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INTERVIEW MIT AMADEO BORDIGA (1970)


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Interview mit Amadeo Bordiga
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Interview mit Amadeo Bordiga

1.) »Im November 1917 nahmen Sie in Florenz an einer geheimen Versammlung der ›revolutionär-kompromisslosen‹ Strömung der sozialistischen Partei teil. Sie forderten die Sozialisten auf, die militärische Krise auszunutzen, die Waffen zu ergreifen und die Bourgeoisie entscheidend anzugreifen. Welches Ergebnis hatte ihr Vorschlag? War Ihrer Ansicht nach die revolutionäre Situation damals in Italien reif«?

»Ja, ich war in Florenz, im November 1917, auf der geheimen Tagung der ›revolutionär-kompromisslosen‹ Fraktion anwesend, die seit 1914 als Mehrheit die SPI [Sozialistische Partei Italiens] leitete. Der Parteivorstand war von dieser Zusammenkunft informiert worden und hatte ebenfalls Vertreter entsandt.
Es war jene Versammlung, wo ich erstmals mit Antonio Gramsci zusammentraf, der an meiner Darlegung grösstes Interesse zeigte. Ich habe auch heute noch den Eindruck, dass er, mit seinem wachen Verstand, meine radikalen marxistischen Thesen, die er das erste Mal zu hören schien, einerseits billigte und teilte, andererseits eine feine, präzise und polemische Kritik andeutete, wie es schon in dem grundsätzlichen Dissens zum Ausdruck gekommen war, der sich in der von mir geleiteten Wochenzeitschrift ›Il Soviet‹ und seiner Turiner Zeitschrift ›L’Ordine Nuovo‹ zeigte. Dieser Dissens war klar zutage getreten, seit wir in einem kurzen Artikel zur Erstausgabe der Turiner Zeitschrift unsere Grüsse übersandt hatten, gleichwohl wir darin feststellten, dass ihr ausgesprochener Konkretismus eine gradualistische Tendenz aufwies, die nach unserer Auffassung mit Sicherheit zu Konzessionen gegenüber einem neuen Reformismus und auch rechtem Opportunismus führen würde.
Meine Rekonstruktion des Kräfteverhältnisses bezog sich auch damals nicht allein auf Italien, sondern auf ganz Europa. Es ist klar, dass ich die Politik der französischen, deutschen etc. Parteien aufs schärfste verurteilte, welche die marxistische Lehre des Klassenkampfes offen verraten hatten, als sie zur unheilvollen Politik der Nationalen Einheit, der Heiligen Union und der Unterstützung der seitens ihrer Regierungen geführten Kriege übergegangen waren. Diese Verurteilung basierte auf der erbarmungslosen Denunziation des falschen Kriteriums, mit dem die Zustimmung zum Krieg der Entente gegen die Achsenmächte, in den unser geschworener Feind, der italienische Militärinterventionismus, eingetreten war, ideologisch gerechtfertigt werden sollte. Grundpfeiler unserer Position war, dass wir den Schwindel zurückwiesen, der darin bestand, dem demokratisch-parlamentarischen Typus bürgerlicher Regimes den Vorzug gegenüber den törichterweise feudal, autokratisch und reaktionär genannten Berlins und Wiens zu geben, wobei man über das Moskauer Regime höfliches Schweigen bewahrte. In Übereinstimmung mit meiner schon seit einigen Jahren entwickelten Aktivität in der Bewegung, legte ich die Marx-Engelssche Kritik dar, die zeigte, wie blödsinnig jene Perspektive war, die vom militärischen Sieg der Entente ein zukünftig demokratisches Europa erwartete.
Ich gebe gerne zu, dass meine damalige Position mit dem zusammenfiel, was Lenin als Defätismus und Negation der Vaterlandsverteidigung bezeichnete. Ich stellte die grossartige Perspektive dar, nach der die proletarische Revolution dort siegen könne, wo die Streitkräfte des jeweiligen bürgerlichen Staates durch die der feindlichen Staaten überwältigt werden würden; eine Prophezeiung, die die Geschichte im Russland des Jahres 1917 bestätigt hat. Ich gebe also zu, in Florenz vorgeschlagen zu haben, die militärischen Misserfolge des monarchistischen und bürgerlichen Italiens auszunutzen, um der Klassenrevolution Auftrieb zu geben.
Dieser Vorschlag entsprach nicht der damaligen Politik der Parteiführung, die an der unglücklichen Formel Lazzaris: ›Weder mitmachen noch sabotieren‹ festhielt, obschon die auf der Versammlung Anwesenden, die damals den linken Flügel der SPI bildeten, meinem Vorschlag offen zustimmten. Für uns war das Verdienst der SPI, der Kriegspolitik der Regierung die Zustimmung verweigert, ihr also weder das Vertrauen ausgesprochen noch die Kriegskredite bewilligt zu haben, keinesfalls ausreichend. Eine solche Linie konnte sich nicht auf die Aufforderung zur Sabotage ausdehnen, d. h. auf das, was Lenin dann ›Umwandlung des Staatenkrieges in den Bürgerkrieg‹ nannte. Die von mir befürwortete Perspektive war also, genau gesprochen, nicht die, dass in Italien die Bedingungen bereits reif seien, um die Macht der besitzenden Klassen bewaffnet anzugreifen, sondern die, die einen längeren Atem verlangte, was durch den Verlauf der historischen Ereignisse auch bestätigt wurde: sie sah vor, im Rahmen des europäischen Krieges den revolutionären Zusammenstoss an der dazu geeigneten Front (›dem schwächsten Glied der Kette‹ – Lenin) zum Ausbruch zu bringen, und dass der Funke mit Sicherheit auf die anderen Länder überspringen würde. Jenes scheinbare, falsche Verdienst der italienischen Partei, nämlich gleichermassen die Zustimmung zum Krieg als auch seine revolutionäre Sabotage zu verweigern, sollte – und zwar zum Zeitpunkt der Gründung einer neuen Internationale, die das schäbige Ende der II. aufwog – Serrati und seinen Anhängern auch weiterhin als Vorwand dienen, als sie sich dem Ausschluss der rechten (in Wirklichkeit sozialdemokratischen und auch sozialchauvinistischen) Reformisten widersetzten. Sie sahen die Forderung des Ausschlusses gar als Verbrechen an: keinesfalls sollte der einzige strategische Weg beschritten werden, der (seit Lenin, gerade nach Russland zurückgekehrt, seine klassischen Aprilthesen formulierte) den theoretischen Voraussagen und historischen Zielsetzungen des revolutionären Marxismus entsprach. Aus historischer Sicht ist jedenfalls erwiesen: hätten die in Florenz Versammelten einen Beschluss fassen müssen, hätten sie sich zweifellos der mutigen These angeschlossen, die Kriegspolitik und -aktion des kapitalistischen Staates mit allen Mitteln zu torpedieren. Da das Ergebnis einer solchen Basisbefragung für die Parteiorgane bindend gewesen wäre, hätten gemäss meines Vorschlages die notwendigen Massnahmen eingeleitet werden müssen. Aber man konnte nicht hoffen, dass der Parteivorstand dies tun würde, der sich bereits kompromittiert hatte, sowohl durch die Weigerung im Mai 1915 den nationalen Generalstreik gegen die Mobilmachung auszurufen als auch durch die erbärmliche Formel: ›Weder mitmachen noch sabotieren‹; ferner durch die Tatsache, gerade in dieser entscheidenen Phase des Krieges tolleriert zu haben, dass die sozialistische Parlamentsfraktion ihrem Anführer Turati folgte, der die Losung der Vaterlandsverteidigung mit dem Ausspruch: ›Das Vaterland liegt auf dem Grappa‹ ausgegeben hatte – ein Verhalten, dass sich von dem der französischen und deutschen Sozialverräter nicht unterschied«.

2.) »Im Jahre 1919 wurde Italien durch gewalttätige Demonstrationen erschüttert. Weshalb erwachte, trotz der sozialistischen Propagandatätigkeit und der numerischen Stärke der Partei, keine revolutionäre Volksbewegung? Waren die Massen bereit und vorbereitet zum Kampf? Weshalb wurde die revolutionäre Losung zum Entscheidungskampf nicht ausgegeben, woran fehlte es«?

