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DIE WESTDEUTSCHEN GEWERKSCHAFTEN: BÄNDIGUNG DER ARBEITERINTERESSEN


Content:

Die westdeutschen Gewerkschaften: Bändigung der Arbeiterinteressen
Ein Umriss der Entstehungsgeschichte des DGB und seiner Ziele
I. Gründungsphase des DGB 1945–1949
II. Die antikommunistische alte Garde des DGB
III. Gründung und erste Kampfphase des DGB 1949–51
IV. Die Zeit des »aktivistischen Reformismus«
V. DGB 1955–1965: Von scheinbarer Aktion zur offenen Integration
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Die westdeutschen Gewerkschaften: Bändigung der Arbeiterinteressen

Ein Umriss der Entstehungsgeschichte des DGB und seiner Ziele

Relativ spät als zentraler Kampfverband des Proletariats gebildet – 1890 Gründung der Generalkommission der Deutschen Gewerkschaften – machten auch die deutschen Gewerkschaften die charakteristische Verwandlung vom proletarischen Kampfverband zur Verteidigung ökonomischer Interessen hin zur allein die Ware Arbeitskraft verwaltenden Staatsgewerkschaft mit. Hier war natürlich die Entwicklung zum Faschismus von besonderer Bedeutung. Er vollendete das Werk, zu dem die opportunistische (sozialdemokratische) Partei- und Gewerkschaftsführung zumindest bis Mitte der Zwanzigerjahre nur schwerlich in der Lage war: die Ausschaltung jeglicher autonomen Klassenbewegung als Voraussetzung für die Festigung des kapitalistischen Herrschaftssystems. Denn mit der Ablösung des ADGB (Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund) durch die DAF (Deutsche Arbeitsfront) wurde keineswegs die Abschaffung der Gewerkschaften verfügt. Im Gegenteil, man verfocht und verwirklichte die Bildung eines neuen Gewerkschaftsnetzes unter der absoluten Kontrolle der konterrevolutionären Partei, mit dem Staats- und Verwaltungsapparat eng verstrickt, wie mit dem Anspruch auf Ausschliesslichkeit und Einheitlichkeit. Was die reformistische sozialdemokratische Partei- und Gewerkschaftsführung nach dem Ersten Weltkrieg dank starker revolutionärer Massenbewegungen nur unvollkommen bewerkstelligen konnte, wurde durch den Faschismus sowohl durch anfängliche rigorose Gewalt, aber auch besonders durch Übernahme alter reformistischer Forderungen vollendet.

Diese jahrzehntelange konterrevolutionäre Praxis zeitigte auch nach der formalen Niederlage Deutschlands seine Wirkungen: hatten die Faschisten den Krieg verloren, so hatte ihn der Faschismus gewonnen. Und hier liegt der für die weitere Entwicklung im Nachkriegsdeutschland bezeichnende grundlegende Unterschied zu der Situation nach dem Ersten Weltkrieg. War der Opportunismus damals wegen einer breiten revolutionären Gärung, angefeuert vor allem durch das Beispiel des roten Oktobers 1917, nicht in der Lage, als direkter Agent der Unterjochung der Gewerkschaftsorganisationen unter den Staat zu fungieren, so war die Lage nach 1945 vor allem auch wegen der drakonischen Schärfe der konterrevolutionären, imperialistischen Besatzungspolitik bar jeder revolutionären Klassenbewegung. Jetzt schafften die scheinbar vom Faschismus befreiten Gewerkschaften und sogenannten Arbeiterparteien, trotz, oder auch gerade wegen ihrer zeitweiligen rethorischen Radikalität, die notwendige Voraussetzung für eine wirkungsvolle Konsolidierung des Kapitalismus, wobei ihre Hauptaufgabe in der Organisierung und ergänzenden Disziplinierung des Proletariats lag. Die folgende, auf die Sozialdemokratie gemünzte Einschätzung des Opportunismus trifft in aller Schärfe auch auf die Politik der Gewerkschaften nach 1945 zu, wie radikal und sogar revolutionär auch immer sie nach aussen auftreten sollte:
»Der eigentümliche Charakter der Sozial-Demokratie fasst sich dahin zusammen, dass demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln. Wie verschiedene Massregeln zur Erreichung dieses Zweckes vorgeschlagen werden mögen, wie sehr er mit mehr oder minder revolutionären Vorstellungen sich verbrämen mag, der Inhalt bleibt derselbe. Dieser Inhalt ist die Umänderung der Gesellschaft auf demokratischem Wege, aber eine Umänderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums« (MEW, Bd. 8, S.141)

In den folgenden Ausführungen soll dies für die Politik der Gewerkschaften an einigen Hauptdaten ihrer Entwicklung dargestellt werden.

I. Gründungsphase des DGB 1945–1949

Ausgangspunkt der gewerkschaftlichen Entwicklung nach 1945 war, wie bei den politischen Parteien, eine zunächst spontane Neuorganisation einzelner Gewerkschaftszellen, wobei diese Neugründungen darauf zielten, die vor allem gegen Ende der Weimarer Republik verhärtete ideologische Frontstellung der verschiedenen Gewerkschaften durch die Bildung einer Einheitsgewerkschaft zu überwinden. So konstituierte sich in Hamburg schon wenige Tage nach dem Einmarsch der britischen Truppen aus ehemaligen sozialdemokratischen und kommunistischen Gewerkschaftlern die »Sozialistische Freie Gewerkschaft« (SFG) mit Genehmigung der Militäradministration. In kürzester Zeit stellten 50 000 Hamburger Arbeiter einen Aufnahmeantrag und unterstützten materiell den organisatorischen Aufbau. Die Existenz der SFG war aber nur von kurzer Dauer, denn schon nach fünf Wochen entzog die britische Militärregierung am 18. Juni 1945 die Genehmigung.

Die Modalitäten dieser verordneten Selbstauflösung verdeutlichen exemplarisch die Problematik derartiger spontaner Vereinigungen, wobei besonders zwei Punkte hervorzuheben sind,
1. die alliierte Gewerkschaftspolitik,
2. die Politik der SPD-Gewerkschaftsführung.

Wenige Tage vor der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 änderten die amerikanische und britische Militärregierung ihre Politik und verboten alle politischen und gewerkschaftlichen Aktivitäten. Ihre Taktik in der Periode von Mai bis August 1945 (bis zum Potsdamer Abkommen) bestand darin, die Arbeit der SPD und der KPD zu lähmen und ihren Einfluss auf Betriebsebene zurückzudrängen. Alle Parteien und sonstigen Organisationen jeder politischen Richtung oder eventuelle Neugründungen waren untersagt, politische Versammlungen, selbst in kleinstem Kreise, strafbar; politische Aktivitäten von Deutschen galten als Verstoss gegen die Anordnungen der Militärregierung und wurden vor Kriegsgerichten abgeurteilt. Gegenüber der Notwendigkeit zur Klandestinie im Faschismus hatte sich also kaum etwas geändert. Hans vom Hoff, Vorstandsmitglied des DGB, erklärte 1948 auf dem ausserordentlichen Bundeskongress des DGB:
»Von den hier anwesenden Delegierten sind über 50 % in der Nazizeit in Haft gewesen… wir haben nach dem Zusammenbruch 1945 geglaubt, dass wir bald unsere ganze Kraft zum Aufbau der Gewerkschaften entfalten könnten, aber wir alten Gewerkschaftsfunktionäre sind erheblich enttäuscht worden… unsere Gewerkschaftsarbeit hat sich in den ersten Monaten illegal vollzogen«

Das darin zum Ausdruck kommende weitverbreitete Misstrauen gegenüber gewerkschaftlichen Kräften in der Militärregierung bedeutete eine erhebliche Erschwerung der organisatorischen Aufbauarbeit. Diese Politik richtete sich aber weniger gegen die durchaus altbewährten SPD-Opportunisten als gegen mögliche »kommunistische« Einflüsse, die man vor allem von einer radikaleren Basis ausgehend glaubte. Die Betriebsräte als Hauptträger der gewerkschaftlichen Arbeit übten damals einen ausserordentlich grossen Einfluss aus. Da viele Unternehmer wegen der engen Zusammenarbeit mit den Nazis im Faschismus in den Lagern der Alliierten sassen, gab es zum Teil vielfältige Möglichkeiten für die Arbeiter, diesen machtfreien Raum in den Unternehmen auszunutzen. Dazu heisst es illustrierend in einem Bericht der Manpower Division:
»Unmittelbar nach dem Zusammenbruch Deutschlands 1945 spielten sich selbsternannte Gruppen von Leuten, die in den meisten Fällen nicht repräsentativ für die Arbeiter waren (repräsentativ natürlich nicht für die britischen Besatzer) als 'Betriebsräte' auf und versuchten in einigen Fällen, die Kontrolle über die Unternehmen zu erlangen« (zitiert nach E. Schmidt, »Die verhinderte Neuordnung 1945–52«).

