IBKL – Internationale Bibliothek der Kommunistischen Linken
[home] [content] [end] [search] [print]


DER ANGEKLAGTE BORDIGA HAT DAS WORT


Content:

Der Angeklagte Bordiga hat das Wort
Auszug aus der »Denkschrift« an das Gericht (15. 10. 1923)
Auszug aus dem Schlusswort des Angeklagten Bordiga (8. 11. 1923)
Source


Der Angeklagte Bordiga hat das Wort

Vorwort

Wenige Monate nach der Übernahme der politischen Macht durch die Faschisten, mit der die italienische Bourgeoisie ihre präventive Konterrevolution einleitete, begann der bürgerliche Staatsapparat seine offenen Repressionsmassnahmen gegen die Kommunistische Partei Italiens (KPI). Im Februar 1923 wurden die Gelder der KPI beschlagnahmt, ihre Presse verboten und die Mitglieder der Partei verfolgt. Innert einer Woche wurden alleine über fünftausend Kommunisten verhaftet. Auf direkten Befehl Mussolinis hin entging auch Amadeo Bordiga nicht diesem Schicksal.
Nach monatelanger Untersuchungshaft wurden im Oktober 1923 insgesamt 32 führende Kader der KPI vor Gericht gestellt. Vorgeworfen wurde ihnen unter anderem »Verschwörung zu einem Verbrechen«, »Aufstachelung gegen die Staatsgewalt«, »Aufruf zum Klassenhass«, »Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« etc. Für derlei Vergehen und Verbrechen sah die bürgerliche Gesetzgebung Strafen bis zu zwölf Jahren vor.
Allerdings hatte es die faschistische Staatsmacht versäumt den Prozess vor einer ausgesuchten Schar von Richtern zu veranstalten, wie es später Brauch wurde – und es auch heute bei politischen Prozessen in der demokratischen Bundesrepublik bevorzugt gehandhabt wird – und die 32 Angeklagten wurden – wider Erwarten und zum allgemeinen Erstaunen – freigesprochen. Erst im Jahre 1926 wurde, neben vielen anderen Kommunisten, auch Bordiga von der faschistischen Regierung verbannt, letzterer auf die Insel Ustica, später auf Ponzo…

Auszug aus der »Denkschrift« an das Gericht (15. 10. 1923)

Die theoretischen Prinzipien der Partei und der kommunistischen Internationale sind die des ökonomischen Determinismus, den Karl Marx gelehrt hat. Alle historischen und sozialen Ereignisse sind durch wirtschaftliche Faktoren bedingt. Durch sie ist die Gesellschaft in Klassen geteilt, deren Interessen einander entgegenstehen und die miteinander im Kampfe liegen: die Natur und der Verlauf der Klassenkämpfe bestimmen und erklären die politischen Ereignisse. In der augenblicklichen historischen Epoche findet der Kampf zwischen der kapitalistischen Klasse, die die Produktionsmittel besitzt, und dem Proletariat statt. Den Behauptungen der liberalen und demokratischen Theorie zum Trotz ist der Staat nur ein Kampforgan in den Händen der kapitalistischen Klasse, die über seine Macht verfügt, um sich ihre wirtschaftlichen Privilegien zu sichern. Das Studium der Geschichte und eine grundlegende Analyse der kapitalistischen Gesellschaft zeigen, dass der Kampf des Proletariats für seine Emanzipation unvermeidlich ist. Wie wird diese Emanzipation vor sich gehen? Alle Sozialisten sind sich darin einig, dass sie mit dem (notwendigerweise stufenweisen) Übergang von der Wirtschaft des Privateigentums zu einer auf Kollektiveigentum der Produktionsmittel gegründeten Wirtschaft kommen wird. Die kommunistische Lehre, deren Charakter wissenschaftlich ist, behauptet, dass eine solche wirtschaftliche Entwicklung erst beginnen kann, wenn die politische Macht vom Bürgertum auf das Proletariat übergeht; sie leugnet, dass ein solcher Übergang im Rahmen des parlamentarischen Systems möglich ist. Er setzt vielmehr einen gewaltsamen Zusammenstoss zwischen der proletarischen Klasse und dem bürgerlichen Staat voraus. Das Proletariat wird sich dann, wie das Kommunistische Manifest von 1848 sagt und wie es in Russland seit November 1917 geschehen ist, als herrschende Klasse organisieren. Damit beginnt die mehr oder weniger schwierige Periode, in der der Kapitalismus einer kollektiven Verwaltung den Platz räumen muss und in der die Teilung der Gesellschaft in Klassen und die Notwendigkeit des Staates als Zwangseinrichtung gegen die besiegte Klasse allmählich verschwinden wird.

