IBKL – Internationale Bibliothek der Kommunistischen Linken
[home] [content] [end] [search] [print]


THESEN ZUM PARLAMENTARISMUS DER KOMMUNISTISCHEN WAHLBOYKOTTISTISCHEN FRAKTION DER SPI


Content:

Thesen zum Parlamentarismus der kommunistischen wahlboykottistischen Fraktion der SPI
Source


Thesen zum Parlamentarismus der kommunistischen wahlboykottistischen Fraktion der SPI

1. Die politische Vertretungsform der kapitalistischen Ordnung ist der Parlamentarismus. Die prinzipielle Kritik der marxistischen Kommunisten am Parlamentarismus und der bürgerlichen Demokratie im allgemeinen weist nach, dass das allen Bürgern aller gesellschaftlichen Klassen zugestandene Wahlrecht nichts daran ändern kann, dass der gesamte staatliche Regierungsapparat als Verteidigungsausschuss für die Interessen der herrschenden kapitalistischen Klasse fungiert und sich der Staat als historisches Kampfinstrument der Bourgeoisie gegen die proletarische Revolution organisiert.

2. Die Kommunisten bestreiten die Möglichkeit, dass die Arbeiterklasse die politische Macht durch die Mehrheit der Parlamentsmandate erobern könnte. Allein der bewaffnete revolutionäre Kampf wird zu diesem Ziel führen. Die proletarische Machteroberung, die Ausgangspunkt des kommunistischen ökonomischen Aufbaus ist, führt zur gewaltsamen und sofortigen Beseitigung der demokratischen Organe und zu ihrem Ersatz durch Organe der proletarischen Macht – den Arbeiterräten. Die Ausbeuterklasse wird auf diese Weise jedes politischen Rechts beraubt und die Diktatur des Proletariats, d. h. ein Regierungs- und Klassenvertretungssystem errichtet. Die Zerstörung des Parlamentarismus ist daher eine historische Aufgabe der kommunistischen Bewegung; mehr noch: die repräsentative Demokratie ist die Form der bürgerlichen Gesellschaft, die zuerst gestürzt werden muss, noch vor dem kapitalistischen Eigentum und dem Regierungs- und Verwaltungsapparat.

3. Das gleiche gilt für die Kommunaleinrichtungen; es ist theoretisch falsch, sie den Regierungsorganen entgegen zu setzen: ihr Apparat ist mit dem bürgerlichen Staatsmechanismus identisch. Sie müssen daher ebenfalls vom revolutionären Proletariat zerschlagen und durch lokale Sowjets der Arbeiterdeputierten ersetzt werden.

4. Während der Exekutiv-, Militär- und Polizeiapparat des bürgerlichen Staates die direkte Aktion gegen die proletarische Revolution organisiert, bildet die repräsentative Demokratie ein indirektes Verteidigungsmittel, denn sie verbreitet unter den Massen die Illusion, dass sich ihre Befreiung mittels eines friedlichen Prozesses verwirklicht und der proletarische Staat sich auch auf parlamentarischer Grundlage mit einem Vertretungsrecht für die bürgerliche Minderheit organisieren kann. Das Ergebnis dieses demokratischen Einflusses auf die Massen war die theoretische und praktische Korruption der sozialistischen Bewegung der II. Internationale.

5. Die Aufgabe der Kommunisten, die Revolution ideell und materiell vorzubereiten, besteht heute vor allem darin, das Proletariat von diesen Illusionen und eingefleischten Ansichten zu befreien, die dank der Liebedienerei der alten sozialdemokratischen Führer in seinen Reihen weit verbreitet sind und es von seinem historischen Weg abbringen. In den Ländern, in denen seit langem eine demokratische Ordnung besteht, die daher in den Lebensgewohnheiten und dem Denken der Massen wie auch dem der alten sozialistischen Parteien tief verwurzelt ist, hat diese Aufgabe eine herausragende Bedeutung und steht in der revolutionären Vorbereitungsarbeit mit an erster Stelle.

6. In der Periode, in der die Machteroberung durch die internationale Bewegung des Proletariats noch nicht greifbar war und von einer direkten Vorbereitung der Phase der proletarischen Diktatur noch keine Rede sein konnte, war die Teilnahme an den Wahlen und die parlamentarische Tätigkeit eines der Aktionsfelder für die kommunistische Propaganda, Agitation und Kritik. Ausserdem besteht in den Ländern, in denen noch die bürgerliche Revolution stattfindet und neue Institutionen hervorbringt, die Möglichkeit, dass Kommunisten in diesen sich noch herausbildenden Vertretungskörperschaften auf die Entwicklung der Ereignisse Einfluss nehmen, um jene Revolution in den Sieg des Proletariats einmünden zu lassen.

7. In den Ländern hingegen, in denen der Bildungsprozess der demokratischen Ordnung seit langem abgeschlossen ist, und in der heutigen historischen Periode (die mit dem Ende des Weltkrieges und all seinen Folgen für die bürgerliche Gesellschaftsordnung sowie der russischen Revolution als erstmaliger Verwirklichung der proletarischen Machteroberung und mit der Bildung der neuen, sich dem Sozialdemokratismus der Verräter entgegenstellenden Internationale eröffnet wurde) besteht indes keinerlei Möglichkeit, die Parlamentstribüne für die revolutionäre Arbeit der Kommunisten auszunutzen. Die Klarheit der Propaganda genauso wie die Vorbereitung des entscheidenden Kampfes für die Diktatur des Proletariats erfordern, dass die Kommunisten unter den Arbeitern für den Wahlboykott agitieren.