Dass die Sorge der Alliierten um stalinistische Einflüsse auf die Basisaktivitäten nicht unberechtigt waren, zeigt auch folgendes: im Herbst 1945 wurden von der britischen und amerikanischen Militärregierung erste Betriebsratswahlen in ihren Zonen genehmigt. Aus diesen Wahlen gingen die Stalinisten als stärkste Gruppe hervor. Im Ruhrgebiet entfielen bis Ende Januar 1946 49 983 Stimmen auf die stalinistischen Betriebsräte, während sozialdemokratische Betriebsräte nur 28 313 Stimmen gewannen. Bei den Betriebsratswahlen gelang es den Stalinisten ihre Stellung besonders im Bergbau auszubauen, so hatten sie bis Ende 1946 von insgesamt 1738 Belegschaftsvertretern 666 Betriebsräte gegenüber 632 der Sozialdemokraten, 240 der CDU und 178 Parteilosen.

Diese Dominanz stalinistischer Betriebsräte wurde sowohl von den Besatzungsmächten als auch von den nichtstalinistischen Gewerkschaftern nicht gern gesehen. Harold Zink, Vertreter der amerikanischen Militärregierung, stellte unumwunden fest, die amerikanische Militärregierung hätte diese Wahlen zu einem solch frühen Zeitpunkt keineswegs zugelassen, wenn sie schon damals die damit verbundenen Einflussmöglichkeiten für stalinistische Betriebsräte erkannt hätte:
»Man war der Ansicht, dass bei einer langsamen Reorganisierung der Gewerkschaften in Deutschland das offenbare Risiko, dass diese Organisation durch Kommunisten übernommen werde, wesentlich verringert, wenn nicht ganz ausgeschaltet würde«. (H. Zink, »The United States in Germany«, 1945, Princeton 1957, S. 282)

Ähnlich äusserte sich auch der Militärgouverneur seiner Majestät und Abgesandte des Labour-Premier Attlee, Marshall Montgomery:
»Die Russen unterstützten die Gewerkschaften, ich beschloss, das nicht zu tun. Ich war zwar sehr dafür, dass sie den Verhältnissen entsprechend wachsen sollten, aber dagegen, dass sie forciert würden. Dafür hoffte ich zu erreichen, dass im Laufe der Zeit aus ihren Reihen die richtigen Leute an die Spitze kamen. Gingen wir jedoch zu schnell vor, so bestand die Gefahr, dass sie in falsche Hände gerieten und daraus Schwierigkeiten entstanden«. ( Montgomery, »Memoiren«, München 1958, S.428)

Was Montgomery nur andeutet, nämlich die Austreibung des stalinistischen Teufels, nennt sein US-Kollege Clay schon beim Namen:
»Schon betätigen sich fähige Arbeiterführer wie Schleicher, Richter, Hagen und Schiefer (später auch Tarnow) als demokratische Führer und setzten sich mit den Kommunisten in den Reihen der Arbeiterklasse auseinander«. (Lucius D. Clay, »Entscheidungen in Deutschland«, Frankfurt/Main, 1950, S.324)

In der Praxis bedeutete diese Grundeinstellung der Amerikaner und Briten, dass das Genehmigungsverfahren für die Betroffenen mit äussersten Schwierigkeiten und ermüdendem Kleinkrieg verbunden war (in der französischen Zone konstituierte sich schon am 11. Mai 1945 der Württembergische Gewerkschaftsbund, ohne allerdings Massenorganisation zu werden). Als Instrument zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen von der richtigen Organisationsform für die Gewerkschaften diente ihnen dabei die sogenannte Drei-Phasen-Theorie (später als »Industrial Relations Directive Nr.16« am 12. 04. 1946 bekanntgegeben). Sie sah vor, dass der Schritt von der ersten Phase (örtliche Gründung) zur zweiten Phase (Erlaubnis, Beiträge zu kassieren, öffentlich Mitgliederwerbung zu betreiben und Büroräume zu mieten) von einer Genehmigung der Manpower Division der Militärregierung abhängig war. Diese Genehmigung konnte versagt werden, ohne dass ein Einspruchsrecht bestand. Dass die Militärregierung von diesem Instrument Gebrauch zu machen gewillt war, erwies sich bei der für die Weiterentwicklung der Gewerkschaften bedeutenden Frage der Organisationsform: Einheitsgewerkschaft oder Industrieverband. Dabei war es noch nicht einmal nötig, offizielle Verbote auszusprechen; die Drohung, Phase zwei nicht zu genehmigen, reichte selbst unausgesprochen aus. Denn ohne Erlaubnis, Beiträge zu kassieren, öffentliche Werbung zu betreiben und Räumlichkeiten anzumieten, war es auf die Dauer unmöglich, gewerkschaftlich zu arbeiten.

Führende Gewerkschafter forderten den Aufbau einer Einheitsgewerkschaft und begannen dazu Verhandlungen mit den Militärregierungen, die gegen diese Vorstellungen massiven Widerstand vorbrachten. Wenn auch nicht durchweg einheitlich, so liefen die gewerkschaftlichen Forderungen auf folgendes hinaus: eine Einheitsgewerkschaft sollte alle Lohn- und Gehaltsabhängigen erfassen; sie schloss sowohl das Industrieverbandsprinzip wie das der Richtungsgewerkschaften aus. Neben anderen regionalen Komitees waren für diese Vorstellungen besonders die Aktivitäten Hans Böcklers im Kölner Raum massgeblich, der überhaupt die zentrale Persönlichkeit für diese Gewerkschaftsphase war. Er galt am Ende des Krieges quasi als zukünftiger Vorsitzender der zu gründenden Einheitsgewerkschaft. Sein Konzept einer Einheitsgewerkschaft bestand anfangs in der simplen Übernahme der DAF, um, wie er sagte, von Anfang an eine schlagkräftige Einheitsgewerkschaft zu haben und diese nicht erst in einem langen Prozess neu aufbauen zu müssen.

Gegen die Absichten einer Einheitsgewerkschaft setzten die Besatzungsmächte in der britischen und amerikanischen Zone das Industrieverbandsprinzip durch, indem sie die Reorganisation der Gewerkschaften von der Erfüllung des Verbandsprinzips abhängig machten und den weiteren Aufbau bis zu dessen Annahme blockierten. Die Genehmigung für die zweite Phase gaben die Briten und Amerikaner erst am 18. 01. 1946, nachdem die Verhandlungen über eine straff zentralisierte Einheitsgewerkschaft am 7. 12. 1945 endgültig gescheitert waren, d. h. nachdem sich die Vertreter dieses Organisationsmodells nach fast neunmonatigen Verhandlungen kampflos der Konzeption der Besatzungsmächte der Westzonen unterwarfen, um »endlich zur Anerkennung und zur Arbeit zu kommen«, so Böckler nach entsprechenden Beratungen mit Vertretern des TUC.

Unabhängig von der Übernahme des Industrieverbandsprinzips, das später allerdings durch die Vereinigung der Einzelgewerkschaften (zunächst 1947 auf zonaler und dann 1949 auf Bundesebene) partiell zu Gunsten des Einheitsprinzips rückgängig gemacht wurden, konnte sich in der Frage der Richtungsgewerkschaften die deutsche Konzeption durchsetzen: es entstanden keine ideologisch konkurrierenden Einzelgewerkschaften wie in Weimar, allerdings um den Preis »parteipolitischer Neutralität«. Diese Entwicklung wird allerdings insoweit modifiziert, als sich im Laufe der Zeit sowohl einzelne Berufsgewerkschaften – wie Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG), Deutscher Beamtenbund und auch konfessionelle Gewerkschaften (Christlicher Gewerkschaftsbund 1955) bildeten.