»Nachdem der Krieg mit dem gerühmten, tatsächlich aber an Ergebnissen mageren Sieg von Vittorio Veneto vorbei war, verschlimmerte sich im ganzen Land die durch Not und wirtschaftliche Krisen gekennzeichnete Lage, die, wie jeder auch nicht-radikale Sozialist weiss, auf die Arbeiterschichten auch in sogenannten Friedenszeiten drückt, sich jedoch durch die Kriegsfolgen enorm verschlimmert. Es fängt mit dem gewaltsamen Herausreissen der Arbeiter aus ihrer vertrauten Umgebung, worin sie ihre produktive, wenn auch spärlich entlohnte Arbeit verrichten, an und endet damit, dass sie zusammen mit ihren Familien in tiefste Not geraten. Die unausbleibliche grosse Unzufriedenheit rief in den proletarischen Massen nicht die Wiedergewinnung jenes kollektiven historischen Bewusstseins hervor, das leider selbst die Partei schon vor langem verloren hatte; die Reaktion darauf bestand in der Rückkehr zu Forderungen und Rebellionen für unmittelbare, ökonomische Verbesserungen, etwas, was zwar den Boden unter den Füssen der Bourgeois erzittern liess, aber nicht schon deswegen in den Proletariern das notwendige Potential weckte, um den bewaffneten Kampf für den Sieg ihrer Diktatur aufzunehmen.
Wenn wir die Umstände heute auf eine präzise Formel bringen wollen, ist es nicht die, 1919 sei in Italien die sozialistische Revolution reif gewesen, sondern die folgende: Nach Ende des I. Weltkrieges hätten sich die proletarischen Parteien an die Spitze einer offensiven Bewegung setzen können, die es nur deshalb nicht gab, weil diese Parteien ihr eigenes theoretisches Vermögen und das ihnen eigene Zukunftsbild der historischen Kämpfe, die die kapitalistische Ära abschliessen, verraten hatten. Es war also der wirkliche Moment und entscheidende Wendepunkt, um die proletarische und sozialistische Bewegung wieder aufzubauen, indem ihre wahren theoretischen, programmatischen und strategischen Grundlagen wiederhergestellt werden. Es war diese Aufgabe, der sich Lenin und die KI [Kommunistische Internationale] ohne Zögern zuwandten und mit ihnen die Linke der italienischen Bewegung, die zeigte, und noch heute zeigen kann, sich ganz auf der historischen Linie der mit dem Manifest von 1848 begonnenen antikapitalistischen Weltrevolution zu befinden«.

3.) »Auf dem 16. Kongress der Sozialistischen Partei in Bologna, im Oktober 1919, intervenierten Sie als Führer der sogenannten ›wahlboykottistischen‹ Fraktion, die gegen die Teilnahme an Wahlen eintrat, um das revolutionäre Vorhaben nicht zu verwässern. Weshalb waren Ihrer Meinung nach diese beiden Richtschnuren unvereinbar? Und weshalb war die von Ihnen vertretene Linie vorzuziehen«?

»Auf dem 16. Kongress unterschied sich die kommunistische wahlboykottistische Fraktion von den anderen Richtungen nicht nur wegen des Vorschlags, nicht an den allgemeinen politischen Wahlen und dem daraus hervorgehenden Parlament teilzunehmen, sondern auch, weil sie die einzige war, die für die auf dem Gründungskongress der III. Internationale aufgestellten Thesen entschieden Partei ergriff. Eine der Hauptthesen dieses Kongresses, der im März desselben Jahres in Moskau stattgefunden hatte und die grossartige historische Erfahrung der Oktoberrevolution widerspiegelte, war die der politischen Machtergreifung, allerdings nicht mittels demokratischer bürgerlicher Formen, sondern durch die revolutionäre Diktatur des Proletariats und seiner marxistischen Klassenpartei. Die Perspektive einer grossen Wahlkampagne samt des vorhersehbaren Erfolgs der einzigen Partei, die sich dem blutigen und verheerendem Krieg wirklich entgegengestellt hatte, wurde von uns zurückgewiesen, weil sie die sich in den italienischen Massen entwickelnde Spannung ablenkte, die ihren Grund in den immensen Blutopfern auf den Schlachtfeldern ebenso wie in der die Nachkriegszeit kennzeichnenden Situation ernster wirtschaftlicher Krisen hatte. Sie stand also in klarem Widerspruch zu jeder Möglichkeit und Hoffnung, diese Spannung, diese weitverbreitete Unzufriedenheit in die einzige Richtung zu lenken, die, wie die Geschichte selbst lehrte, in den sozialistischen und revolutionären Weg einmünden konnte – und zwar nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa. Die Bewegung der boykottistischen Fraktion, von Anfang an in ganz Italien einheitlich verbreitet und organisiert, konnte den anderen Richtungen mit diesen grundsätzlichen Thesen nicht kommen, denn diese begnügten sich mit dem voraussichtlich grossen Wahlerfolg, der der Partei mit Hilfe der parlamentarischen Manöver vielleicht erlaubt hätte, die eine oder andere Massnahme durchzubringen, die die Not lindern und den Erwartungen der arbeitenden Massen hätte entsprechen können. Ein derartiges Ergebnis hätte bedeutet, die in der damaligen Situation positiven Aspekte definitiv zunichte zu machen und den einzigen Weg zu versperren, auf dem die ganze Bewegung der ausgebeuteten Klassen hätte Druck ausüben können: der Wiederaufnahme des wahren revolutionären Bewusstseins der Arbeiterklasse und ihrer Partei wären also grosse Steine in den Weg gelegt worden. In der Tat verurteilten die rechten Reformisten diese lebenswichtigen kommunistischen Thesen; und die grosse, sich ›maximalistisch‹ nennende Strömung konnte sich, auch wenn sie nicht rundheraus jene Prinzipien von sich wies, nicht vorstellen, diese ein präzises historisches Programm bildenden Prinzipien nicht nur in der Partei überhaupt, sondern auch in jedem ihrer Organe, sowie bei jedem ihrer einzelnen Mitglieder und Kämpfer durchzusetzen, da ja in Fällen klarer Opposition der Ausschluss aus den Reihen der Partei hätte erfolgen müssen. Nur auf einem solchen Wege jedoch konnte man eine neue internationale Bewegung rekonstruieren, die nicht Gefahr lief, die schreckliche Katastrophe vom August 1914 zu wiederholen, und die von der infektiösen Krankheit des sozialdemokratischen Opportunismus geheilt werden konnte.
Seit dem Kongress in Bologna hatte die boykottistische Fraktion die Forderung aufgestellt, die Einheit der Sozialistischen Partei zu brechen. Eben wegen der bedeutenden Zahl ihrer eingeschriebenen Mitglieder und der vorhersehbaren Wahlerfolge verleitete diese Einheit die Anhänger der Wahltaktik zu einem schwerwiegenden Irrtum: dass man nämlich in Richtung Sozialismus marschieren könne, obgleich man die Anwendung von Gewalt und bewaffneter Kraft ablehnt, ebenso wie die grossartige Massregel der Diktatur, deren Kernpunkt der ist, allen nicht aus Arbeitern bestehenden Schichten der Bevölkerung jedes Wahl- und demokratische Recht (wie auch das, sich frei zu organisieren und Propaganda zu machen) zu nehmen.
An dieser Stelle scheint es mir angebracht, an eine andere Tatsache zu erinnern, die mir selbst nach so langer Zeit von wirklicher historischer Bedeutung zu sein scheint. Die Hauptthese unserer Fraktion war nicht die des Antiparlamentarismus, sondern die der Spaltung der Partei: auf der einen Seite die revolutionären Kommunisten, und auf der anderen Seite die Revisionisten jener Marx’schen Prinzipien, die die unvermeidliche katastrophische Explosion und den Zusammenstoss der antagonistischen sozialen Klassen zum Inhalt haben. Diese Spaltung sollte vollzogen werden, schon bevor Bernstein seinen Feldzug begann. Um unsere Thesen der Bewährung auszusetzen, unterbreiteten wir den Führern der maximalistischen Fraktion, unter ihnen Serrati, Lazzari und Gramsci, einen präzisen Vorschlag, der den von ihrer Seite vorbereiteten Text durch einen einzigen, klar antirevisionistisch ausgerichteten Text ersetzen sollte. Laut diesem Entwurf hätten wir akzeptiert, nicht vom Boykott der Wahltätigkeit zu sprechen, während sie unserer Grundthese der Spaltung der Partei hätten zustimmen müssen. Unser Vorschlag wurde von den Maximalisten eindeutig abgelehnt. Ich möchte hier nochmals daran erinnern, dass Lenin, kurz nachdem er »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« geschrieben hatte, erklärte, einige Nummern des ›Soviet‹ erhalten und gelesen zu haben und unsere Bewegung als einzige in Italien anzuerkennen, die die Notwendigkeit der Trennung zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten verstanden habe«.

4.) »Auf dem internationalen Kongress 1920 stand Ihre ›wahlboykottistische‹ These gegen die Lenins. Seine Meinung wurde von den meisten geteilt und die Internationale beschloss die Teilnahme der SPI an Wahlen. Halten Sie den Beschluss auch heute noch für einen Fehler? Obwohl der Wahlausgang ein grosser Erfolg für die Sozialistische Partei war«?

