Worten antworten ihnen alle revolutionären Kommunisten:
»Friedensbündnisse bereiten die Kriege vor und erwachsen ihrerseits aus den Kriegen, beide bedingen sich gegenseitig und erzeugen den Formwechsel des friedlichen und unfriedlichen Kampfes aus einem und demselben Boden der imperialistischen Verbindungen und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Politik«.

Nach einem Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren scheint dieser Text für die degenerierten Kommunisten von heute geschrieben zu sein. Nein der Scheel-Gromyko-Pakt bereitet nicht den Frieden vor, sondern den Krieg. In der Tat war die russische Wirtschaftsautarkie ein Faktor der Stabilität und sie hätte die massive Einfuhr westlichen Kapitals nicht überleben können, selbst wenn sie eine momentane Entspannung auf dem Markt der Kapitalien herbeiführt. Jedesmal wenn die Bourgeoisie eine Krise überbrückt, schafft sie bereits die Voraussetzungen für eine noch schwerere Krise. Auf der einen Seite ist der Pakt eine »Lösung« für die Bundesrepublik, auf der anderen Seite riskiert die DDR, dadurch stark geschädigt zu werden, denn ihre Handelsbeziehungen mit Russland werden durch die Konkurrenz ihrer »Schwester« nur zu leiden haben, soweit bis es wieder zu sozialen Unruhen kommen wird, wie 1953 in Berlin. Heute stellen die beiden »Deutschlands« einen der potentiellen Herde des dritten Weltkrieges dar, der ohne Zweifel viel gefährlicher ist als Vietnam oder der Nahe Osten.

»Der Imperialismus ist der Vorabend der sozialen Revolution des Proletariats« (Lenin)

Zwei Jahre nach Prag ziehen sich die russischen Panzer vor dem deutschen Kapital zurück Die Revolutionäre können sich nur freuen über diesen neuen Pakt zwischen Briganten wenn das Kapital keine Grenzen kennt, seien es auch die des Eisernen Vorhangs wird der Kampf des Proletariats sie genauso wenig kennen. Der neue deutsch-russische Vertrag wird dazu beitragen dem Proletariat die Augen zu öffnen über die Wirklichkeit des russischen Pseudosozialismus. Gerade durch die Beschleunigung der Handelsbeziehungen wird er die Bedingungen der Ausbeutung des Proletariats vereinheitlichen.

Mit Freude schliessen wir uns deshalb dem an, was Marx in seiner »Rede über die Frage des Freihandels« sagte:
»Aber im allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Er zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel«.


Source: »Internationale Revolution«, Nr.4, November 1970, S.25–29

Wir verweisen zu diesem Thema auch auf den in »Kommunistisches Programm« 1978 erschienenen Artikel »Drang nach Osten – Drang nach Westen« (sinistra.net)

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