Neben dieser theoretischen Konstruktion einer Reihe von Zukunftsaussichten gibt es ein positives Aktions- und Kampfprogramm der Arbeiterklasse in der Welt. Es ist eine grundlegende These des Kommunismus, dass das Organ dieses Kampfes, sein Gehirn und Ausgangspunkt, die politische Partei dieser Klasse sein muss, also die internationale Kommunistische Partei.

Kommt es von selbst zur sozialen Revolution oder löst die Kommunistische Partei sie durch ihre Initiative aus? Das ist, in einfachen Worten, das schwerwiegende Problem kommunistischer Aktion und Taktik. Ohne genauer auf die Frage einzugehen, können wir sagen, dass die Revolution keinen endgültigen Sieg davon tragen wird ohne eine Klassenpartei mit einem klaren ideologischen Bewusstsein und einer starken Organisation; dass aber andererseits die Partei den Augenblick des revolutionären Kampfes nicht frei wählen oder die notwendigen allgemeinen Bedingungen herbeiführen kann, aus denen die soziale Krisensituation hervorgeht.

Um diesen Punkt zu erhellen, der ständig von der kommunistischen Bewegung selbst studiert und untersucht wird, pflegt man zwischen den objektiven und subjektiven Bedingungen der proletarischen Revolution zu unterscheiden.

Die objektiven Bedingungen sind in den Gegebenheiten der allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Situation, im Grad der Reife der Revolution und im Grad der Stabilität des bürgerlichen Staates zu sehen; die subjektiven im Klassenbewusstsein, in der guten gewerkschaftlichen und politischen Organisation des Proletariats. Welche subjektiven Bedingungen sind nötig, um einen baldigen Sieg der Revolution voraussagen zu können? Die Meinungen hierüber gehen auseinander, aber alle Kommunisten lehnen jede voluntaristische Interpretation und Utopie ab und halten es für nötig, dass die Kommunistische Partei in immer grösserem Mass einen sicheren Einfluss auf die Masse des Proletariats ausübt, so dass sich daraus, über unseren Willen hinaus, günstige objektive Bedingungen ergeben.

Auch wenn man, von einem revolutionären Gesichtspunkt ausgehend, bei der Untersuchung einer solchen doppelten Ordnung von Bedingungen optimistisch verfährt, so ist klar, dass nach ihrer Realisierung sich die geschichtlichen Ereignisse derartig überstürzen würden, dass zwar die wichtige Arbeit der wachsenden Kommunistischen Partei sich auswirken muss, dass aber alle konspirativen Pläne und Übereinkommen »en petit comité« von der Bühne des Geschehens verschwänden.

Die Hypothese, die in den uns betreffenden Paragraphen des Strafgesetzbuches formuliert wird, entspricht also einerseits nicht genau der möglichen revolutionären Aufgabe der Kommunistischen Partei. Andererseits kann sie aber auch nicht eine defensive Haltung unsererseits motivieren, die in toto und prinzipiell unsere Bereitschaft und Fähigkeit verleugnen müsste, Handlung zu begehen, wie man sie uns heute, im Widerspruch zu der durch die Fakten bewiesenen Wahrheit, vorwirft.

Als Partei rechnen wir damit, am revolutionären Kampf teilzunehmen; andernfalls hätte unsere Partei keine Daseinsberechtigung; jedoch müssen wir, was den Begriff der »Verabredung zum Verbrechen« und die allgemeinen Ausdrücke für Verschwörungen usw. anbelangt, die obigen Vorbehalte anmelden.

Wenn allerdings eine historische Situation heranreift, die einen offenen und aussergesetzlichen Angriff auf die Staatsmacht mit sich bringt; so entziehen sich schon die Umstände, unter denen sich das Ereignis vollzieht, der Reichweite gerichtlicher Massnahmen und Strafen. Das Regime ist dann derart geschwächt, dass das geschriebene Recht in seiner politischen Anwendung schweigt und zugunsten der brutalen Faktoren der Kraft und des Erfolges abtritt. Und in der Tat ist vor dem Oktober 1922 kein gerichtliches Verfahren gegen die faschistische Partei angestrengt worden, obwohl sie bekanntermassen daraufhin arbeitete und plante, mit Waffengewalt die Macht zu ergreifen; dies ist ihr dann auch gelungen, und zwar durch ein Übereinkommen, das es ihr später ermöglicht hat, die Theorie und den Wortlaut der damals gültigen Gesetzgebung wiederholt und ungestraft zu verletzen. Dies ist eine Feststellung des Autors und nicht eine theoretische Verteidigung des augenblicklichen legislativen Systems. Damit soll gesagt werden: wenn die Kommunistische Partei eine Erhebung gegen die Staatsmacht vorbereitet, so geschieht dies unter gewissen Voraussetzungen, aus denen sich auch ergibt, dass in einer solchen Zeit kein Prozess gegen die Führenden angestrengt werden kann.