»Zum II. Kongress der KI im Juni 1920 sandte die SPI, die sich als der KI bereits formell angeschlossene Sektion verstand, eine mit beschliessender Stimme ausgestattete Delegation, der Serrati, Bombacci, Graziadei und Polano (für den Jugendverband) angehörten. Ausserdem reisten in diesem Sonderzug Vertreter der Gewerkschaft, des Genossenschaftsverbandes und einige andere mit, die aber nicht zur Teilnahme am Kongress berufen waren. Als Vertreter der ›wahlboykottistischen‹ Fraktion war ich nicht Parteidelegierter; meine Teilnahme war von Lenin selbst gewünscht und organisiert worden – vermittelst eines Beauftragen in Italien, der mehrmals nach Neapel kam, um meine Reise, die über den Brenner, Berlin, Kopenhagen, Stockholm, Helsingfors und Reval nach Leningrad führte, vorzubereiten. Ich nahm von der ersten Sitzung an teil, in der Lenin eine denkwürdige Rede hielt. Aufgrund meiner besonderen Position war ich auf allen Sitzungen und in allen Arbeitskreisen mit nur beratender Stimme zugegen. Das EKKI und sein Präsident Sinowjew entschieden, dass ich als Koreferent in der Frage über den Parlamentarismus sprechen sollte: Hauptreferent war Bucharin. 1. Tagesordnungspunkt war jedoch die Diskussion der Beitrittsbedingungen. Das Ergebnis dieser Diskussion waren die berühmten ›21 Punkte‹, die einer Kommission, in der auch ich war, vorgelegt wurden; ich hatte so die Möglichkeit, den von Lenin aufgestellten 21. Punkt zu unterstreichen, der die Prüfung der Programme der einzelnen Parteien vorsah und für die italienische Partei, die zum Teil noch an das sozialdemokratische Programm von Genua aus dem Jahre 1882 gebunden war, von grösster Bedeutung war. Über dieses Thema sprach ich auch auf dem Plenum, wobei meine Anschauung im scharfen Widerspruch zu der der anderen Italiener und aller rechten Elemente stand. Die Parlamentarismusdiskussion wurde von Bucharin eröffnet, der seinen Thesenentwurf erläuterte; danach stellte ich meinen, gegen die Wahlbeteiligung gerichteten Thesenentwurf vor. Der Standpunkt Bucharins wurde von einer Erklärung Trotzkis unterstützt, andere folgten und auch Lenin kritisierte offen meine Thesen und ihre Begründungen. Er sagte u.a., wenn es eine wesentliche Aufgabe der revolutionären Partei sei, die Bewegungen und Manöver der feindlichen Mächte vorauszusehen, dann könne auf einen so wertvollen Beobachtungsposten, wie ihn das Parlament darstelle, nicht verzichtet werden; seine Ausführungen waren wie immer sehr kraftvoll.
Die grosse Mehrheit stimmte für die Teilnahme an den Wahlen, was für alle nationalen sozialistischen und kommunistischen Parteien, und nicht nur für die italienische Partei, bindend war. An den Wahlen 1921 nahm nicht nur die Sozialistische Partei Italiens teil – der nichts lieber war –, sondern auch die, kurz nach dem Moskauer Kongress gegründete Kommunistische Partei.
Jener Wahlerfolg war für die revolutionäre Bewegung von keinerlei Nutzen, wie es nach der Bucharin-Leninschen Linie, die sich vom Einzug ins Parlament eine revolutionäre Wirkung versprach, hätte sein müssen. Ich stellte mich dieser These damals entgegen und würde das auch heute wieder tun; vor allem nach der langen historischen Erfahrung, besonders in Deutschland, wo die Aufstände im Frühjahr 1921 und Herbst 1923 scheiterten und der von Moskau verfolgten Strategie Unrecht gaben. Noch mal zum Moskauer Kongress: ich selbst forderte nicht wenige Delegierte auf, meinen Thesen nicht ihre Stimmen zu geben, da sie sich der Wahltätigkeit mit Argumenten widersetzten, die nicht marxistisch waren, sondern mit libertären und gewerkschaftlichen Methoden symphatisierten und auch damals in Deutschland, England, Holland und in den USA Anhänger hatten. Wie schon gesagt, war in der Abstimmung über die Beitrittsbedingungen festgelegt worden, dass alle reformistischen und ebenso ›zentristischen‹ Richtungen (in Deutschland etwa die Anhänger Kautskys, in Italien Serratis und die Maximalisten) aus unseren Reihen auszuschliessen sind«.

5.) »Sie verlangten seit 1917 als erster den Ausschluss aller rechten, sogenannten reformistischen Strömungen. 1920 entschied die KI auch diesen Ausschluss. Weshalb wurde der Beschluss nicht in die Tat umgesetzt? Wie schwer wog diese Tatsache bei der Gründung der Kommunistischen Partei Italiens«?

»Die Nicht-Durchsetzung des Beschlusses ist eben dem Widerstand und der Verschleppungstaktik der Maximalisten anzulasten, die ihr zahlenmässiges Übergewicht in der Partei und somit auch auf dem sozialistischen Kongress in Italien, auf dem die Beschlüsse der KI nicht als Ganzes angenommen wurden, ausnutzen konnten. Die Tatsache war insofern positiv, als die neue Kommunistische Partei ohne reformistische und zentristisch-maximalistische Elemente gegründet werden konnte«.

6.) »Ihr Auftreten auf jenem II. Kongress in Moskau liess den Eindruck entstehen, dass ›Bordiga, ohne es auszusprechen, den Einfluss des sowjetischen Staates auf die kommunistischen Parteien, die Neigung zu Zugeständnissen, zur Demagogie, fürchtete und vor allem dachte, das bäuerliche Russland sei nicht in der Lage, die internationale Arbeiterbewegung zu führen‹. Stimmt diese Interpretation«?

»Diese Vorbehalte, die einer Schrift Victor Serges entnommen sind, bildeten tatsächlich einen Teil meiner Position. Ich denke noch immer, dass es ernste Schwierigkeiten in der Moskauer Führung gab, was in der Stalinschen Ära, nach Lenins Tod im Januar 1924, weitreichende Folgen hatte. Wie sich in den weiteren Polemiken der folgenden Jahre zeigte, war die Moskauer Strategie nicht immer von einer revolutionären Dynamik erfüllt, die dem kommunistischen Weltproletariat entsprochen hätte; gewiss unterlag sie den Einflüssen, die sich aus den Interessen eines mächtigen, auf sozial bäuerlicher und somit, nach Lenins eigenen Worten, ›kleinbürgerlicher‹ Basis gegründeten Staatskörpers ableiten. Wenn daher diese Bedenken auf dem II. Kongress durchschimmerten (wie z. B. in meiner letzten Wortmeldung nach Lenins Kritik), zeigt dies nur, dass unsere Strömung als erste die Gefahr einer Degenerierung der III. Internationale befürchtete und aussprach«.

7.) »1920 erreichte die landesweite Bewegung in Italien mit den Fabrikbesetzungen ihren Höhepunkt; eine Episode, die die Anstrengungen und Hoffnungen der kommunistischen Gruppe in Turin, der ›l’Ordine Nuovo‹ mit Gramsci, erfüllte. Waren auch Sie überzeugt, dass dieser Weg zur Revolution führen würde? Was trennte Sie zu dieser Zeit von Gramsci«?

»[…] Unsere Strömung kritisierte damals die Turiner Gruppe, denn wir negierten, dass sich die kommunistische Revolution mittels der Eroberung der Betriebe und der wirtschaftlich-technischen Leitung seitens des Arbeiterpersonals einleiten liesse, wie Gramsci meinte. Unserer Auffassung nach mussten die Arbeiter die Initiative nach der politischen Seite hin ergreifen, also die Polizeipräsidien und staatlichen Präfekturen angreifen, um so die grosse aufständische Bewegung anzubahnen, die, mittels des Aufrufs zum nationalen Generalstreik, zur Einsetzung der politischen Diktatur des Proletariats führen sollte. Eine Perspektive, die vom klugen und geschickten Führer der italienischen Bourgeoisie, G. Giolitti, offensichtlich gut begriffen wurde. Giolitti ignorierte die Forderungen der Industriellen, welche die Besetzungen mit Waffengewalt beendet sehen wollten. Dass sich die Industrieanlagen in Händen der Besetzer befanden, war für ihn gleichbedeutend damit, ihnen eine völlig unwirksame Waffe zu überlassen, um die Macht und Privilegien der kapitalistischen Minderheit bedrohen oder stürzen zu können. Andererseits hätte die Leitung der Produktionsmittel seitens der Arbeiter sicher nicht die Tür zu einem nicht-privaten Regime gesellschaftlicher Produktion geöffnet. Unsere taktische Linie war die, der proletarischen Partei den Einfluss und die Kontrolle über die traditionellen Gewerkschaftsorganisationen zu sichern und nicht schon die Kontrolle über die Fabrikräte und Abteilungsleitungen. Im Gegensatz zu Gramsci ging ich nie davon aus, dass Fabrikbesetzungen uns der sozialistischen Revolution näher bringen können«.

8.) »1920 wurde in Imola die kommunistische Fraktion der SPI gegründet. Welche Ziele verfolgte sie? War zu diesem Zeitpunkt die Spaltung schon beschlossene Sache«?