II. Die antikommunistische alte Garde des DGB

Wie schon gesehen lagen die Hoffnungen der Alliierten in punkto gewerkschaftliche Entwicklung in ihrem Sinne vor allem bei den Gewerkschaftlern der alten Garde, die entweder die Zeit des Faschismus in Deutschland überlebt hatten oder auch zahlreich aus der Emigration von den Alliierten direkt reimportiert wurden, wobei vor allem auch Kollegen des TUC (Trade Unions Congres) und der AFL (American Federation of Labour) beim Geschäft der schrittweisen Disziplinierung und Integrierung des deutschen Proletariats in den entstehenden Kapitalismus nordamerikanischer Prägung mit Rat und Tat zur Seite standen. Bei diesen Funktionären handelte es sich fast ausnahmslos um Leute, die bereits vor 1933 in leitender Funktion im ADGB tätig waren oder zumindest als hauptamtliche Funktionäre bereit standen, in die Führungspositionen aufzurücken. Auffallend ist dabei, dass nahezu alle Spitzenpositionen, die die Gewerkschaften nach 1945 zu vergeben hatten, von der Generation der 50–70jährigen besetzt wurden, die zudem fast ausschliesslich SPD-Funktionäre waren. Die Tatsache, dass diesen alten opportunistischen Funktionären die Führungspositionen kaum streitig gemacht wurden, hatte nicht zuletzt neben der Protektion seitens der Militärregierungen seinen Grund darin, dass sich nicht nach 1945 eine radikale Bewegung von den Betrieben her entwickelte, wie das 1918 der Fall gewesen war, die eine Absetzung der alten Garde hätte erzwingen können. Sofern überhaupt Ansätze dazu da waren, nach dem ausserordentlichen Substanzverlust, den die Arbeiterbewegung durch die Jahre nazistischer und stalinistischer Verfolgung und sozialdemokratischem Opportunismus und Verrat erlitten hatte, lag das Ausbleiben jeglicher radikalen Bewegung mit politischer Perspektive hauptsächlich in folgenden Gründen: erstens in der schon erwähnten totalen Kontrolle, die die jeweilige Militärregierung ausübte, um jeder Unruhe vorzubeugen. Weiterhin in der Tatsache, dass die Kräfte der Betriebsräte fast völlig aufgesogen wurden von den unmittelbaren Tagesaufgaben, der Versorgung der Belegschaften mit Nahrungsmitteln, der Wiederingangsetzung der Produktion, den »Kompensationsgeschäften«, die die Nahrungs- und Produktionsmittel herbeischaffen halfen. Und angesichts der jahrzehntelangen Konterrevolution mit ihrer Auswirkung auf das theoretische Niveau der Auseinandersetzungen, der Zerstörung jeglicher auch nur rudimentären Klassenpartei in Deutschland. Auch war es angesichts der »Versumpfung« in den unmittelbaren Tagesproblemen gleichsam unmöglich, eine bewusst revolutionäre Kraft aufzubauen. Desweiteren wäre noch zu bedenken, dass die Gewerkschaften und vor allem die führenden Funktionäre eine Tradition der Kontrolle der Betriebsräte aus der Weimarer Zeit zur Verfügung hatten, die ihnen zur Manipulation und Integration eine erheblich günstigere Position als 1918 verschafft hatte. Es ist eben kein Witz der Geschichte, dass die uniformierten Vertreter der britischen und amerikanischen Bourgeoisie in den sogenannten deutschen Arbeiterführern willfährige Subjekte vor allem zur Disziplinierung und Integrierung des Proletariats in einer Zeit besonders starker Verelendung und entsprechend revoltierender Potentiale vorfanden. Vielmehr zeigt sich hier in exemplarischer Personalunion die konterrevolutionäre Rolle der Sozialdemokraten bestätigt. Und diese alten Gewerkschaftssäcke sahen natürlich ihr oberstes Ziel darin, Ruhe an der Arbeitsfront herzustellen, wobei es sicherlich nicht von Belang ist, ob sie dies im tatsächlichen Glauben, das Beste für ihre Klientel im Sinn zu haben, bewerkstelligten. Angesichts der materiellen Lage und von jeglicher marxistischen Perspektive tatsächlich entleerten politischen Landschaft war es sicher wenig verwunderlich, dass der trotz aller Repression sich äussernde Widerstand an der Basis sich vornehmlich in einem Zulauf zu den Stalinisten äusserte. Daher war es unter anderem hauptrangiges Ziel der Gewerkschaftsführer, die Einflussmöglichkeiten der stalinistischen innergewerkschaftlichen Opposition auszuschalten, Geschäftsordnungsmassnahmen und organisatorische Umstrukturierungen und schliesslich direkte Ausschlussverfahren waren die Mittel dazu. Dann wurde jene in 8 der DGB-Satzung verankerte Pflicht zur »absoluten Unabhängigkeit der Gewerkschaften den politischen Parteien gegenüber« gegen die Anhänger der KPD gewandt und ihnen das Verteilen von KPD-Propagandamaterial untersagt. Mittels einer faktischen Nichtvereinbarkeitsklausel der Mitgliedschaft in der KPD und gleichzeitig in einer Einzelgewerkschaft wurden schliesslich 1950 zahlreiche KPD-Mitglieder aus der Gewerkschaft ausgeschlossen. Anfang der 50er-Jahre war die stalinistische Opposition praktisch ausgeschaltet. Clay sprach zum Beispiel auf dem 1. ausserordentlichen Kongress der IG-Metall 1950 den Gewerkschaften seine Anerkennung dafür aus, dass es ihnen gelungen sei,
»die kommunistische Opposition gegen den Marshall-Plan in ihren Reihen besiegt zu haben« (Clay, »Entscheidungen in Deutschland«, S.325).

Die Gewerkschaftsführung, die sich durch Wohlverhalten gegenüber den Besatzungsmächten baldige Hilfe für die Not in Deutschland und eine Ausweitung ihrer Kompetenzen erhoffte, zugleich aber Furcht davor hatte, Massenbewegungen könnten die stalinistische Opposition innerhalb der Gewerkschaften stärken, kanalisierte entweder von ihr nicht initiierte Streiks in ihrem Sinne oder distanzierte sich von ihnen. Sie stand daher in den Nachkriegsjahren häufig im Widerspruch zu Massenaktionen. Vor allem die unmittelbare Notlage, die durch Demontagen und Reparationsleistungen noch verschärft und auch nach der Konstituierung des Wirtschaftsrates keineswegs im Sinne der Lohnabhängigen behoben wurden, war Anlass zu zahlreichen Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen.

Den ersten Kulminationspunkt erreichten die Streikaktionen im Frühjahr 1947, bedingt vor allem durch die katastrophale Ernährungslage. Im März und April 1947 streikten Hunderttausende, die Streiks weiteten sich von Tag zu Tag aus und wurden zusehends militanter. Die Reaktion, sowohl der Besatzungsmächte als auch der Gewerkschaftsführer, auf diese Streiks war symptomatisch. Die britische und amerikanische Militärregierung drohte unverhohlen mit Belagerungszustand und Standrecht. Die Gewerkschaftsführung ihrerseits trat den Massenaktionen zunächst dadurch entgegen, dass sie den Teilnehmern an »wilden Streiks« mit Ausschlussverfahren drohte. Da sie die Demonstrationen nicht verhindern konnten, die Masse der Arbeiter aber auf jeden Fall von den stalinistischen Kadern spalten wollten, stellten sie sich nachträglich hinter die Aktion. Die wahre Gesinnung dieser vermeintlichen Arbeiterführer aber wird durch einige Verlautbarungen charakterisiert: Hans Böckler veröffentlichte eine Anti-Streik-Resolution, in der alle Streiks in der jetzigen Form verurteilt wurden, da sie die Notlage nicht bessern könnten. Fritz Tarnow erklärte 1947 auf dem Kongress der Landesgewerkschaften Bayerns die Uhren des privatkapitalistischen Systems für »abgelaufen«, und deshalb seien solche Streiks, die die Überführung der Konzerne in Komunaleigentum forderten, überflüssig.