Die Geschichte lehrt und fordert dazu auf, revolutionären Bewegungen nicht mit dem allgemeinen Strafgesetzbuch, sondern mit Ausnahmemassnahmen und -bestimmungen zu begegnen, die gerade das mit Strafe bedrohen, was das allgemeine Gesetz im Bereich der politischen Aktivität der Bürger duldet und zulässt. Wenn die Staatsmacht, um eine revolutionäre Bewegung aufzuhalten, so lange zuwarten wollte, bis sie die letzten Beweise für ein Komplott gesammelt hätte, so würde sie, objektiv gesprochen, zu spät kommen, um ihre Gegner am Vorabend der Aktion zu entwaffnen; Aus alledem lässt sich schliessen – und das ist kein blosses Paradox –, dass dort, wo ein ordentlicher Prozess stattfindet, eine wirkliche Verschwörung nie existiert hat. Kommen wir zum Inhalt, d. h. zu den konkreten Feststellungen der Anklage: Es handelt sich um die italienische Situation vom Anfang des Jahres 1922 an bis zum Februar 1923 – so heisst es in dem Haftbefehl. Wir beziehen dabei den Zeitraum von der Gründung der Kommunistischen Partei (Januar 1921) bis zu den fraglichen Ereignissen ein.

Wie aus ihren grundlegenden Texten hervorgeht, sah und sieht die Kommunistische Internationale in der jetzigen, dem Weltkrieg folgenden historischen Periode ganz allgemein eine revolutionäre Periode. Die Hypertrophie und folglich die Zerrüttung des kapitalistischen Systems zeigen sich auf internationaler Ebene deutlich in den Kriegsfolgen und in der Unmöglichkeit, eine Friedensordnung zustande zu bringen.

Diese Krise halten wir für die »Endkrise« des Kapitalismus, wenn wir auch ihre Dauer und ihre Komplikationen nicht voraussehen können. In der letzten Zeit hat diese Krise jedoch eine besondere Form angenommen. Während die wirtschaftlichen Gegebenheiten keineswegs auf eine Überwindung der Krise hinweisen, ist es in den politischen Kräfteverhältnissen zu wesentlichen Verschiebungen gekommen.

Die Jahre 1919 und 1920 sahen einer Welle proletarischer Aktivität; doch zu einem dauerhaften Erfolg hat diese Tätigkeit nur in Russland geführt. In den anderen Ländern zeichnete sich vom Ende des Jahres 1920 an jene allgemeine Erscheinung ab, die von uns als »kapitalistische Offensive« bezeichnet wird. Die Bewertung dieser Erscheinung ist für die Richtung der kommunistischen Taktik entscheidend. Ich rufe sie in allgemeinen Zügen ins Gedächtnis, so wie sie in vielen Texten enthalten ist: in den Manifesten der Dritten Internationale, vor allem vom Ende des Jahres 1921 an; in den Manifesten unserer Partei, die vom August 1921 an veröffentlicht wurden, um ein allgemeines Vorgehen des Proletariats gegen die bürgerliche Offensive anzuregen, und auch in den Artikeln unserer Presse, in den kommunistischen Reden und Tagesordnungen der Gewerkschaftskongresse. All dieses Material ist in der Sammlung einer der italienischen kommunistischen Zeitungen der genannten Periode enthalten. (Leider erlaubt mir meine augenblickliche Lage nicht, diesem Text die interessantesten Auszüge aus den genannten öffentlichen Dokumenten beizugeben).

Angesichts der Aktivität des Proletariats, dem es jedoch an genügendem Bewusstsein und an Koordination fehlt, entdeckt die herrschende Klasse nach einer gewissen Zeit der Verwirrung, aber ehe das Proletariat irreversible Eroberungen gemacht hat, dass sie immer noch über politische und folglich auch militärische Kräfte verfügt, die mit Aussicht auf Erfolg zur Verteidigung ihres Regimes eingesetzt werden können.