»Im Herbst 1920 fand in Imola eine Versammlung der Kommunisten statt, die vorbehaltlos alle Beschlüsse des II. Weltkongresses annahm; u.a. auch die Beitrittsbedingungen zur KI und demzufolge den Ausschluss der Reformisten aus der Partei. Anwesend war die ›Ordine Nuovo‹-Gruppe, ebenso wie die um ›Il Soviet‹, die öffentlich ankündigte, die ›wahlboykottistische‹ Fraktion aufzulösen, auf die These der Wahlenthaltung zu verzichten und diese Frage auf dem bevorstehenden Kongress der SPI nicht mehr aufzuwerfen – gleichwohl wir nicht ausschlossen, sie künftigen Kongressen der KI wieder vorzulegen, es sei denn, die Bucharin-Leninsche Linie für einen wirklich revolutionären Parlamentarismus würde einen praktischen Beweis ihrer Verwirklichung liefern. Die Gründung der ›kommunistischen Fraktion‹ der SPI wurde unter Zustimmung aller Delegierten aus Turin, Neapel, Mailand und anderen Städten beschlossen. Das Ziel war sicher nicht, die Stimmenmehrheit auf dem Livornoer Kongress zu erringen, sondern das Gerüst der Kommunistischen Partei zu errichten, was nur durch klare Spaltung zu bewerkstelligen war: auf der einen Seite die, die die Beitrittsbedingungen vollständig akzeptierten und praktisch durchführten, auf der anderen Seite die anderen; es war völlig klar, dass die zahlenmässig stärkere maximalistische Richtung dem Ausschluss Turatis und Genossen nicht zustimmen würde. Das Organ der kommunistischen Fraktion sollte ›Il Comunista‹ sein. B. Fortichiari und ich wurden mit den diesbezüglichen Aufgaben betraut. Ich erinnere mich gut daran, vor Livorno mit Serrati zusammengetroffen zu sein; ich machte ihm gegenüber kein Geheimnis daraus, dass wir dabei waren, die Kommunistische Partei Italiens zu organisieren – und nicht etwa einen Mehrheitserfolg auf dem sozialistischen Kongress vorbereiteten. Die Frage des Ausschlusses der Reformisten war auf dem Moskauer Kongress bereits entschieden worden, man musste den Beschluss nur noch diszipliniert in die Tat umsetzen, indem man alle Brücken zu ihnen abbrach – gleich, wie die Abstimmung in Livorno ausfallen würde. Auf dem Kongress in Imola war also schon beschlossen worden, dass, wenn wir der Abstimmung als Minderheit unterlägen, alle Kommunisten der Fraktion den Kongress und die SPI verlassen würden, um, ohne weiter Zeit zu verlieren, die neue KP als Sektion der KI zu gründen«.

9.) »Livorno steht für die Spaltung des Sozialismus und das Entstehen der Kommunistischen Partei in Italien. Warum trat Ihre Richtung so entschlossen für den Bruch ein? Welchen Glauben durfte man dem Einwand schenken, nach dem die Spaltung die Volksfront noch weiter schwächen würde«?

»Wie aus dem, was ich sagte, schon hervorging, bedeutete die Spaltung für alle Kommunisten der Fraktion, einen festen Grundpfeiler zu haben; in bezug auf die revolutionäre Perspektive gab es alles zu gewinnen, während die numerisch geringere Stärke nicht zu bedauern war. Das demagogische Argument, vor der Spaltung hätte die proletarische Front eine breitere Basis gehabt, war von allen Befürwortern der Spaltung – von Lenin bis zu uns – entsprechend behandelt und definitiv zurückgewiesen worden. Wir zögerten also nicht im geringsten, den Bruch vorzubereiten und durchzusetzen und ich bin froh und stolz, die unwiderrufliche Erklärung im Namen aller Kommunisten verlesen zu haben; wir verliessen daraufhin den sozialistischen Kongress in Livorno und im Hof des Theaters San Marco wurde die KP Italiens gegründet. Tatsächlich war die Entschlossenheit zum Bruch nicht bei allen gleich stark. Der Abgeordnete Roberto sprach rührende Abschiedsworte und wünschte eine baldige Wiedervereinigung aller Kräfte; meine offenkundige Missbilligung solcher Rührseligkeiten wurde z. B. von Gramsci nicht geteilt: er soll sich während der Versammlung im Hof hinter der Bühne aufgehalten und seiner Bestürzung Ausdruck verliehen haben. Andererseits dachte keiner von uns, dass die proletarische Aktion einer amorphen und zweideutigen ›Volksfront‹ übertragen werden könnte, einem Block also, in dem proletarische und mehr oder minder kleinbürgerliche Richtungen zusammenarbeiteten. Auch Gramsci dachte dies nicht, obwohl der Faschismus schon aufgetreten war. In einer solchen Front muss es notwendig ein Organ oder Komitee geben, demgegenüber sich die revolutionäre Partei diszipliniert hätte verhalten müssen: ihr wären also die Hände gebunden gewesen. Vor einem solchen Defätismus sind wir stets, damals wie in der post-faschistischen Situation, zurückgeschreckt«.

10.) »Die Kommunistische Partei schuf 1921 ihre militärische Organisation. Zur gleichen Zeit widersetzten Sie sich hartnäckig der Forderung – was viele für einen Fehler hielten –, sich die ›Arditi del popolo‹ zunutze zu machen. V. Ambrosini, der sich zu der Zeit in Deutschland aufhielt, bot an, sich an die Spitze jener Bewegung zu setzen und den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Warum lehnten Sie das ab? Gab es hierfür politische Gründe oder lag es an der ›Persönlichkeit‹, die den Vorschlag machte«?

»Auf dem Gründungskongress der KP Italiens wurde ein (aus 15 Mitgliedern bestehendes) Zentralkomitee ernannt, welches eine Exekutive berief: ausser mir Grieco, der auch der wahlboykottistischen Fraktion angehört hatte, Terracini, der vielleicht nicht als Vollblut-Ordinovist bezeichnet werden kann, dann Fortichiari und Repossi, dem das Gewerkschaftsbüro anvertraut war, dem alle von der Partei gebildeten Gruppen in den Arbeiterorganisationen angehörten. Fortichiari leitete den illegalen militärischen Apparat, dem die bewaffneten Abteilungen aller Ortsgruppen und Landesverbände der Partei und des Jugendverbandes angegliedert waren. Dieses Netz hatte auch die Aufgabe, die verschlüsselte Korrespondenz mit den kommunistischen Zentralen, sowohl inner- als auch ausserhalb Italiens, aufrechtzuerhalten und bestimmte Regeln anzuwenden, wobei das System der illegalen Anschriften in- und ausserhalb Italiens sorgfältig geheim zu halten war.
In der Zentrale kümmerten sich Grieco und ich um die Korrespondenz und die Richtlinien für die Redaktionen der drei täglich erscheinenden Parteizeitungen: der ›Ordine Nuovo‹ in Turin, ›Il Lavoratore‹ in Triest, und einige Monate später ›Il Comunista‹ in Rom, die ›Il Soviet‹ ablöste; ferner gab es in verschiedenen Städten Wochenzeitungen.
Noch bevor der Kapitän Ambrosini und die ›Arditi del popolo‹ ihre berühmte Unternehmung starteten, musste die Parteizentrale interne wie öffentliche Anweisungen geben, um ein Stadium zu beenden, in dem die interne Organisationsdisziplin gefährdet war (durch die ersten schwerwiegenden Gewalttaten der faschistischen Sturmtruppen provoziert). Arbeiterorganismen und -parteien, die aus Prinzip gegen die Anwendung von Gewalt und beseelt vom ›sozialen Frieden‹ waren, hatten den Vorschlag eines ›Friedenspaktes‹ mit den Zentren und Führern der faschistischen Bewegung gemacht. Die kommunistische Parteiführung warnte vor der ernsten Gefahr eines jeden Pazifismus, der auf der Ebene des sozialen Konflikts durch Übereinkunft zustande kommen sollte: sie erklärte öffentlich, den fraglichen ›Pakt‹ nicht anzuerkennen und intern gab sie Anweisung, dass keine kommunistische Organisation derartig verfängliche Friedensvorschläge auch nur im entferntesten akzeptieren dürfe. Nicht nur im Namen aller, den theoretischen und taktischen Traditionen treu gebliebener Kämpfer, sondern auch in dem zahlreicher junger Hinzugekommener, kann ich heute sagen, dass die damalige Antwort auf das Problem sich in die historische Linie einreiht: ich erinnere daran, dass wir etwas später auch die Beteiligung an den nationalen Befreiungskomitees ablehnten, ebenso wie das Partisanentum und die verschiedenen ›Volksfronten‹, die kurz darauf auch in Frankreich, Spanien und anderen Ländern Schaden anrichteten.
Nicht nur aus formellen, sondern vor allem tiefgehenden inhaltlichen Gründen schenkten wir Ambrosinis Vorschlag keinerlei Beachtung. Tatsächlich hat das Wort ›arditi‹ dieselbe Bedeutung, die es im I. Weltkrieg hatte, als es die nationalistischen und faschistischen Sturmbrigaden bezeichnete. Wenn jetzt diese neuen Truppenverbände auf den Mythos ›Volk‹ bezogen wurden, heisst das, in den alten anti-marxistischen Fehler zurückzufallen, d. h. den Misch-Masch, statt den Gegensatz zwischen den sozialen Klassen zu unterstreichen. (Was Ambrosini angeht, so durfte er nicht als Delegierter oder Kader der Kommunistischen Partei angesehen oder mit den spezifischen Organisationen unserer Partei verwechselt werden; ausserdem durfte man nicht Gefahr laufen, dass die lokalen kommunistischen Gruppen die wenigen, in unserem Besitz befindlichen Waffen Ambrosinis Leuten zur Verfügung stellen […])«.