Ähnlich war das Verhalten auch bei späteren Streiks vor allem auch in Folge des Betrugs der Währungsreform, durch die Dank der Freigabe der Preise bei weiter durchgehaltenem Lohnstop das sowieso schon minimale Lebensniveau durch zusätzliche Reallohnsenkung reduziert wurde. Dabei hielten sie immer scharf die Stalinisten als potentielle Opposition im Auge, Stalinisten, die in Form der Partei KPD besonders treue Sachwalter der aussenpolitischen Konzeption Moskaus waren und wie so oft in der Geschichte den sozialdemokratischen Opportunismus an scheinbar situationsbedingter Flexibilität durchaus übertrafen. Dann gaben sich die Sozialdemokraten nach 1945 wieder superradikal und sie sprachen, wie der oben erwähnte Tarnow, jeden Tag vom Untergang des Kapitalismus und vom schon im Gang befindlichen Aufbau des Sozialismus. Die Stalinisten hingegen suchten gemäss der »Dimitroff-Formel« die superweite Volksfront mit dem sehr bescheidenen unmittelbaren Ziel einer »antifaschistisch-demokratischen Neuordnung«. In einem programmatischen Dokument – praktisch das neue Parteiprogramm – vom 11. Juni 1945, gerichtet an »das schaffende Volk in Stadt und Land« heisst es dann auch konsequent, dass es falsch sei, »Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen«, weil dies nicht den »gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland« entspräche, vielmehr sei der richtige Weg der »einer parlamentarischen demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk«. Und um die bündnisfähige Bourgeoisie auch sicher nicht aus dem erträumten Antifa-Block zu vergraulen, so wird an hervorgehobener Stelle die »völlig ungehinderte Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative auf den Grundlagen des Privateigentums« gefordert. An dieser friedfertigen Position hielten die Stalinisten in den nächsten Jahren trotz aller Prügel fest, und dies zu einer Zeit, wo sich selbst die Bourgeoisie bemüssigt glaubte, im berühmt-berüchtigten Ahlener Programm (der CDU) stark antikapitalistische Töne zur Beruhigung der Gemüter anschlagen zu müssen.

III. Gründung und erste Kampfphase des DGB 1949–51

In enger Zusammenarbeit zwischen der Militärregierung und den Gewerkschaftsfunktionären waren die Gewerkschaften nach 1945 verstärkt in der Phase des Kalten Krieges zu Stabilisatoren und massgeblichen Garanten des Kapitalismus geworden. Das alles unter der rosaroten Tunke des Sozialismus nach dem Motto »Die christlich-humanen Werte des Abendlandes dürfen niemals in Zweifel gezogen werden und die zukünftige Ordnung Deutschlands darf nicht mehr kapitalistisch sein«, diese zwei idealistischen Gesichtspunkte sollten sich in der Gewerkschaftsarbeit widerspiegeln. Bei aller scheinbaren Radikalität in den verschiedenen Verlautbarungen dieser Funktionäre tritt dennoch ganz klar ihre alleinige Funktion in der Nachkriegsphase zu Tage: ihnen oblag sozusagen als Morgengabe für den geordneten und friedlichen Übergang von der faschistischen zur demokratischen Ordnung, mit der Disziplinierung und Integrierung des Proletariats eine der wichtigsten Konsolidierungsfaktoren für die erneuerte Diktatur des Kapitals herzustellen. Und es war sicherlich gerade auch diese Radikalität in der Rethorik, die gegenüber den Mitgliedern in dieser Zeit notwendig und opportun war. Der daraus für den deutschen Revisionismus resultierende Widerspruch zwischen scheinradikalen Verlautbarungen und opportunistischer Praxis konnte sich wegen mangelnder revolutionärer Alternative noch weniger als in früheren Perioden an der Basis auswirken. Die Gewerkschaften hatten sehr rasch einen starken Mitgliederbestand errungen. Ende 1948 gab es insgesamt 4,2 Millionen Mitglieder bei einer Beschäftigtenzahl von 12 Millionen, also über ein Drittel der Beschäftigten war organisiert, es bestand ein höherer Organisationsgrad als heutzutage.

Die offizielle Gründung des DGB fand am 12.-14. Oktober 1949 in München statt. Obwohl die Restaurationsphase mit Marshall-Plan, Währungsreform und Entstehung der BRD unter massgeblicher Regie der USA und der von ihr kontrollierten deutschen Bourgeoisie ohne jeglichen Widerstand (es sei denn, verbaler) der Gewerkschaften durchgesetzt war, streuten die Gewerkschaftsopportunisten mit ihrer weiter von sozialistischen Phrasen durchsetzten Integrationsideologie dem von materiellen und politischen Zwängen gebeutelten Proletariat Sand in die Augen. Vor allen Dingen, die Währungsreform vom 18. Juli 1948 musste allen Beteiligten die Augen öffnen:
»In der Geschichte des deutschen Kapitalismus ist die Klassenteilung der Gesellschaft nie offener und unerbittlicher zur Grundlage einer wirtschaftspolitischen Entscheidung geworden als in der Geldreform des Jahres 1948«. (Pirker, »Die blinde Macht«, Bd.1, S.98).

Die Ersparnisse der lohnabhängigen Bevölkerung wurden restlos liquidiert, während die Kapitalisten zum grössten Teil die Produktionsanlagen im Vergleich zur alten Reichsmark-Bilanz mindestens im Verhältnis 1:1 in neuen DM-Werten berechnen konnten. Auch die Mittel der Gewerkschaften wurden aufs äusserste beschnitten. Bezeichnend auch hier wieder die Reaktion dieser »Arbeitervertreter«: die Gewerkschaftsführer verfielen in ihren Stellungnahmen zur Währungsreform lediglich in moralische Anklagen und in Prophezeiungen, dass diese Reform scheitern würde. Der Bourgeoisie war es durch diese geschickte Strategie gelungen, die Verschuldung des Staates in Folge der Kriegsfinanzierung – sie betrug 1939 bis 1945 rund 670 Milliarden Reichsmark, denen nur Einnahmen von 330 Milliarden gegenüberstanden – mit einem Federstrich wegzuwischen. Aber nicht nur das, durch eine Inflation der Warenpreise bei weiterhin aufgezwungener diktierter Lohnhöhe, sank der Reallohn. Nach der Währungsreform liefen die freien Preise den gestoppten Löhnen einfach davon, so dass für grosse Teile der Lohnempfänger die Einkommen unter das Existenzminimum fielen. Unter dem Einfluss der Wirtschaftsentwicklung, unter dem Druck der Basis, war man allerdings am 1. 10. 1948 zur Aufhebung des Gesetzes zum Lohnstopp gezwungen. Nichtsdestoweniger hing das »Experiment Erhard«, das heisst, die bislang durch die Amerikaner verzögerte Ankurbelung der deutschen Wirtschaft unter den wachsamen Augen der Alliierten, weitgehend davon ab, die Arbeiter durch die Gewerkschaften auf längere Zeit zu disziplinieren, um von der Lohnseite her nicht den Wirtschaftsauftrieb zu gefährden. Und nicht zuletzt lag ein Hauptgrund für das später vielbesungene »Wirtschaftswunder« darin begründet, dass es Dank der systematischen Arbeit dieser starken Staatsgewerkschaft immer wieder gelingen sollte, Ruhe an der Lohnfront zu halten, womit eigentlich erst das günstige Akkumulationsklima geschaffen wurde, das dem deutschen Kapital zu der sagenhaften Entwicklung verhalf.

Das Muster für die späteren gewerkschaftlichen Streikaktionen wurde gleichsam in diesem Herbst 1948 gelegt. Als Reaktion auf die Massnahmen der alliierten und deutschen Bourgeoisie kam es zu grossen Demonstrationen und in Stuttgart sogar zu Zusammenstössen mit der US-Polizei. Der Autorität des damaligen Gewerkschaftsbosses, Hans Böckler, gelang es nur unter grossem Einsatz, Generalstreiksforderungen abzublocken und den ganzen Unmut in einem scheinradikalen Aufruf zu einer 24-stündigen demonstrativen »Arbeitsruhe« zu kanalisieren. Man hütete sich wohlweislich das Wort »Generalstreik« zu benutzen. Die Demonstration des 12. 11. 1948 war eine reine Schaustellung der Macht der Gewerkschaften. Sie sollte die Politik des »Imponiergehabes« einleiten, die auch zukünftig die Politik der Gewerkschaft kennzeichnen sollte. Man schwoll den Kamm ohne im entscheidenden Augenblick zu Kampfhandlungen zu schreiten und verhinderte damit jegliche effektive Aktion. Die Gewerkschaft wuchs zwar nach Zahl, doch dies ausnutzen lag ausserhalb ihres Interesses.