Inmitten des Bürgertums machen sich Strömungen breit, die eine »starke Hand« predigen; Wirtschaftlich sieht der Kapitalismus die Lage folgendermassen: Vielleicht können wir versuchen, den bürgerlichen Wirtschaftsapparat vor dem Zusammenbruch zu retten und die riesigen Löcher zu stopfen, die Krieg und Krise in den Reichtum gerissen haben; dazu müssen wir aber über die Arbeit des Proletariats zu einem herabgesetzten Preis verfügen können. Daraus entsteht, von allen bürgerlichen Kräften koordiniert, ein systematischer Aktionsplan: politische Reaktion mit Hilfe der Staatsorgane und der ausserstaatlichen Miliz, Offensive der Unternehmer gegen die günstigen Tarifverträge, die von den Arbeitern unmittelbar nach dem Krieg durchgesetzt worden waren.

Das Ziel ist, nicht nur die subversiven Parteien zu zerstreuen, sondern auch die wirtschaftliche Organisation der arbeitenden Klasse.

Eine allgemeine Offensive also, die es nicht nur darauf absieht, den revolutionären Angriff zu lähmen, sondern sich vornimmt, das Proletariat von den errungenen Positionen zurückzudrängen und ihm jene Errungenschaften wieder zu nehmen, die ihm bereits eingeräumt werden mussten.

Diese offensive Wendung der herrschenden Klasse, vor allem dort, wo die Kommunistische Partei keinen Einfluss auf das gesamte Proletariat ausübt und wo seine Organisationen zum Teil von Sozialisten verschiedener Richtungen gelenkt werden, stellt die Kommunisten vor ein taktisches Problem. Die vorläufige Lösung ist der Verzicht auf die revolutionäre Offensive in einem Augenblick, da sie durch die Situation problematisch geworden ist; man sucht nach einem anderen Ausweg, der Aktion der Kapitalistenklasse zu begegnen. Dieser Ausweg besteht darin, alle Arbeiterorganisationen zu einem gemeinsamen Vorgehen zu veranlassen, um die von den Unternehmern bedrohten Errungenschaften und Rechte zu verteidigen. Die nichtkommunistischen Organisationen können sich der Verteidigung der unmittelbaren alltäglichen Interessen der Arbeiter nicht widersetzen, und wenn sie es täten, nähme der Einfluss der gemässigten Elemente ab, was die Kommunistische Partei stärken würde. Käme somit ein gemeinsames Vorgehen des Proletariats zustande, so würde die Behauptung seiner Stellung, trotz der Bescheidenheit der Ziele und Ergebnisse, zum Scheitern der Offensivpläne des Bürgertums führen, die – wie gesagt – das einzige ihm bleibende Mittel sind, um die Katastrophe seines Wirtschaftssystems abzuwenden. Das sind, in groben Zügen, Sinn und Zweck der ganzen Aktion und die Ziele der Kommunistischen Parteien in der letzten Zeit. Es ist im übrigen klar, dass wir hier nicht den Anspruch erheben, die Wahrheit aller oben genannten Thesen zu beweisen, sondern nur feststellen wollen, welches die Leitgedanken der kommunistischen Taktik waren und sind; man kann das in unserer gesamten politischen, schon genannten Literatur nachprüfen.

Damit kommen wir zur Tätigkeit der Kommunistischen Partei in Italien und zu ihren Aktionsplänen in den letzten Monaten.

In Italien hat sich die bürgerliche Offensive auf klassische Weise entfaltet. Der politische Einfluss des Proletariats hat gegen Ende 1920 seinen Höhepunkt erreicht; von da an begann sich die Lage umzukehren. Die proletarische Partei (PSI) hatte die günstigen objektiven Bedingungen wegen ihrer ideologischen Verwirrung und wegen der mangelnden Stärke ihrer Organisation nicht zu nutzen gewusst. Die Regierungen Nitti und Giolitti retteten die Lage, indem sie geschickt mit dem Verhalten der sogenannten Reformisten spekulierten, die im PSI den rechten Flügel bildeten und den Gewerkschaftsbund in der Hand hatten. Misserfolge und Enttäuschungen entmutigten das Proletariat, während das Bürgertum übermütig wurde. So entstand die faschistische Bewegung. Die Kommunisten hatten bis dahin den linken Flügel des PSI gebildet; sie hatten auf seine durch das Verhalten der Reformisten bedingte revolutionäre Unfähigkeit hingewiesen und auf die Unzulänglichkeit der »maximalistischen« Mitte, die sich leicht zu extremistischem Verbalismus hinreissen liess, ohne jedoch die realen Voraussetzungen einer revolutionären Entwicklung und die schwierigen Aufgaben, die sie mit sich bringt, zu kennen.

Am 21. Januar 1921 verliessen die Kommunisten auf dem Kongress von Livorno die alte Partei und gründeten die KPI, die italienische Sektion der Kommunistischen Internationale. Die Lage, vor die sich die neue proletarische Organisation gestellt sah, kaum dass sie sich einen Rahmen geschaffen hatte, war durch die Ausbreitung der bürgerlichen und faschistischen Offensive gekennzeichnet, deren Erfolge sowohl Reformisten wie auch Maximalisten ins Schwanken brachten.