8. Da die revolutionäre Machteroberung unter diesen historischen Bedingungen zur zentralen Frage für die Bewegung geworden ist, muss die gesamte politische Tätigkeit der Klassenpartei diesem Ziel direkt entsprechen. Notwendig ist, den bürgerlichen Betrug aufzudecken, demgemäss jeder Zusammenstoss zwischen gegnerischen politischen Parteien und jeder Machtkampf nur im Rahmen des demokratischen Mechanismus, also durch Wahlen und Parlamentsdebatten, ausgetragen werden könne. Man wird aber diese Behauptung nicht als Lüge entlarven können, ohne mit der herkömmlichen Methode zu brechen, die Arbeiter zum Wählen aufzufordern (zu denen sie Seite an Seite mit den Mitgliedern der bürgerlichen Klasse gehen), und ohne mit dem Schauspiel Schluss zu machen, dass sich Delegierte des Proletariats mit den Delegierten seiner Ausbeuter auf demselben Terrain, dem des Parlamentarismus, bewegen.

9. Mit der ultraparlamentarischen Praxis der traditionellen sozialistischen Parteien hat sich die gefährliche Anschauung, nach der jede politische Aktion nur in der Wahl- und Parlamentstätigkeit bestehen kann, schon zu sehr verbreitet. Zum anderen hat der Widerwille des Proletariats gegenüber dieser verräterischen Praxis den syndikalistischen und anarchistischen Irrtümern, in denen die Bedeutung der politischen Aktion und die Funktion der Partei negiert wird, einen fruchtbaren Boden geschaffen. Aus diesen Gründen werden die kommunistischen Parteien mit der Propagierung der revolutionären marxistischen Methode keinen breiten Erfolg erzielen, wenn sie bei ihrer direkt auf die Diktatur des Proletariats und auf die Arbeiterräte zielenden Arbeit nicht jede Berührung mit dem bürgerlich-demokratischen Mechanismus meiden.

10. Die überaus grosse Bedeutung, die man in der Praxis den Wahlkämpfen und ihren Ergebnissen beimisst, die Tatsache, dass die Partei ihnen für einen ziemlich langen Zeitraum all ihre Kräfte und ihre Hilfsquellen an Menschen, Presse und finanziellen Mitteln widmet, trägt einerseits dazu bei, dass ungeachtet aller Versammlungsreden und theoretischen Erklärungen doch der Eindruck verstärkt wird, dass es sich dabei um die wirkliche Hauptaktion für die kommunistischen Ziele handelt; andererseits wird dadurch die revolutionäre Organisations- und Vorbereitungsarbeit fast völlig vernachlässigt und die Parteiorganisation nimmt einen technischen Charakter an, der mit den Anforderungen der legalen als auch illegalen revolutionären Arbeit völlig im Widerspruch steht.

11. In den Parteien, die sich durch Mehrheitsbeschluss der Kommunistischen Internationale angeschlossen haben, verhindern die weiterhin durchgeführten Wahlkämpfe die notwendige Aussiebung der sozialdemokratischen Elemente, ohne deren Beseitigung die Kommunistische Internationale an ihrer historischen Aufgabe scheitern würde und nicht mehr eine disziplinierte und einheitliche Armee der Weltrevolution wäre.

12. Schon der Charakter der Debatten auf den Parlaments- und anderen demokratischen Tribünen schliesst aus, von der Kritik an der Politik der gegnerischen Parteien zu einer Propaganda gegen das Prinzip des Parlamentarismus selbst, zu einer Aktion, die die Grenzen der parlamentarischen Verfassung überschreitet, überzugehen; man würde auch gar kein Rederecht erhalten, wenn man sich weigerte, sich allen Formalitäten des Wahlverfahrens zu unterwerfen. Der Erfolg der parlamentarischen Wortgefechte steht immer und ausschliesslich im Verhältnis zur Geschicklichkeit, mit der man die dieser Institution zugrundeliegenden Prinzipien und deren verfassungsrechtliche Spitzfindigkeiten zu handhaben versteht, ebenso wie die Wahlerfolge stets und ausschliesslich nach der Anzahl der erhaltenen Stimmen und Mandate beurteilt werden. Jede Anstrengung seitens der kommunistischen Parteien, der parlamentarischen Praxis einen vollständig anderen Charakter zu geben, wird nur zum völligen Verschleiss der dieser Sisyphusarbeit geopferten Kräfte führen können – statt sie sofort für die Sache der kommunistischen Revolution auf das Terrain des direkten Angriffs gegen das kapitalistische Ausbeutungssystem zu führen.


Source: »Tesi sul parlamentarismo presentate dalla Frazione comunista astensionista del PSI«, »Il Soviet«, Nr. 24, Oktober 1920

[top] [home] [mail] [search]