Selbst wenn man der Währungsreform noch scheinbaren Widerstand entgegensetzte, der aber vor allem darin bestand, Basisbewegungen letztendlich zu befrieden, so hatte man beim Marshall-Plan und der Konstituierung der BRD nur noch äusserst leichte Bedenken geäussert, obwohl die Militärregierung insbesondere die Tatsache der Marshall-Plan-Gelder zu einem Druckmittel auf die Arbeitsdisziplin benutzte und obwohl auch in der neuen BRD-Verfassung, die vor allem von Vorstellungen der US-Regierung geprägt war, der westdeutsche Kapitalismus endgültig etabliert war. Diese Restauration bestätigte sich auch in der ersten Bundestagswahl am 14. 08. 1949 die folgende Mandatsverteilung im Parlament ergab: die CDU erhielt 139, die SPD 131, FDP 52, Bayernpartei 17, Deutsche Partei 17, KPD 15, WAV 12, Zentrum 10, Deutsche Reichspartei 5.

Dies war der Hintergrund vor dem die endgültige Konstituierung des DGB stattfand. Der neue DGB war keineswegs eine Zusammenfassung der bisherigen Gewerkschaftsbünde der einzelnen Länder; er war vielmehr eine Neugründung. Die Gründer dieses Bundes waren die sechzehn selbständigen Industriegewerkschaften. Von einer einheitlichen Gewerkschaftsbewegung, wie nach 1945 projektiert, war auf dem Gründungskongress nur insoweit die Rede – und der DGB unterschied sich damit zum Beispiel vom TUC und vom AFL –, als er nicht nur eine Dachorganisation, sondern ein zentrales Gebilde sein sollte. Hierdurch wollte man, wie schon geschildert, den frühen alliierten Widerstand gegenüber der Konzeption einer Einheitsgewerkschaft zumindest noch teilweise unterlaufen. Allerdings war es jetzt auch in den Augen der Alliierten nicht mehr notwendig, auf eine mögliche Dezentralisierung zu pochen, drohte doch von Stalinisten und ähnlich »gefährlichen« Oppositionsgrupppen, dank der bereinigten Struktur, kaum noch grössere Gefahr. Vielmehr war es sogar von Nutzen, unter diesen Bedingungen der Omnipotenz der altbewährten »demokratischen Opportunisten« ihnen eine weitgehende Autorität zu verleihen. Als Ergebnis dieser Entwicklung ergab sich die für die BRD charakteristische Zweigleisigkeit der Gewerkschaftsorganisation, nämlich DGB und Industriegewerkschaften. Durch die Gründung des DGB blieb allerdings der organisatorische Apparat der früheren Gewerkschaftsbünde der einzelnen Länder weitgehend bestehen. Der Unterschied zur Lage des Gewerkschaftsbundes vor 1933 und nach 1949 wird am Beispiel Bayerns deutlich, wo vor 1933 ein einziger Sekretär mit einer Schreibkraft die Interessen der Gewerkschaft vertrat, besass nach 1949 der DGB in Bayern seine eigene Organisation mit mehreren Funktionären. Die Etablierung des DGB war also mit einer starken Bürokratisierung verbunden, was aus der Erfahrung der Arbeiterbewegung der Todfeind jeglicher Aktivitäten des Proletariats ist.

Die Organisationsstruktur des DGB als Quasi-Holding über sechzehn Industriegewerkschaften, die in ihrer Politik und Finanzlage allerdings weitgehend autonom Handeln können, könnte man gleichsam als modifiziertes System der Industriegewerkschaften betrachten. Der DGB war aufgrund dieser Konstruktion kaum in der Lage als starke Einheitsgewerkschaft aufzutreten, da er vor allem von einzelnen »Gewerkschaftsfürsten« dominiert wurde, die, auf ihre Unabhängigkeit bedacht, in der Regel einen unbedarften »Trottel« als Galionsfigur kürten. Auf der Gründungssitzung wurde nämlich auf Antrag der Industriegewerkschaften der Bundesvorstand so erweitert, dass in ihm Vertreter aller Industriegewerkschaften Sitz und Stimme hatten. Die tatsächliche politische Führung des Bundes liegt demnach nur bei den Mitgliedern des Bundesvorstandes, die die Geschäfte des DGB führen sollen, wenn unter ihnen eine »politisch starke Persönlichkeit« ist, was bislang allerdings im Wesentlichen nur vom ersten Gewerkschaftsboss, Hans Böckler, gesagt werden kann, was wiederum nicht zufällig ist, erforderte doch gerade diese erste, von ziemlicher Unruhe und potentieller Unbotmässigkeit charakterisierte Phase eine starke autoritäre Hand zur Erfüllung der Zwecke des DGB.

Laut Satzung ist der DGB streng föderalistisch aufgebaut. Organe des Gewerkschaftsbundes sind:
Bundeskongress – Stimmenverteilung für die Einzelgewerkschaften je nach Mitgliederzahl
Bundesausschuss – nicht nur Mitgliederzahl entscheidet über Stimmanteil
Revisionskommission – drei Mitglieder, überwacht die Jahreabrechnung und Kassenführung des Bundes
Bundesvorstand – je Industriegewerkschaft eine Stimme und neun Stimmen des geschäftsführenden Bundesvorstand (GBV)

Der GBV, das geschäftsführende Organ der Gesamtorganisation des DGB ist demnach nicht als Organ des Bundes bezeichnet und wird nur im Zusammenhang mit dem Bundesvorstand erwähnt. Er besteht aus: einem Vorsitzenden und zwei stellvertretenden Vorsitzenden – sechs hauptamtlichen Vorstandsmitgliedern (9 Mitglieder).

Wiewenig auch der neugegründete DGB für seine strategische Konzeption die Realität reflektierte, dokumentieren die wirtschaftspolitischen Grundsätze des DGB, beschlossen auf dem Gründungskongress 1949. Ungeachtet der oben schon geschilderten Momente der Restauration des Kapitalismus, zu der man tatkräftig beigetragen hatte, machte man auch hier auf grosse radikale Schau. Unter dem Schlagwort der »Neuordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft« konzentrierte man sich mit den Schwerpunkten Wirtschaftskontrolle, Verstaatlichung der Schlüsselindustrie, Mitbestimmung, ohne allerdings zum Schluss die Notwendigkeit der »volkswirtschaftlichen Rationalisierung« zu vergessen (»Der industrielle Produktionsapparat ist durchgreifend zu überholen und damit auf den höchstmöglichen Leistungsgrad zu bringen«) auf die bekannten wirtschaftsdemokratischen Forderungen, jedoch ohne dass eine konkrete Strategie entwickelt worden wäre, wie denn unter den gegebenen Bedingungen diese Forderungen zu erfüllen seien. In der Tradition damaliger Programme gab man sich noch kräftig antikapitalistisch, wiewohl spätestens die Forderung unter Punkt 4 »Gesamtproblem: volkswirtschaftliche Rationalisierung« nichts anderes als systemnotwendige Produktions- und Arbeitsproduktivitätssteigerungen reflektieren. Und auch bei Punkt 1 »Wirtschaftskontrolle« dachte man schon damals vor allem an Keynes und nicht an Marx. Im Punkt 3 »Mitbestimmung« machte sich vor allem der Einfluss der katholischen Soziallehre breit, gemäss deren Grundsatz von der Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit. Böckler zitierte zum Beispiel in seiner Programmrede zur Begründung dieser Forderung ausführlich katholische Quellen. Insgesamt also ein Sammelsurium konservativer, opportunistischer, reformistischer, konterrevolutionärer Forderungen, die trotz manche Zeitgenossen verwirrender Radikalität eindeutig in der für die Arbeiterklasse so katastrophalen Tradition des Reformismus standen. Scheinbar antikapitalistisch hatte man eben nichts anderes im Sinn als die unversöhnlichen Extreme Kapital und Lohnarbeit mit einem schwülstigen Wortschwall zu vernebeln, um das Proletariat unter die Zwänge des Kapitals zu pressen. Allerdings ist es für »Dünnbrettbohrer« und sonstige »linke« Oberflächenforscher ein leichtes, aus der scheinbaren Opposition der Gewerkschaften dem Staat gegenüber eine prinzipielle Kampfstellung herauszulesen, aber selbst dieser oppositionelle Reformismus – der sich allerdings vom späteren staatstragenden, vollintegrierten Opportunismus nach aussen hin unterscheidet – kann kaum ernsthaft die unheilige Allianz von Staat, Kapital und Staatsgewerkschaft verdecken.