Die Führer der italienischen Kommunistischen Partei, die innerhalb des Kommunismus selbst einer Tendenz angehören, die man als Linke bezeichnen könnte, waren von Anfang an der Ansicht, und sie haben dies bei zahlreichen Gelegenheiten erklärt, dass die Situation ein autonomes und offensives Vorgehen der Kommunistischen Partei ausschliesse, solange deren Einfluss hinter dem der anderen proletarischen Parteien zurückbleibe und solange sie nicht ihre Stellung in den von Reformisten beherrschten Gewerkschaften ausgebaut hätte.

Obwohl sie gegen die Manifestationen der bürgerlichen Offensive, sei es in Form von Gerichtsverfahren gegen die Gewerkschaften, sei es in Form faschistischer Aktionen und Angriffe, zum Widerstand mit allen Mitteln aufrief, gründete die Kommunistische Partei ihre Propaganda darauf, dass ein lokaler und von Fall zu Fall aufgebotener Widerstand nicht genügen kann, um den feindlichen Ansturm aufzuhalten und die elementarsten Rechte des Proletariats zu wahren. Im August 1921 schlug die Partei in einem öffentlichen Aufruf allen »roten« Gewerkschaftsorganisationen ein gemeinsames Vorgehen und die Verwirklichung eines nationalen Generalstreiks vor, der eine Reihe von präzisen praktischen Forderungen zum Ziel haben sollte, vom Achtstundentag bis zum Schutz der Tarifverträge und der Tarifhoheit der Arbeiterorganisationen.

In der gesamten Folgezeit war dies das Ziel der Arbeit und der Agitation der KPI.

Während der ganzen Kampagne haben wir immer wieder erklärt, dass wir uns strikt an dieses Aktionsprogramm halten würden, und dass unsere Strategie auch im allgemeinen nur die genannten präzisen Ziele verfolge und nicht den Sturz der Staatsmächte anvisiere. Es wurde sogar von Gegnern des Programms das nichtige Argument gegen uns ins Feld geführt, »Man dürfe einen Generalstreik nur machen, um die Revolution zu machen«. Die gesamte diesbezügliche Polemik, vor allem anlässlich der Nationalversammlungen der CGL (Verona, November 1921; Genua, Juli 1922) ist der Öffentlichkeit zugänglich. Es versteht sich von selbst, dass unsere Haltung auf wohldurchdachten taktischen Erwägungen beruhte. Wir hegten keineswegs den Wunsch, die augenblicklichen Staatsmächte möchten einen Tag länger als unvermeidlich notwendig an der Macht bleiben.

Die kommunistische Kampagne bestimmte auch den neugegründeten Arbeiterbund, obwohl dieser bekanntlich von Nichtkommunisten geleitet wurde. Unsere Haltung ihm gegenüber war konstant: Wir haben ihn mehrmals und öffentlich zur Aktion bei konkreten Anlässen aufgefordert und sein Zögern kritisiert; aber wir haben immer wieder unsere Verpflichtung eingehalten und uns niemals über seine Entscheidungen hinweggesetzt.

Der Generalstreik wurde vom Arbeiterbund zu spät ausgerufen: im August 1922. Wir haben von jeher gesagt, dass dieser Schritt getan werden müsse, bevor die Masse der Proletarier durch einzelne Kämpfe und Zusammenstösse verwirrt wäre, aber wir haben, obgleich wir mit der Gesamthaltung seiner Führung nicht einig waren, zugleich versprochen, den Weisungen des Arbeiterbundes zu gehorchen. Als der Streik von ihm abgebrochen worden war, protestierten wir, folgten aber weiter seinen Weisungen. Das geht aus einer ganzen Reihe von Berichten und Artikeln im »Comunista« vom Ende Juni und Anfang August hervor. Der Streik brachte bekanntlich, trotz der mutigen Haltung der Arbeiter, eine Verschlechterung der Lage des Proletariats mit sich; die Reaktion verstärkte sich und griff auch auf die letzten Provinzen des Landes über, bis sie Ende Oktober die Macht übernahm.