11.) »Als Führer der Kommunistischen Partei wurden Sie beschuldigt, die faschistischen Kräfte unterschätzt zu haben, weil Sie sie als eine bürgerliche Erscheinung unter anderen ansahen, den Faschismus also 1921 nicht energisch bekämpften, als es noch möglich war, ihn zu schlagen. Warum bekämpften Sie statt dessen vor allem die Sozialisten, Maximalisten, Reformisten, die potentielle Bündnispartner gegen den Faschismus waren«?

»Unsere Strömung hat immer die These negiert, nach der man dem Faschismus einen aus der kommunistischen, maximalistischen und reformistischen Partei gebildeten Block entgegenstellen könne. Diese Tatsache bezieht sich nicht nur auf das Jahr 1921; wir haben die beiden aus der Mailänder Spaltung hervorgegangenen Parteien stets als gefährlichste Feinde angesehen, denn der Einfluss, den sie noch besassen, war klar jeder revolutionären Vorbereitung abträglich (siehe Römer Thesen 1922, Lyoner Thesen 1926). Lenin hatte bereits 1919 in einem Telegramm an die Führer der siegreichen ungarischen Revolution den schweren Fehler kritisiert, der darin bestand, die ungarischen Sozialisten zur Regierungsbeteiligung aufzurufen, und er sah darin den Grund für das Scheitern der Revolution. Die italienischen Kommunisten lehnten jedes Bündnis mit den Sozialisten ab, sei es während des Kampfes um die Machteroberung, wie auch nach einem möglichen Erfolg in diesem Kampf. Kommen wir zur Bewertung des historischen Phänomens des Faschismus. (Ich sprach über dieses Thema auf den Moskauer Kongressen der Jahre 22, 24 und 26.) Wir halten den Faschismus für eine der Formen – eine andere ist die Demokratie –, worin der bürgerliche Staat seine Herrschaft behauptet. […] Die Politik der ›starken Hand‹, die massive Unterdrückung der gepriesenen Rechte hat es schon oft gegeben, das Rezept stammt nicht von den Faschisten oder gar Mussolini. […] Wir teilten nicht die Theorie Gramscis und auch der Zentristen, die den Faschismus als Konflikt zwischen Agrar- und moderner Industrie- und Handelsbourgoisie darstellten. Sicherlich kann man die Agrarbourgeoisie mehr der rechten Bewegung zuordnen, die Industriebourgeoisie mehr den Parteien der politischen Linken. Die faschistische Bewegung indes richtete sich nicht gegen einen der beiden Pole, sondern hatte das Ziel, die Erhebung des revolutionären Proletariats zu verhindern, das gegen die Erhaltung aller sozialen Formen privater Wirtschaft kämpfte. Wir sagen seit vielen Jahren und ohne im geringsten zu zögern, dass man den Feind Nr. 1 nicht im Faschismus ausmachen kann, sondern dass das grössere Übel der ›Antifaschismus‹ darstellt, ein grösseres Übel, als es der Faschismus verursachen könnte, trotz aller Schäbigkeit. Der ›Antifaschismus‹ hatte einem Monster historisches Leben eingehaucht: nämlich einem grossen Block, der die ganze Bandbreite der kapitalistischen Ausbeutung und seiner Nutzniesser umfasst – von den grossen Plutokraten bis hinunter zu den lächerlichen Scharen von Halb-Bourgeois, Intellektuellen etc«.

12.) »Die letzten grossen Streiks gab es im August 22, vor dem ›Marsch auf Rom‹. Hielten Sie zu diesem Zeitpunkt, wo der Faschismus bereits an der Schwelle zur Macht stand, den Streik für eine geeignete Waffe, um der Situation zu begegnen und hielten Sie die Revolution noch für möglich«?

»Der letzte grosse Zusammenstoss zwischen proletarischen Gruppen und faschistischen, staatlich unterstützten Banden war in der Tat der grosse Streik vom August 22. Die Kommunistische Partei hatte, sowohl in ihrer Propaganda als auch auf den internationalen Kongressen, schon klar ausgesprochen, dass sie die Strategie des Bündnisses zwischen verschiedenen politischen Parteien für falsch hielt und für die gewerkschaftliche Einheitsfront, die Objekt schwerwiegender Polemiken war, eintrat. Die Linie, uns keinem Bündnis-Komitee o.ä. zu unterwerfen, verliessen wir niemals. Wir lehnten also jede politische Front oder Blockbildung ab, denn die daran beteiligten Parteien wären verpflichtet gewesen, sich dem zwangsläufig daraus hervorgehenden höchsten Befehlsorgan zu unterstellen; unsere Parteikräfte hätten so gezwungen sein können, auch in eine Richtung zu arbeiten, die im deutlichen Gegensatz zu unseren programmatischen Zielen stand – eine Sache, die für uns völlig inakzeptabel war. Eine politische Einheitsfront hätte zu einem, übrigens bereits zurückgewiesenen Bündnis mit Reformisten und Maximalisten geführt. Die gewerkschaftliche Einheitsfront dagegen hätte alle grossen Gewerkschaftsverbände einbegriffen: die organisatorische und propagandistische Arbeit war in dieser Hinsicht bereits weit fortgeschritten (›Arbeitsbündnis‹). Während der politische Block als parlamentarische Koalition zu der sogenannten ›Arbeiterregierung‹ (was wir, auch in Moskau, energisch bekämpften) führen musste, hätte die gewerkschaftliche Front die originär revolutionären und marxistischen Methoden des Streiks und des bewaffneten Bürgerkriegs anwenden können.
Kommen wir kurz zur Chronik jener bewegten Zeiten zurück. Während die rechten und opportunistischen Gruppen Druck ausübten, um das von uns abgelehnte Parteienbündnis zustande zu kriegen, berief die Eisenbahnergewerkschaft eine Versammlung von Vertretern aller Parteien und Gewerkschaften in Bologna ein. Zu dieser ziemlich suspekten Versammlung sandten wir keinen Repräsentanten der Partei, sondern einen Genossen, der die uns angehörigen gewerkschaftlichen Kräfte unter seiner Leitung hatte. Er brachte uns die erstaunliche Nachricht, dass die grösste Gewerkschaft, der Allgemeine Gewerkschaftsbund, erklärt hatte, über kein Kommunikationsnetz zu verfügen, um den nationalen Generalstreik zu organisieren. Angesichts dieser Haltung, die unter aller Kritik war, bot unser Genosse gemäss den Anweisungen des kommunistischen Exekutivorgans an, unser illegales Netz für die Verbreitung des Streikaufrufs, den der Gewerkschaftsbund formulieren sollte, zur Verfügung zu stellen. Der Gewerkschaftsbund nahm unser Angebot wohlweislich an, da sonst die Durchführung des Streiks von kommunistischer Seite aus organisiert worden wäre.
Kurz darauf nahm die Bewegung in ganz Italien starke und militante Formen an und den, übrigens drastischen, Massnahmen der gegnerischen Kräfte wurde massiv Widerstand entgegengesetzt. Einige Einheiten von Carabinieri-Regimentern wurden nach Ancona geschickt; bei Bari warfen mehrere Zerstörer der Kriegsmarine ihre Anker. Die die Stadt besetzt haltenden Arbeiterkräfte reagierten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und vollständiger Arbeitsniederlegung; der Zugverkehr, für die militärischen Bewegungen der Streit- und Polizeikräfte unentbehrlich, wurde lahmgelegt. Auf Parma, wo sich die Arbeiterviertel in Aufruhr befanden (Parma ist durch den Fluss desselben Namens geteilt), marschierten die Schwarzhemden, die unter dem Befehl des berühmten Mitglieds des Vierer-Kommandos, Italo Balbo, standen [faschistischer Führer, der 1922 den ›Marsch auf Rom‹ organisierte und 1923 General der neugebildeten faschistischen Miliz wurde]. Kürzlich wurde daran erinnert, dass die mutigen Arbeiter von Parma zur Zeit der ersten Atlantiküberquerung [Lindbergh, Mai 1927] mit Riesenlettern folgende Apostrophe auf die Deiche schrieben: ›Balbo, man hat den Atlantik überquert, aber nicht den Parma‹. Der wenige Meter breite Fluss hatte gereicht, die arbeiterfeindlichen Kräfte zu stoppen. Dies und anderes zeigt, dass die Streikbewegung damals nicht nur möglich, sondern auch sehr schlagkräftig war. Die Faschisten, obwohl staatlicherseits unterstützt, konnten den proletarischen Ansturm nicht schwächen. Der ›Marsch auf Rom‹, im Oktober, war nicht Folge des militärischen Sieges, sondern eines parlamentarischen Manövers, und der zukünftige Duce konnte die befürchtete Verhängung des Belagerungszustandes umgehen: gegen den Willen seiner Generäle nahm der König davon Abstand. Es waren diese Manöver von ausgesprochen parlamentarischem Charakter, die die proletarische Revolution erstickten, andererseits aber auch die angebliche Revolution der Schwarzhemden ad absurdum führten«.