Vielmehr könnte man sagen, dass gerade dieses, von jeglicher Realität abgehobene, sich in imaginären »Wolkenkuckucksheimen« verlierende, scheinbar radikale Prinzipienprogramm gerade wie geschaffen war, das damalige Proletariat von den eigentlichen, naheliegenden Lohnkämpfen abzuhalten. Das was selbst manchen heutigen »linken« Theoretikern an diesen gegenüber heutigen prokapitalistischen gewerkschaftlichen Verlautbarungen so angenehm auffällt, ist nichts anderes als die gleichsam zeitgemässe Umsetzung dieser heute so offen prokapitalistischen Politik, denn wie hätte man wohl damals die sowieso schon dank Arbeitslosigkeit und Niedrigstlöhnen in recht aufgeputschter Stimmung sich befindenden Mitglieder auf die Beine gebracht, hätte man ihnen den offen kapitalistischen Schwachsinn späterer Prosperitätsphasen zugemutet. Was nach der offenen Konsolidierungsphase der sechziger-Jahre für den durch Fress-, Reise- und andere Konsumwellen saturierten verbürgerlichten Arbeiter gleichsam auf seinen verfetteten Leib zugeschnitten war, musste davor aus dem mageren Arbeiter »Otto Normalverbraucher«, trotz erheblichen Eiweissmangels, noch manche Kraftreserven mobilisieren. Darin eben liegt die Dialektik der Geschichte. Gerade das scheinradikale Programm des DGB offenbarte dadurch seine offen konterrevolutionäre Rolle, denn es lenkt mit grossen Worten, ohne Taten, von den alleinigen naheliegenden Tageskämpfen ab, die das so gebeutelte Proletariat nötig gehabt hätte. Und nichts anderes lag im Interesse des Kapitals als die Garantie eines möglichst in seinen Reproduktionsbedürfnissen niedrig gehaltenen Proletariats, um nach den riesigen Kapitalentwertungen durch Krise und Krieg, mit neuer Gier daranzugehen, den ins riesenhafte gesteigerte Drang nach Einsaugung lebendiger Arbeit durch vergegenständlichte Arbeit zu befrieden.

Diese prinzipielle Haltung der Gewerkschaften wird in den folgenden Jahren in den mit besonderer Verbissenheit propagierten Mitbestimmungsforderungen deutlich, womit sich geradezu die Umbiegung von an sich notwendigen Lohnkämpfen in scheinbare Strukturreformen – wie so oft schon in der Geschichte des Opportunismus – manifest macht. Ganz in der Tradition wirtschaftsdemokratischer Vorstellungen der Weimarer Zeit und eben der katholischen Soziallehre kämpfte man um den »gerechten« Platz an der Seite des Kapitals, was gleichsam doppelter Betrug gegenüber den wirklich klassengemässen Interessen des Proletariats bedeutete: nicht nur dass man keinerlei Anstalten macht, im Machtkampf zwischen Akkumulations- und Reproduktionsinteressen das Kapital zu attackieren, geschweige trotz aller vermeintlicher Realität vom Lohnkampf zum Kampf gegen das Lohnsystem zu führen, man strebte zur Partnerschaft mit dem Kapital, was in letzter Konsequenz nichts anderes bedeutet, als dass man offen institutionalisiert sich allein nach den Kapitalverwertungsinteressen ausrichtet, um das Proletariat nur umso willfähriger den Ausbeutungsinteressen auszuliefern, unter anderem nicht zuletzt dadurch, dass man ihm einzureden versucht, es hätte jetzt, wenn auch nur einen Deut, Einfluss auf irgendwelche Unternehmenspolitik.

In einer Hauptbranche der westdeutschen Industrie, nämlich der Schwerindustrie, war schon im Frühjahr 1947 seitens der Kapitalisten, die sich die Gewerkschaften im Kampf gegen alliierte Demontage und radikale Betriebsräte als Bundesgenossen wünschten, die Mitbestimmung zugestanden worden. Schon hier zeigt sich deutlich der eigentlich tiefere Sinn jeder Mitbestimmung: die gegenüber der Gewerkschaftsführung radikaleren Betriebsräte drohten zu einem Störfaktor der industriellen Produktion zu werden; dies galt es im Hinblick auf die notwendige Steigerung der Produktion zu vermeiden. Die paritätische Mitbestimmung war hier zwar auch ein Ergebnis gewerkschaftlicher Politik, vor allem war sie aber ein Beschwichtigungsmittel gegenüber innerbetrieblichen Unruhen. Und schliesslich ein Ausdruck unternehmerischer Taktik, Sozialisierung und Entflechtung ihrer Betriebe zu verhindern. In dieser Institutionalisierung der Mitbestimmung im Montanbereich sah der DGB 1950 trotz allgemein günstiger Situation für Lohnkämpfe das vorrangige Ziel. Nach der Währungsreform und der Gründung der BRD nahm die Wirtschaft einen rasanten Aufschwung, der durch den Korea-Boom verstärkt wurde. Wie sehr die Investitionen durch die Ausbeutung der Arbeitskraft finanziert wurden, zeigt eine Erhebung der Löhne und Gehälter zu diesem Zeitpunkt: 67,7 % der männlichen Lohnempfänger in der Industrie verdienten unter 300.-DM monatlich, 32,2 % der Gehälter lagen unterhalb dieser Quote, gerade 15,6 % der Lohn- und Gehaltsempfänger verdienten mehr als 350.- DM. Die Disproportionalität zwischen Akkumulationsrate, Profiten und variablem Kapital dürfte wohl zu den krassesten gehören, welche je in der Geschichte des deutschen Kapitalismus vorgekommen ist. Erklärlich ist deswegen ein virulenter Druck der Basis, auch wenn gegenüber früheren Jahren ein leichter Reallohnanstieg wegen des sinkenden Preisanstiegs und der Lebensmitteleinfuhr festzustellen war. Die wirtschaftliche Lage der BRD schien zur Jahreswende 1949/1950 für ein Durchsetzen gewerkschaftlicher Forderungen, allem voran Lohnkämpfe, günstig zu sein. Trotzdem setzten die Gewerkschaftsführer zu diesem Zeitpunkt nicht zu einem Angriff gegen die Ausbeutung durch die Bourgeoisie an, sondern erklärten: »Die Mitbestimmung steht im Mittelpunkt«.

Gegen den harten Widerstand von Kapitalisten und Regierung gelang es dem DGB in den Jahren 50/51 nur in einem vermeintlich harten Clinch unter Androhung eines Generalstreiks diese vorher schon von Seiten der Kapitalisten freiwillig – wenn auch unter gewissen Ausnahmebedingungen – zugestandene Regelung vom Bundestag absegnen zu lassen. Obwohl das Streikritual auch in diesem Fall wieder dem klassischen »Sturm im Wasserglas« entspricht, so waren die von den Gewerkschaften angeschlagenen Töne doch so heftig und die mobilisierten Massen so massiv, dass gerade dieser Fall von potentiellem Generalstreik bis heute stets als exemplarischer Fall für eine damals noch durch den DGB geübte massive Streiktaktik – je nach Standort – als abschreckendes Beispiel oder als vorbildhafte Tat hervorgehoben wird. Und es war in der Tat auch das erste und letzte Mal in der Geschichte des DGB, dass er sich durch einen so stark vorgebrachten Kraftakt hervortat. Aber bedenkt man den Zweck der Aktion, so kann man das ganze Aufheben um diese »Fall« nur als lächerlich betrachten. Nicht nur war es das Falscheste aller Objekte, an dem der DGB vermeintlich Stärke zu demonstrieren müssen glaubte, sondern durch dieses scheinbar entnervende Hin und Her im Streit um die Mitbestimmung zwischen Kapitalisten und DGB geriet diese kollaborationistische Aktion auch noch zu einem Sieg der Arbeiterseite. Und Ironie der Geschichte: ähnlich wie schon am Beispiel des Grundsatzprogramms dargelegt, entsprach eben diese scheinbar radikalste Aktion der ökonomisch so brisanten Wirklichkeit. Man brauchte schon so starke Geschütze um durch gewaltigen Lärm und Scheingefechte vom eigentlichen Kampffeld, dem Lohnkampf, die unter extrem miesen Bedingungen schuftenden Proletarier abzulenken. Und weiterer Witz der Geschichte: auch in diesem so exemplarischen Fall gelang es den geschulten Gewerkschaftsfunktionären trotz allem wilden Kampfgeschrei hier wieder, die massiv in den Kampf gerufenen Arbeiterscharen ohne weitere Kampfaktion wieder in Ruhe nach Hause zu schicken, nachdem man sich in trautem Kreise mit Regierung und Kapitalisten über die Beibehaltung des so bewährten paritätischen Mitbestimmungsmodells 1951 geeinigt hatte. Es war gleichsam auch die letzte heroische Tat des bislang die Gewerkschaft dominierenden Hans Böckler, der im Frühjahr 1951 einem Herzinfarkt erlag. Er war es gewesen, der gegenüber allen Versuchen radikaler Kräfte die Gewerkschaften jahrelang diszipliniert hatte. Er war seit 1945 der Verbündete der Besatzungsmächte und des Kapitals gewesen. Demgemäss schreibt Pirker:
»Er hatte nicht als Interessenvertreter, er hatte als Vertreter des ganzen deutschen Volkes gewacht und gehandelt, als er sich in zähen Verhandlungen mit den Besatzungsmächten um die Frage der Demontage auseinandersetzte und erfolgreich war«. (in: Pirker, »Die blinde Macht«, Bd. 1, S. 200)