Aus den eben aufgeführten, unumstösslichen Fakten lässt sich leicht der folgende Schluss ziehen: die KPI hat auch zu einer Zeit, zu der das Proletariat wesentlich aktiver war als heute, nie verheimlicht, dass er sich den Sturz der Staatsmacht nicht zum unmittelbaren und nächstliegenden Ziel machen könne. Um so weniger konnte sie in der Folgezeit, erst recht nicht nach der Machtergreifung des Faschismus, derartige Aktionen voraussagen, vorbereiten oder planen. Es ist keineswegs konterrevolutionär zu erklären (und wir haben das, auf demagogische Posen pfeifend, auch erklärt, als wir nicht in der Situation von Angeklagten waren), dass die Leitung der KPI von ihrer Gründung an in Italien eine Machtergreifung durch das revolutionäre Proletariat nie als unmittelbare Möglichkeit in Betracht gezogen hat. Das nächstliegende Ziel der Parteiarbeit war es vielmehr, die politische Kraft des Proletariats zu stärken und zu bewahren, so gut es ging. Das haben wir getan.

Der von uns angeregte Generalstreik wurde den nichtkommunistischen Arbeitern als ein »Fussfassen auf einer solideren Plattform für künftige Aktionen« dargestellt. (Siehe hierzu die Manifeste vom 22. Juli.) Andere wichtige Umstände kommen hinzu, die zeigen, wie absurd die Hypothese ist, unsere Partei habe einen Aufstand gegen die Staatsmacht vorbereitet.

Nach dem Streik im August war es zur Trennung zwischen Reformisten und Maximalisten im PSI gekommen, und es stellte sich das Problem einer Vereinigung der letztgenannten mit den Kommunisten in einer grösseren und stärkeren Partei. Die Regelung einer für die Partei so grundlegenden Frage hatte den Vorrang vor jedem auch noch so bescheidenen Aktionsplan. Nachdem der letzte Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau (Dezember 1922) die Frage zugunsten einer Fusion entschieden hatte, war diese Entscheidung für unsere Partei endgültig, während sie in der sozialistischen Partei zu weiteren Auseinandersetzungen Anlass gab.

Es ist klar, dass in der Erwartung so grosser Entscheidungen unsere Partei (und es bestand keine direkte Zusammenarbeit mit der anderen Partei) eine grosse, politische Aktion, wie sie schon im Vorangegangenen als unwahrscheinlich dargestellt worden ist, unmöglich hätte auf eigene Faust planen können.

Mehr noch: in unserer Einschätzung der politischen Situation von der Machtergreifung der Faschisten an, wie sie in den Artikeln der uns damals noch verbliebenen Zeitungen zu finden ist, gaben wir einmütig und öffentlich zu, dass das faschistische Regime nicht von kurzer Dauer sein und dass nur eine langsame Krise desselben dem Proletariat die Möglichkeit geben werde, sein Organisationsnetz neu aufzubauen, um wieder eine Klassenaktion planen zu können. Das Ziel unserer Partei war es, soweit wie möglich seine Organisation, seine Propagandamittel, die Überzeugungen des ihm anhängenden Proletariats aufrechtzuerhalten.

In meinen Verhören habe ich bereits deutlich gemacht, dass auch zur Durchsetzung so beschränkter Ziele angesichts der Verfolgung der Partei die Gesamtheit der Hilfsmittel nötig sind, die man »illegale Arbeit« nennt, und dass eine Parteiarbeit, wie ich sie dargelegt habe, auf militärische Kader angewiesen ist, auf die finanzielle Hilfe unserer internationalen kommunistischen Organisation und auf andere Mittel und Formen der Aktion, aus denen wir nie ein Geheimnis gemacht, von denen wir vielmehr wiederholt in öffentlichen Berichten gesprochen haben.

Ein Einwand könnte mir allerdings gemacht werden: Wenn auch die ganze öffentliche Arbeit der Partei sich nach den oben dargelegten Direktiven der Führung richtete, so hätte es doch daneben eine weitere, geheime Tätigkeit geben können, mit anderen Zielen als denen, von denen in öffentlichen und offiziellen Berichten die Rede war.

Ein solcher Einwand ist aus zwei Gründen nichtig: Auch wer wenig von der Funktion der Kommunistischen Partei weiss, bemerkt doch sofort, dass die Heranbildung eines politischen Bewusstseins der breiten Massen ihr das Wichtigste ist, und dass unsere gesamte Theorie und Praxis im direkten Widerspruch zu dem Vertrauen in das Werk einer Elite von wenigen Eingeweihten steht. Wir halten zwar aus den bekannten Gründen die Technik und Mechanik der Parteiarbeit geheim, aber wir wissen, dass wir uns den grössten Katastrophen aussetzen würden, wenn wir den politischen Endzweck unseres eigenen Kampfes geheimhalten wollten.