13.) »Ende 1922, auf dem IV. Kongress der KI, sagten Sie gegen die Mehrheit, gegen Sinowjew und selbst Lenin, es sei falsch und überdies von keinerlei Nutzen, sich mit den Sozialisten zu vereinigen, um die Bildung einer Koalitionsregierung anzusteuern. Warum lehnten Sie die Fusion ab, als die Maximalisten sich bereits von den Reformisten getrennt hatten«?

»Es stimmt, dass zu dieser Zeit (Dez. 1922), als die Faschisten schon die Macht übernommen hatten, sich die Sozialistische Partei (die in Livorno die Mehrheit errungen hatte) in die maximalistische und reformistische gespalten hatte; es gab eine dritte Strömung, die Terzinternationalisten, welche mittels Vereinigung mit der Kommunistischen Partei in die III. Internationale einzutreten beabsichtigten. Es stimmt auch, dass die linken Kommunisten die von Moskau befürwortete Vereinigung sowohl mit den Maximalisten als auch den ›Terzinis‹ ablehnten. Auch letztere widersetzten sich den Resolutionen des II. Kongresses, den Thesen zur Taktik (Gewerkschafts-, Agrar- und koloniale Thesen), mit denen wir uns indes stets völlig einverstanden erklärt hatten. Man braucht nur an die von der SPI eingenommene Haltung bezüglich des berüchtigten ›Friedenspaktes‹ mit den Faschisten erinnern. Auf keinem Fall wollten wir deshalb dem Drängen der russischen Genossen nachgeben, in dem berühmten ›Vereinigungskomitee‹ mit den ›Terzinis‹ zusammenzuarbeiten, was auch beinhaltete, den bevorstehenden Wahlkampf gemeinsam zu führen. Damals wie heute erblickten wir in einer solchen Vereinigung keinerlei Zunahme an Kraft und Einfluss, weder qualitativ noch quantitativ, nicht mal in Hinsicht einer besseren Verteidigung gegen die Schläge der Reaktion«.

14.) »Ihre ›wahlboykottistische‹ Position wurde, im Zusammenhang mit der täglichen, praktischen politischen Taktik beschuldigt, die Partei zur Trägheit und Unbeweglichkeit geführt zu haben. Warum waren Sie immer gegen jede Aktion der Einheitsfront oder des Parteienbündnisses gegen den Faschismus? Wie bewerten Sie die, von den antifaschistischen Parteien 1923 und 24 entwickelte Tätigkeit«?

»Der ›Wahlboykott‹ bedeutete nicht Verzicht auf tagespolitische Tätigkeit, sondern auf eine ihrer technischen und praktischen Formen, also Wahltätigkeit und Parlamentarismus, und zwar, weil dies die ganze Energie und Dynamik der Partei absorbiert und abgezogen und die lebenswichtigeren Formen der politischen Klassenpartei lahm gelegt hätte. Die viel wichtigere Tätigkeit, also der offene und auch gewaltsame Kampf, war im Gegensatz dazu ein wirkliches Gegengift gegen die Unbeweglichkeit. Gefördert worden wäre die Trägheit eben durch eine Bündnispolitik mit anderen Parteien – darunter solchen, zu denen wir die materiellen Bande auf organisatorischem Gebiet gekappt hatten. Ein, nicht in verschleierter, sondern in pathologischer Form wiederentstandenes Bündnis hätten nicht mal unsere Anhänger und Parteimitglieder verstanden. Dass starker Widerwille dagegen bestand, sich in Wahl- oder parlamentarische Manöver einzulassen, zeigt z. B. die Tatsache, dass verschiedene Basisorganisationen forderten, man müsse ein internes Hilfsmittel finden, um bei unserer Ablehnung jener Taktik bleiben zu können, ohne die Pflicht zur Disziplin gegenüber den Beschlüssen der KI zu verletzen: Anfang 21 musste ich solche Forderungen in einem Artikel der Parteizeitung als unzulässig zurückweisen.
Die von den sogenannten antifaschistischen Parteien entwickelte Aktivität in den Jahren 23 und 24, besonders nach der Ermordung Matteottis, wiesen wir offen zurück, denn sie schuf die Grundlagen für eine Zusammenarbeit zwischen der Arbeiterbewegung und anderen eindeutig bürgerlichen Parteien. Hier wurde die Politik antizipiert, die heute die Struktur der italienischen Regierung – einschliesslich der völlig degenerierten KP Italiens – ausmacht: im Namen der ›Demokratie für Italien und Europa‹.
Für den linken Flügel der Partei sprechend riet ich A. Gramsci zum Verlassen der Kommunisten aus dem ›demokratischen‹ Parlament des Aventin: danach war es möglich, von der Bühne der ›faschistischen‹ Abgeordnetenkammer aus einige mutige und die Massen zum Kampf aufrufende Reden zu halten, die Mussolini zur Weissglut brachten; die kommunistischen Abgeordneten Grieco und Repossi wurden von den faschistischen Abgeordneten physisch angegriffen und aus dem Saal geworfen«.

15.) »Auf dem V. Kongress der KI 1924 sprachen Sie ausführlich über den Faschismus in Italien. Welche Auffassung prägte diesen Bericht? Wie beurteilen Sie den Faschismus ökonomisch, sozial und politisch«?

»Auf dem V. Kongress nahm ich die auf dem IV. Kongress entwickelten Argumente wieder auf. Ich zog die Formel der ›politischen Komödie‹ derjenigen des ›Staatsstreiches‹ vor, insofern die Schwarzhemden die bewaffneten Staatsorgane (die den real bestehenden Belagerungszustand nicht nutzen) nicht militärisch geschlagen hatten: Mussolinis ›Marsch auf Rom‹ bestand darin, die Strecke Mailand – Rom bequem im Schlafwagen zurückzulegen. Die soziale Basis des Faschismus lässt sich nicht nur, wie Gramsci sagt, in den agrarischen Schichten ausmachen, sondern schliesst die modernen industriellen Klassen ein; die Mitglieder der faschistischen Partei rekrutierten sich nicht nur aus den reichen, sondern auch aus den Mittelschichten«.

16.) »Aus welchen ideologischen und praktischen Gründen lehnten Sie es ab, 1924 als kommunistischer Abgeordneter zu kandidieren? Welche Folgen hatte dies innerhalb der Kommunistischen Partei«?

»Meine Nicht-Kandidatur hatte nicht mal nur ideologische Gründe (wie aus der wahlboykottistischen Position hervorging), sondern auch ein handfestes praktisches Motiv. Die Aufstellung der kommunistischen Kandidaten erfolgte nicht aufgrund persönlicher Initiative, sondern ein eigens dazu bestimmter Ausschuss der Partei wählte diese aus, und wie die Dinge lagen, hatte er nicht vor, mich aufzustellen. Es handelte sich also nicht um eine formal ausgesprochene Ablehnung meinerseits, auch wenn die Sache mir keineswegs unangenehm war. Die Partei nahm deswegen keinen besonderen Schaden – auch wenn die Zentristen der Parteiführung einwandten, dadurch einen Parlamentssitz zu verlieren, denn sie glaubten, dass ich aufgrund meiner Bekanntheit und rednerischen Fähigkeiten in einem Wahlkreis gewählt würde«.

17) »Was sprach nach dem Verlassen der kommunistischen Abgeordneten aus dem Aventin für den Wiedereintritt in die Abgeordnetenkammer«?

»Wie ich schon in der Antwort auf die 14. Frage erklärt habe, bedeutete die Aventin-Politik eine völlige Unterwerfung unter die bürgerlich-faschistische Reaktion. Diese Tatsache gibt unserer oben bereits erwähnten historischen Voraussage Recht, dass nämlich die verhängnisvollste Wirkung des Faschismus im Auftreten des anti-faschistischen Blocks besteht. Dessen doppelzüngige Politik konnte nur dazu führen, die Zukunft in Italien zu beherrschen und zu ersticken. Heute muss man feststellen, dass sich diese Voraussage leider als zutreffend erwiesen hat«.