So hatte er von Anfang an die Gewerkschaften in enger Kooperation mit Militärbehörden und und Kapitalisten als Stabilisierungsfaktor für den besiegten deutschen Kapitalismus ins Feld geführt, auch wenn er subjektiv – möglicherweise sogar im vollen Ernst – bis zuletzt an den »Sozialismus« der ersten Stunde, an die diversen »Sozialisierungserklärungen« und an die zeitweisen taktischen Zugeständnisse seitens der Kapitalisten und der Regierung geglaubt hatte, ihm war in enger Zusammenarbeit mit seinem ihm in radikaler Rethorik vielleicht noch überlegenen Kurt Schumacher (SPD) – wenn man die ähnlich opportunistische, aber weit schwächere Position der Stalinisten ausser acht lässt – zu verdanken, dass trotz der grossen Niederlage der deutschen Bourgeoise und des grossen materiellen Elends und eines zeitweisen durchaus vorhandenen Kampfeswillen des Proletariats, die Restauration des westdeutschen Kapitalismus recht reibungslos über die Bühne ging.

Der Kampf um die Durchsetzung der paritätischen Mitbestimmung in der Metallindustrie war gleichsam der Höhepunkt in der reich an radikalen Obertönen charakterisierten ersten Phase gewerkschaftlicher Nachkriegspolitik, die ironischerweise sicher zufällig – aber sehr symbolträchtig – mit dem plötzlichen Ableben ihres langjährigen wortgewaltigen demagogischen Exponenten, Hans Böckler, zusammenfällt. Von jetzt an wendet sich die von der Gewerkschaft betriebene Politik, wenn auch schrittweise und immer wieder unterbrochen von scheinbar radikalen Zwischenstürmen, immer offener kollaborationistischer Politik zu. Sprach man bislang von der Notwendigkeit den Kapitalismus zu überwinden, und sah sich oft sogar schon am rosaroten Tor des »sozialistischen Himmelreiches« angelangt, so wurde – wenn auch natürlich in einem längeren Prozess – die kapitalistische Produktionsweise jetzt auch immer offener das, was sie schon immer für die Gewerkschaftsführer war, eine naturgegebene Konstante, zu deren Erhaltung man nicht zuletzt eben durch die Politik der Integrierung und Disziplinierung des Proletariats unter die Interessen und Botmässigkeiten des Kapitals entschieden beitrug.

Das Wesen des Reformismus liegt in der Unterwerfung des Proletariats unter die Bedingungen der Kapitalherrschaft, selbst wenn der Reformismus sich marxistischer Terminologie und scheinmarxistischer Weisheiten bedient, besteht doch seine wesentliche Aufgabe in der Verhinderung jeglicher gewaltsamen revolutionären Entwicklung; hat also der Revisionismus immer die gleiche Funktion, so ist er doch gezwungen, sich im konkreten Tageskampf jeweils den Bedingungen entsprechend anzupassen. Bei aller wesenhaften Konstanz des Nachkriegsopportunismus lassen sich doch grob drei Phasen reformistischer Politik in der konkreten Erscheinung feststellen, die man in etwa wie folgt bezeichnen kann:

• »maximalistischer Reformismus«, das heisst, man tut so, als stehe die Revolution vor der Tür, die Frage ob Sozialismus oder Kapitalismus sei schon längst für den Sozialismus entschieden (1945–1951),
• »aktivistischer Reformismus«, der sich vor allem mit Forderungen nach sozialpolitischen Massnahmen hervortut (1951/52–1959/1960) und
• »offen systemkonformer Reformismus«, in dem der Kapitalismus selbst auch in Verlautbarungen nicht mehr in Frage gestellt wird.

Jede Variante korrespondiert mit jeweils unterschiedlichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnissen; und so leistet jede in ihrer scheinbar verschiedenen taktischen Auswirkung, der zeitgemässen Situation angepasst, für die oben genannten Aufgaben die besten Dienste. So entsprach der Zeit des politischen Umbruchs und der grössten materiellen Not in den ersten Nachkriegsjahren die angewandte »revolutionäre« Taktik der Reformisten. Hätte man zum Beispiel damals die gleichen offen kapitalistischen Töne angeschlagen wie in den prosperierenden 60er-Jahren, so hätte man wohl eher das Gegenteil einer Disziplinierung und Einbindung erreicht.

Die Basis der prokapitalistischer Politik dieser Gewerkschaften wurde in den ersten Nachkriegsjahren gelegt, weswegen sie hier auch ausführlicher behandelt wurde. Wenn in diesen Jahren eben wegen der scheinbar radikalen Rethorik der Gewerkschaftsfunktionäre damals die wahre Rolle dieser Gewerkschaften vernebelt wurde, so wurde in den 50er- und 60er-Jahren die prokapitalistische Funktion durch zunehmend offensichtlicher werdende Klassenkollaboration immer deutlicher. Ohne auf nähere Einzelheiten einzugehen, soll hier diese Entwicklungsphase bis zum Aktionsprogramm von 1955 nur kürzer skizziert werden.

IV. Die Zeit des »aktivistischen Reformismus«

Nach der Auseinandersetzung um die Mitbestimmung ergab sich bereits wenige Wochen später ein Klima der Annäherung zwischen Bundesregierung und Gewerkschaften. Das Jahr 1951, das mit scheinbar radikalen Klassenkämpfen begann, sah ein knappes halbes Jahr später, dass die Funktionäre der Gewerkschaften auf beinahe allen Ebenen zu Mitverantwortlichen in der Bundesregierung geworden waren. Es begann die Zeit der sogenannten »konstruktiven Mitarbeit«. Zur kurzen Präzisierung dieser neuen Qualität der Gewerkschaftsarbeit nur folgende zwei Punkte, die hier nicht weiterführend dargelegt werden können: in den damals stark diskutierten Fragen des Schuhmann-Plans (Integrierung der westdeutschen Schwerindustrie in die Montanunion) und Wiederaufrüstung bzw. Etablierung der Bundeswehr, traten die massgeblichen Gewerkschaftsfunktionäre von Anfang an als starke Befürworter dessen auf, womit sie sogar zeitweise in Gegensatz zur damaligen Linie der SPD gerieten (Schumacher charakterisierte zum Beispiel den Schuhmann-Plan als »supranationalen klerikalistischen Monopolismus«). Diese Wende zur offenen Kollaboration wurde zwischen dem Tode Böcklers und der Wahl eines neuen Bundesvorsitzenden auf dem ausserordentlichen Kongress des DGB in Essen am 22./23. Juni 1951 vorgenommen, auf dem im übrigen als Kompromisskandidat Christian Fette, der Chef der IG Druck & Papier, zum Vorsitzenden gewählt wurde. Von Seiten der Regierung war man allerdings nicht mehr bereit, den Gewerkschaften für diese Mitarbeit auf dem immernoch heissumstrittenen Gebiet der Mitbestimmung, d. h. dem Versuch seitens des DGB, die Montanregelung (paritätische Mitbestimmung) auf alle Industriebereiche auszudehnen, Zugeständnisse zu machen. Aber an einer Radikalisierung der Gewerkschaften konnte ihr nicht gelegen sein, vor allem, da die westdeutsche Wirtschaft seit Mitte 1951 dank des wirtschaftlichen Aufschwungs in verstärkte Klassenkämpfe zu geraten drohte. Es war deshalb auch nicht zufällig, dass in diesem Jahr mit dem hessischen Metallarbeiterstreik der erste grosse organisierte Lohnstreik nach dem Kriege stattfand. Charakteristisch auch hier wieder das exemplarische Vorgehen der Gewerkschaften, das quasi später das Muster späterer »gewerkschaftlicher Kämpfe« darstellt. Die IG Metall hatte als stärkste Einzelgewerkschaft nicht zufällig die Position, massgebliche Gewerkschaft bei allen Lohnauseinandersetzungen zu sein (übrigens bis heute). Sie war und ist die grösste Einzelgewerkschaft des DGB wie der westlichen (»freien«) Welt überhaupt. Schon 1950 zählte sie über 1 Millionen Mitglieder, 1965 überschritt ihre Mitgliederzahl die Zweimillionengrenze. Ihre Tarifverträge galten für mehr als die Hälfte der Industrie, in der 47 % aller Industriearbeiter 40 % des industriellen Gesamtumsatzes und 60 % aller Industrieexporte erarbeiteten (Zahlen für 1965). Abgesehen von einzelnen Streiks anderer Schwestergewerkschaften lag von nun an die Hauptaktivität der Streiks in ihrem Ressort. Nicht zuletzt deshalb widerspiegelt sie sicher das Spektrum des DGB-Gewerkschaftsopportunismus, die stets die »linke« Variante, die vor allem in den 50er-Jahren und Anfang der 60er-Jahre in Otto Brenner ihren wichtigsten Exponenten fand.