Für die Kommunisten sind die den Massen öffentlich ausgegebenen Parolen von allergrösster Bedeutung. Wir nehmen jede Gelegenheit wahr, sie auf Kongressen, Versammlungen usw. über den Radius unserer Presse hinaus zu verbreiten. (Man denke an die Veröffentlichung des Manifests der Dritten Internationale gegen den Faschismus durch die Regierung und ihre Presseagentur.) Im Jahr 1917 unternahm die Kommunistische Partei in Russland ihre revolutionäre Agitation offensichtlich unter der Parole »Alle Macht den Sowjets«, was in der Tat das Ziel ihrer Politik war. In unseren Parteiakten könnte man zwar allerhand finden, was für den Aussenstehenden unverständlich wäre; aber dasselbe wäre der Fall, wenn wir von dem Archiv des Innenministeriums Besitz ergriffen. Aber eine Parole für eine andere, ausserhalb der hier behandelten politischen Linie liegende Agitation wird man dort nicht entdecken.

Wer glaubt, wir hätten, trotz einer so klaren täglichen Einsicht in die reale Lage und in die bestehenden Machtverhältnisse einen Coup gegen die Staatsmacht geplant oder auch mit solchen Ideen gespielt, der muss die Führer unserer Partei für Verrückte halten. Ich möchte meinen, dass es viele Beweise gegen eine so betrübliche Hypothese gibt. Ich fasse zusammen: die Kommunistische Partei verliert nie ihr Endziel aus den Augen, aber auf der Grundlage der jeweiligen Situation entwirft sie nicht das sogenannte »Minimalprogramm« der Reformisten, sondern einen Plan praktischer und konkreter Aktionen für die »sichtbare« Zukunft.

Während der Aktivität der KPI hat der Angriff auf die Staatsmacht niemals zur Debatte gestanden. Als wir verhaftet wurden, richtete sich unser Programm auf die Festigung der inneren Organisation, auf die kommunistische Propaganda mit den verfügbaren Mitteln und vor allem auf die Bemühung, die Presse wirksamer einzusetzen; hatte man uns doch die Gebiete der traditionellen Arbeit in den Gewerkschaften und Kooperativen, die Wahlarbeit usw. erheblich beschnitten.

Wenn die obersten Organe der Politischen Staatspolizei, denen der ganze Sachverhalt, den jeder politische Beobachter (gleich welcher Partei) auf den ersten Blick versteht, ganz gewiss bekannt ist, gegen uns Anklage wegen Verschwörung erhoben haben, so sind sie offenkundig nicht nur des Irrtums, sondern der bösen Absicht überführt.

In den niedrigen Rängen der Polizei sieht man Verschwörung in allem, was man nicht kennt und versteht. Man verwechselt die Schuld anderer mit der eigenen beruflichen Unfähigkeit oder zumindest mit dem Nichtbesitz der Allwissenheit. Wenn freilich unsere Verschwörung in der Unwissenheit der Polizei besteht, so ist es gewiss, dass die italienischen Kommunisten sich verschworen haben, sich verschwören und immer verschwören werden, solange man keine Röntgenstrahlen erfunden hat, um Gedanken in menschlichen Gehirnen zu lesen. In den höheren Rängen der Polizei folgt man dagegen der Politik der augenblicklichen Regierung, wohl wissend, dass diese Anklage unbegründet ist. Die augenblickliche Regierung drängt es, der Öffentlichkeit die Beseitigung jeder politischen, revolutionären Aktivität als Heldentat zu präsentieren. Dem leistet die Kommunistische Partei Widerstand, die schlecht behandelt und übel zugerichtet sein mag, die aber nie den Weg der Anpassung und der vorsichtigen Verstellung gehen wird, der notwendig ist, um den Gewalttätigen erträglich zu sein. Und um diese Partei zu zermalmen, die geschwächt ist, aber keineswegs willens, sich von den brutalen Gesten der triumphierenden Siegerpartei verwirren zu lassen, hat die Staatspolizei »im Auftrag« jede Anklage fabriziert, die gegen uns erhoben wird. Nun sind wir zwar bereit, eine historische Logik darin zu erblicken, dass die faschistische Regierung uns im Gefängnis hält, weil wir Kommunisten sind, und uns noch weit Schlimmeres antut: Wenn man aber behauptet, wir hätten eine Tat begangen, die wir nicht begangen haben, so weisen wir, ebenso wie wir alle Verantwortung für unser Tun fordern, diese falsche und bis zur Absurdität unwahrscheinliche Anklage zurück. […]

Auszug aus dem Schlusswort des Angeklagten Bordiga (8. 11. 1923)

Wir haben zu einer objektiven Diskussion des Falles beigetragen, ohne uns darum zu kümmern, wie Ihr Urteil ausfallen wird. Wir befinden uns, wegen der geringen Substanz der Anklage und anderer bekannter Umstände, in einer geradezu banalen Lage; und ich habe nicht um das Wort gebeten, um eine melodramatische Haltung einzunehmen, um als Märtyrer zu erscheinen, um »Reklame« für uns selbst zu machen. Wir glauben nicht, dass Märtyrer a priori das Recht auf ihrer Seite haben.