18) »Weshalb lehnten Sie auch die Vizepräsidentschaft der Internationale ab, die Ihnen auf Vorschlag der sowjetischen Delegation angeboten worden war? Was hätte eine solche Wahl für Sie mit sich gebracht und welche Folgen hätte dies für die italienische Partei gehabt«?

»Die mir durch Sinowjew angetragene Vizepräsidentschaft lehnte ich ohne Zögern vor allem deshalb ab, weil ich nicht darauf verzichten konnte, meinen Kampf gegen die Bündnispolitik und gegen die Einheitsfront fortzuführen, beides von Sinowjew befürwortet. Ferner kannte ich die internen Geschehnisse der russischen Partei gut genug, um zu sehen, dass Sinowjew selbst seiner Ämter enthoben werden würde, um durch Bucharin, der der Stalinschen Politik ergeben war, ersetzt zu werden. Aufgrund meiner Arbeit in Moskau und nach einer lebhaften Diskussion zwischen mir und Stalin war ich damals vielleicht der einzige, der ahnte, dass die Stalinsche Repression Sinowjew und Kamenew die gleiche Behandlung angedeihen lassen würde wie Trotzki. Die beiden ersteren solidarisierten sich wieder mit Trotzki im November 1926, als in der Erweiterten Exekutive über die verderbliche Formel des ›Sozialismus in Russland‹ gestritten wurde. Mir war klar, dass diese Frage das Terrain des verzweifelten Kampfes bilden würde, der den Sturz der KI in den Abgrund eines neuen und schlimmeren Opportunismus abzuwehren versuchte«.

19.) »Wie erklärt sich die ideologische Übereinstimmung, die 1925 Gramsci an einen Liberalen, Gobetti, band und deren gemeinsame Grundlage der antifaschistische Kampf war«?

»Was das Verhältnis zwischen Gramsci und Gobetti angeht, kann ich sagen, dass ich mich einmal persönlich an Gramsci wandte, um ihn zu bitten, mir eine vollständige Ausgabe der von Gobetti geleiteten Zeitung ›Rivoluzione Liberale‹ zu besorgen. Ich wollte eine sorgfältige Analyse und gründliche Kritik vom Standpunkt der revolutionären Kommunisten aus entwickeln. Antonio ahnte, dass es meine Absicht war zu zeigen, dass jede Verständigung mit einem erklärten Liberalen, wie Gobetti, für eine gemeinsame Kampagne gegen den Faschismus unmöglich und gefährlich war. Mit seinem schönsten Lächeln antwortete er sofort: ›Tu das nicht Amadeo, ich bitte dich darum‹. Ich gebe zu, mich seiner stillen und freundlichen Aufforderung gefügt und niemals das geschrieben zu haben, was im Journalistenjargon als ›Verriss‹ des absurden revolutionären Liberalismus bezeichnet worden wäre. Die Neigung Gramscis, mit Gobetti zusammenzuarbeiten, lässt sich nur dadurch erklären, dass er fälschlicherweise folgende Taktik befürwortete: in Hinsicht auf die Perspektive einer künftigen italienischen Regierung dachte er, dass sich mit jeglichem Gegner und Kritiker Mussolinis Bande knüpfen lassen müssten. Eine Richtung, vor der ich damals wie heute einen heiligen Schrecken hatte. Wir waren nicht nur Genossen; mit Gramsci, der meine ganze Bewunderung hatte, verband mich auch eine innige Freundschaft. Eine politische Beziehung zwischen uns gab es zuletzt 1926, als wir mit anderen auf die Insel Ustica verbannt wurden. Bei den Diskussionen, die unsere Prinzipien und unsere Bewegung betrafen, kamen Antonio und ich oftmals stillschweigend überein, die Auffassung des jeweils anderen über das in Frage stehende Thema darzulegen, was uns in der Regel gut gelang, obschon keiner von uns beiden den eigenen Widerspruch zum Denken des anderen und der anderen Strömung abschwächen wollte. Offenkundig war aber, dass es sich um zwei unversöhnliche Auffassungen handelte; diejenige Gramscis nahm klar die Linie des antifaschistischen Parteienbündnisses vorweg, während meine sich dieser Linie äusserst energisch entgegenstellte«.

20.) »Auf dem Kongress in Lyon, Anfang 1926, ging die Führung der Italienischen Kommunistischen Partei an Gramsci über, während Sie in der Minderheit waren. Was war an dieser Niederlage geplant und beabsichtigt? Stimmt es, dass der Dissens zu Gramsci vor allem auf seiner Bewertung der Lage in Italien beruhte«?

»Auf dem illegalen Kongress in Lyon unterlagen wir von der Linken im Februar 1926 der vorherrschenden zentristischen Richtung Gramscis und Togliattis. Es war keine (nicht mal im Sinne der übrigens von uns nicht anerkannten internen Parteidemokratie) glasklare Niederlage – wir erkannten sie also weder an noch akzeptierten wir sie. Die angebliche Basisbefragung wurde mit Hilfe eines zumindest suspekten und zweifelhaften Prozederes durchgeführt. Nachdem ein Jahr lang ein Feldzug gegen uns geführt worden war und wir, nachdem das ›Verständigungskomitee‹ aufgelöst worden war, immer noch bezichtigt wurden, die Partei spalten zu wollen, gipfelte das Vorgehen darin, dass bei der Abstimmung alle Stimmenthaltungen der Zentrale zugeschlagen wurden. Es muss nicht betont werden, dass unsere Forderung, die KI darüber entscheiden zu lassen, in Moskau auf taube Ohren stiess, so dass der Sieg den Zentristen und Stalinisten zufiel, und die Leitung der italienischen Sektion Gramsci, Togliatti und ihren Freunden übertragen wurde. Unserem Einwand, dass eine angeblich demokratisch durchgeführte Befragung keinen Sinn habe, da die Parteiorganisation ihre Versammlungen unter dem erdrückenden Gewicht der virulenten faschistischen Diktatur abhielt, wurde keinerlei Bedeutung beigemessen.
Der Dissens mit Gramsci beruhte also nicht so sehr, wie ich schon dargelegt habe, auf der Bewertung der Situation in Italien als vielmehr auf der Bewertung der möglichen Entwicklungen. Wir teilten keinesfalls die Perspektive der Gramsci-Anhänger, die darin bestand, den Faschismus niederzuwerfen und danach aus den verschiedensten anti-faschistischen Parteien einen Block zu bilden, um eine demokratisch verfasste Regierung zu konstituieren, die das geschwächte Italien und seine Misswirtschaft wieder unter Kontrolle bekommt«.

21) »In den ersten Lebensjahren der Kommunistischen Partei gab es zwischen Ihnen und Gramsci eine bemerkenswerte politische Übereinstimmung; nach 1922 jedoch begannen Sie, uneinig zu werden und der Streit gipfelte 1930 in dem Ausschluss aus der Partei. Welches waren die Hauptpunkte in diesem Streit? Welche Gründe hatte der Ausschluss«?