Tatsächlich leugnen wir, dass es jenseits der sozialen und politischen Trennungslinie Punkte der Verständigung, übereinstimmende höhere Wertungen geben kann; wir flüchten uns nicht in den Gedanken, den irgendein Anwalt der Verteidigung angeführt hat und der gewöhnlich bei politischen Prozessen auftaucht: den Gedanken, dass die Geschichte in letzter Instanz ihr Urteil spreche und den wegen seiner politischen Oberzeugung Verurteilten jedesmal freispreche. Nein, meine Herren! Es trifft zwar zu, dass die Geschichte in letzter Instanz über alle unsere Taten richtet, aber die Geschichte könnte auch jene Richter, die in einem politischen Prozess auf Freispruch erkennen, ungünstig beurteilen. Wir akzeptieren nicht die Meinung, dass man im Namen immanenter, absoluter Prinzipien jeden militanten Politiker, der vor Gericht steht, freisprechen muss.

Wenn wahr ist, woran wir mit wissenschaftlicher Sicherheit glauben, dass nämlich unsere programmatischen Perspektiven – nicht weil sie dem Haupt eines Gottes oder dem Haupt eines Helden entsprungene Ideen wären oder aus transzendenten Gründen in den Köpfen der Menschen wohnten, sondern weil sie mobilisierende Kraft haben und Energien freisetzen, die mit Sicherheit in der Entwicklung der historischen Realität zum Durchbruch kommen -: wenn sie wirklich die Zukunft der Gesellschaft darstellen, dann sind wir überzeugt, dass diese unsere Linie aller Verfolgung und jedem Urteil zum Trotz triumphieren muss. Wenn es dagegen wahr wäre, was heute unsere triumphierenden Feinde glauben, dass nämlich sie es sind, die den Schlüssel der Zukunft in ihren Händen halten und dass wir nicht nur materiell besiegt, sondern auch von der Eroberung der Geschichte von morgen ausgeschlossen wären, dann hätten Sie tatsächlich verblendete Schiffbrüchige vor sich, und keine Nachwelt könnte uns von diesem Urteil freisprechen.

Aber wir wissen, dass dies nicht die Zukunft ist; wir wissen, dass unsere Theorie auf festen Füssen steht und dass wir mit unseren Aktionen die Möglichkeiten zur Revanche finden werden; und nur deswegen, nicht im Namen der Gedankenfreiheit, nicht im Namen jener bürgerlich-demokratischen Lehre, die wir für ebenso falsch halten wie die Anklage, behaupten wir, dass unsere Verurteilung den künftigen Sieg unserer Partei nicht verhindern wird.

Wir glauben nicht an die Funktion von Märtyrern, Helden und »Eliten«. Wir fühlen uns als Vertreter einer politischen Partei, die die historische Mission der Arbeiterklasse erfüllen wird. Wir fühlen uns als Exponenten des Proletariats im unausweichlichen Konflikt zwischen den antagonistischen Klassen. Wir sind Werkzeuge, die diesem Kollektiv dienen. Man hat gedroht, uns das Rückgrat zu brechen: Wir werden, so gut wir können, Widerstand leisten, aber wir wissen nicht, was aus uns werden wird. Auch ein festes Werkzeug kann zerbrechen. Wir könnten uns vielleicht, was uns selbst betrifft, bequemere Verhältnisse vorstellen, aber das hat keine Bedeutung. Wichtig ist das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen uns und unseren Gegnern. In diesem Augenblick sind wir die Besiegten und Unterlegenen. Es kann sich für uns nicht darum handeln, mit den Abstraktionen eines leeren Liberalismus unser ideelles Recht auf Schonung zu verfechten: es genügt uns, ohne Übertreibung zu sagen, dass wir, heute frei oder später, weiterarbeiten werden, um die tatsächlichen, heute für uns ungünstigen Verhältnisse zu ändern und sie eines Tages umzukehren.


Source: »Il processo ai communisti italiani 1923. Gli arresti e l’istruzione. Il dibattimento e le arringhe. La sentenza.« A cura del C.E. del PCI. Roma 1924, deutsch in: »Freisprüche. Revolutionäre vor Gericht«, suhrkamp taschenbuch 111.

[top] [home] [mail] [search]