»Gramsci und ich waren uns in jener Periode einig, in der die Organisation der kommunistischen Fraktion innerhalb der alten Sozialistischen Partei vorbereitet wurde und auch noch danach, als es darum ging, die auf den ersten Kongressen der KI festgelegten Leitsätze anzuwenden, d. h. die Spaltung der SPI herbeizuführen und die KPI zu gründen. Unsere Konvergenz bestand darin, den historischen Verlauf der II. Internationale gleich zu bewerten, in deren Innern, wie man damals sagte, ›zwei Seelen‹ lebten: eine revolutionäre und eine reformistische oder gradualistische. Beide dachten wir, dass die Lösung dieses Widerspruchs nur durch die Trennung in zwei verschiedene Strömungen erfolgen könne.
1922 erwartete ich infolge dieser organisatorischen Spaltung eine Phase des offenen Kampfes zwischen den beiden Parteien: derjenigen, die der Perspektive der revolutionären Katastrophe folgte, woraus der Zusammenbruch der kapitalistischen sozialen Einrichtungen hervorgehen sollte, und der anderen, die es mittels der Anwendung legaler Mittel für möglich hielt, das bürgerliche Regime während einer langen Entwicklungszeit und mit Hilfe gradueller Veränderungen ihrer inneren Struktur zu reformieren. Gramsci hingegen erwartete nicht den offenen Kampf zwischen den beiden Strömungen, sondern begann, auf eine Dynamik zu setzen, die das Entstehen neuer Klassenparteien aus der Zersetzung der alten bewirken sollte. Es lag auf der Hand, dass jede der beiden, aus der Spaltung hervorgehenden Parteien mit einer geringeren Anzahl Mitglieder und Kräfte rechnen musste, weshalb er anfing, die Auffassung zu akzeptieren, es sei opportun, die beiden Flügel in einer gemeinsamen Aktionsfront, in der sowohl legale wie illegale Mittel angewendet werden sollten, strukturell wieder zusammenzufassen.
Diese historische Formel, die ich stets und überall als töricht zurückwies, wurde in dem nicht sehr eleganten Satz ausgedrückt: ›Getrennt marschieren, vereint schlagen‹. Gramsci meinte also, dass wir eine sehr viel stärkere Partei hätten, wenn wir ein Bündnis mit der SPI oder auch ihrem starken linken Flügel (wie Moskau vorschlug) schliessen würden. Meiner Ansicht nach zeigt dies nur, dass Moskau seit damals vom revolutionären Weg abwich. Im Fortgang der Episoden, die den Zusammenhang dieser Fragen und Antworten bilden, waren viele Streitpunkte zwischen Gramsci und mir bereits deutlich geworden. Ich möchte sagen, dass diese ihren Ursprung in einem einzigen Dissens hinsichtlich der Quelle der Ideologie haben – ich könnte auch sagen, der Philosophie, die die Flamme der Klassenrevolution entzündet. Auf dem Lyoner Kongress hielten wir beide etwa siebenstündige Reden, in denen wir unsere Lösungen zu den Fragen, die sich zu den verschiedenen Tätigkeitsbereichen stellten, darlegten. Am Schluss erklärte ich, mich an Antonio wendend, dass man nicht das Recht habe, sich Marxist oder historischer Materialist zu nennen, bloss weil man als Rüstzeug der Partei bestimmte Thesen in bezug auf die gewerkschaftliche, ökonomische Aktion, oder parlamentarische Taktik oder in bezug auf Fragen der Rasse, der Religion, der Kultur, annehme; sondern dass dazu eine Auffassung des Universums, der Geschichte und der Aufgabe des Menschen in ihr notwendig sei. Antonio, der zugab, diese grundsätzliche Schlussfolgerung zum ersten Male wahrzunehmen, stimmte ihr zu. Aber in dieser Chronik der Beziehungen zwischen Gramsci und mir ist nicht der Ursprung meines Parteiausschlusses, und also auch des Ausschlusses aus der KI, auszumachen. In dieser Zeit wurde ich auch aus der Verbannung entlassen, und die einzige Meldung über das Vorgehen gegen mich musste ich der bürgerlichen Presse entnehmen, in der geschrieben stand, der Grund meines Ausschlusses sei die Weigerung, einer Einladung zum Moskauer Kongress Folge zu leisten. Ich verfügte nicht über die Kommunikationsmittel, um mich zu verteidigen; jedenfalls erklärte ich und wiederhole es hier, dass weder die Moskauer Zentrale noch die der italienischen Partei mit einer solchen Aufforderung an mich herangetreten waren. Hätte ich die Einladung bekommen und wäre es praktisch möglich gewesen ihr nachzukommen, hätte ich sie abgelehnt, ebenso wie ich es in Lyon, im Einverständnis mit allen meinen Genossen der Linken, abgelehnt hatte, zum Führungskader der italienischen Partei zu gehören. Am VI. Weltkongress 1928 nahm ich nicht teil. Ich erfuhr später, dass eine neue politische Taktik (Schlagwort vom ›Sozialfaschismus‹) befürwortet worden war, d. h. sowohl die faschistischen, als auch sozialdemokratischen Parteien wurden zu Gegnern Moskaus und des Kommunismus erklärt und die Taktik der Einheitsfront somit verurteilt. In der offiziellen kommunistischen Presse konnte man später lesen, dass diese Taktik von der italienischen Linken bereits 1921 antizipiert worden war«.

22.) »Sie wurden beschuldigt, nicht flexibel zu sein, unfähig, die Aktion den Umständen anzupassen, ›zur Sektenbildung neigend‹. Wie antworten Sie auf solche Einwände Lenins und anderer«?

»Wenn eine Beurteilung meiner Eigenschaften und Betätigungen nach so langer Zeit zuverlässig wäre, würde ich heute sagen, dass ich die Bezeichnung des ›Sektierers‹ gern annehme; ferner bestätige ich, niemals flexibel gewesen zu sein, ebenso wie ich unfähig war, mir aufgrund der Wechselfälle der politischen Situation und der Kräfteverhältnisse ›elastische‹ Entwicklungen einreden zu lassen. Die Anschuldigungen des Sektierertums bekam ich oft zu hören, aber sie haben mich nie vom Weg, von dem ich überzeugt war, abgebracht. Die Anschuldigungen kamen weniger von Lenin als von seinen wortgetreuen Nachahmern, die vielleicht willens, aber doch sehr weit davon entfernt waren, den Inhalt seines Denkens zu erfassen. Wenn es stimmt, dass man der Klassenrevolution nicht durch ein banales konspiratives Komplott näher kommen kann, wie es in den Revolutionen der Fall ist, die nur darauf abzielen, einen Führer durch einen anderen zu ersetzen, muss man auch erkennen, dass es besser ist, wenn die Klassenpartei die strenge Form einer ›Sekte‹ annimmt, als wenn sich das durch Disziplin geprägte Verhältnis innerhalb ihrer starken zentralisierten Organisation in eine lose Bindung auflöst, wo einzelnen oder Gruppen immer wieder erlaubt ist, unkontrollierte und improvisierte Aktionen auszuprobieren und vorzuschlagen: Aktionen, die trügerischerweise zweckmässig zu sein scheinen, weil sie sich den mit politischem Geschick Begabten als durch ›neue Umstände‹ bedingte Opportunität darbieten. An die Stelle der unflexiblen Ernsthaftigkeit, der der revolutionäre Kämpfer verpflichtet ist, tritt so eine Reihe akrobatischer Wendungen – was nichts weiter als eine beleidigende Parodie auf das Andenken Lenins ist, da man den Respekt vor der ›Elastizität‹ von Manövern mit einer derartigen Reihe erbärmlicher Umschwünge verwechselt, die nur schwache und dumpfe Schüler gewagt haben, Lenin zuzuschreiben«.

23.) »Eine andere Beschuldigung, die Sie Ihr ganzes Leben lang begleitet hat, ist die, den politischen Kampf in seiner Abstraktheit betrachtet zu haben, da Sie eine Denkweise hatten, die als ›doktrinärer Schematismus‹ bezeichnet wurde. Dies habe dazu geführt, schwere Fehler zu begehen. Inwieweit erkennen Sie diese Analyse als richtig an? Oder weisen Sie sie völlig zurück«?

»Ich weise diese angebliche Analyse zurück, auf die sich die Frage bezieht und deren Formulierung meiner Denkweise nicht entspricht, ebensowenig wie der Stellung, die ich im politischen und sozialen Kampf bezog, noch ist sie objektiv korrekt. Wenn man sich einer Klassenbewegung oder der marxistischen Theorie anschliesst, sind die im Kampf befindlichen Klassen (heute die kapitalistische Bourgeoisie und das Lohnproletariat) nicht auf konkrete Kategorien reduzierbar und sind auch nicht als solche darstellbar, wenn die Dynamik des Kampfes und des Klassenantagonismus wiedergegeben werden soll; die gegeneinander kämpfenden Klassen sind vielmehr als abstrakte Begriffe zu fassen, die sich auf erfahrbare soziale Tatsachen beziehen. Den Imperativ des Abstrakten aufgegeben und durch jenen einfachen und geschmeidigen des Konkreten ersetzt zu haben, stellt den verhängnisvollen Fehler derer dar, die sich anboten, Führer der proletarischen Bewegung zu sein (obgleich sie im marxistischen Sinn zu ›Verrätern‹ der Klasse wurden, aus der sie kamen). Dass ich mich von Anfang an und aus Gründen, die notwendig dem physischen Leben der Bewegung, der ihr Skelett bildenden Propaganda- und Agitationsarbeit inhärent sind, auf die feste Position des Abstrakten gestellt habe, ist, so glaube ich, mein wirkliches Verdienst, wenn man mir denn eins zuerkennen will. Weiter glaube ich, dass die, die den Mund mit dem tückischen Begriff des Konkreten voll nahmen, den Weg des Opportunismus (deren Welle uns 1914 mitriss) gewählt haben, insofern sie diesem Krebsgeschwür der menschlichen Geschichte und revolutionären Energie einen weiteren Aufschub gewährten. Nach dieser klaren Unterscheidung kann ich, scheint mir, zu Recht behaupten, dass ein zwischen Spitze und Basis fest transmittierter doktrinärer Schematismus ein unersetzliches Merkmal im Leben der kommunistischen Partei ist und somit auf dem richtigen Weg liegt, um gegen die Degenerierung der revolutionären Weltbewegung zu kämpfen: ich bin stolz, diesem Zweck mein nicht kurzes Leben gewidmet zu haben«.


Source: »Una intervista ad Amadeo Bordiga«, in »Storia Contemporanea«, Nr. 3, September 1973 [Dieses schriftliche Interview führte Edek Oser im Sommer 1970 mit Bordiga, wenige Monate vor seinem Tod. Die Übersetzung ist leicht gekürzt] [Übersetzung: Kollektiv H].

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