Erstaunlich aktuell mutet der hier nur knapp wiederzugebende Streikverlauf der hessischen Metallarbeiter an: der Lohnbewegung in Hessen war im Juli eine lebhafte Debatte über die Notwendigkeit der Stabilisierung der Löhne und Preise in der BRD vorausgegangen, an der sich neben der Regierung auch die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften beteiligten. In altbekannter Manier forderte der damalige Finanzminister Blücher in einer Rede das sofortige Einfrieren der Löhne und auch – rein rethorisch natürlich – das der Preise, und er wies darauf hin, dass eine nicht zur Ruhe kommende »Lohn-Preis-Spirale« (auch die trieb damals schon ihr Unwesen) zur ernsten Gefährdung der westdeutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt führen müsse. Man sieht die erstaunliche Dauerhaftigkeit und Invarianz kapitalistischer Politik: die Namen wechseln – die Geschichte wird eben von Menschen gemacht – aber die bekannten Rahmenbedingungen bleiben, in denen sich die Bourgeoisie mit den stets gleichen Argumenten zu rechtfertigen sucht.

Diese Auseinandersetzungen fanden unter allgemeinen Bedingungen des Wirtschaftsaufschwungs statt, die man als die normalen Verhältnisse des Kapitalismus der folgenden Jahre bezeichnen muss. Die Zahl der Beschäftigten war auf 14,8 Millionen gestiegen und die Arbeitslosenzahl auf immerhin nur 1,3 Millionen gesenkt worden. Zum ersten Mal nach 1945 führte die BRD mehr aus als ein. Wie praktisch in jeder kapitalistischen Aufschwungsphase stiegen die Stundenlöhne der Industriearbeiter relativ stark (im Verlauf des ersten Halbjahrs 1951 um ungefähr den gleichen Faktor wie im gesamten Jahr 1950). Die Gewerkschaften hatten im Juli 1951 mehr als 150 Tarifverträge gekündigt, umso bedeutungsvoller mussten die Auseinandersetzungen um den Tarifvertrag in Hessen sein. Eine im August abgehaltene Urabstimmung erbrachte mit 90 % eine entschiedene Bekundung des Streikwillens der Arbeiter. Nachdem verschiedene Vermittlungsversuche der hessischen Regierung gescheitert waren, brach der Streik am 27.August aus. Doch die bereits eingeschlagene Streiktaktik zeigte, dass die IG Metall es nicht auf einen Kampf auf Biegen und Brechen ankommen lassen wollte, denn nur in besonders ausgesuchten Betrieben wurde die Arbeit niedergelegt. Die Streikstrategie wurde noch umständlicher, als sie einer Reihe von örtlichen Verwaltungen im Streikgebiet gestattete, mit bestimmten Firmen Sonderverhandlungen zu führen und besondere Vereinbarungen zu treffen.

Gegen Ende August schaltete sich der SPD-Ministerpräsident in die Auseinandersetzung ein. Bei der erneuten Zusammenkunft der Tarifkommission am 5.September 1951 lehnten es die Kapitalisten ab, mit den Gewerkschaften zu verhandeln, solange diese an eine Aussetzung des Streiks nicht denken würden. Die Unternehmer waren nur zu geringfügigen Zugeständnissen bereit. Am 6. September streikten – hauptsächlich in den Grossbetrieben Hessens – insgesamt 80 000 Arbeiter und Angestellte. Die BRD erlebte damit ihren ersten grossen Lohnstreik. Diese Form der lohnpolitischen Auseinandersetzung hatte es in Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Um so leichter fiel es der Regierung und den Kapitalisten durch die Presse und anderer Mittel grosse Teile der nichtproletarischen Bevölkerung gegen die Gewerkschaftsaktion mobil zu machen. Bundes- und Landesregierung versuchten als »Schlichter« sich an der Klassenauseinandersetzung unmittelbar zu beteiligen. Dem hessischen Ministerpräsidenten gelang es, am 15. September Kapitalisten und Gewerkschaftsfunktionäre zu Verhandlungen zusammenzubringen, die sich mit der Frage eines Schiedsgerichtes mit anschliessendem Schiedsspruch beschäftigten. Das Schiedsgericht entschied in einem Sinne, dass den gewerkschaftlichen Forderungen natürlich keineswegs entsprach. Und obwohl man seitens der Gewerkschaften anfangs verlauten liess, dass man einen Entscheid nur unter dem Vorbehalt annähme, den Schiedsspruch erst den Gewerkschaftsmitgliedern vorlegen zu können, empfahl die IG Metall nach heftigen Auseinandersetzungen auf Führungsebene in einem Flugblatt den Streikenden die Annahme des Schiedsspruchs. Bei den Streikenden fand dieser jedoch keinesfalls Beifall. Es war offensichtlich, dass die Führung der IG Metall einer schärferen Auseinandersetzung ausgewichen war. Es war auch klar, dass das Ergebnis des Streiks in Hessen für die anderen Tarifgebiete Normen setzen würde und dass die IG Metall in den anderen Bezirken zu keinerlei Wiederholung des Streiks bereit war. In dieser Situation stand sich radikale Basis und eine insgesamt wenig streikfreudige Gewerkschaftsführung gegenüber. Die Urabstimmung ergab eine Ablehnung des Schiedsspruchs mit 63,1 % der abgegebenen Stimmen. Bezieht man allerdings die Neinstimmen, wie es die IG Metall bei der ersten Urabstimmung auch tat, auf die Zahl der abgegebenen Stimmen, so betrug die Ablehnungsquote sogar 79,2 %. Allein durch diesen verfahrenstechnischen Trick lag man unter dem Quorum von 75 % und so galt der Schiedsspruch als angenommen und der Streik als beendet. Wie gesagt: dieser Streikverlauf wurde etwas ausführlicher geschildert, da er praktisch als erster gleichsam das klassische Modell für alle späteren gewerkschaftlichen Aktivitäten der opportunistischen Führung darstellt. Durch eine übergrosse Basisaktivität legitimiert, zeigen die Funktionäre dennoch kein anderes Interesse als die ganze Aktion allmählich versanden zu lassen, ohne dem berechtigten Interesse der Lohnabhängigen nach Verbesserung ihrer materiellen Bedingungen auch nur Rechnung zu tragen, von einer Perspektive auf Brechung des Lohnsystems wegen der systembedingten Grenzen des Lohns als Preis der Ware Arbeitskraft ist natürlich ganz zu schweigen. Vielmehr war man bei den Streiks in Hessen wie auch später stets eifrig darauf bedacht, die vor allen Dingen in wirtschaftlichen Aufschwungsphasen für das Kapital so wichtige Ruhe an der »Lohnfront« so weit wie möglich herzustellen und allgemein die Basisaktivitäten mehr oder weniger auf Scheinprobleme wie der Mitbestimmung abzulenken.

Es ist deshalb auch kein Zufall, dass just zum selben Zeitpunkt der »heroische« Kampf zur endgültigen Montanregelung mit grossem Getöse wieder aufgenommen und im Frühjahr 1952 in bekannter Manier von den Gewerkschaftsfunktionären inszeniert wurde: Komparsen und Statisten waren dabei die wieder mit grossem Kriegslärm und -geschrei in die vermeintlich entscheidende Schlacht geführten Arbeiterbatallione. Kundgebungen und eifrige Pressekampagnen sorgten fürs nötige Kampfgeläute. Mit teilweise erstaunlicher verbaler Radikalität putschten die sonst so gemässigten und ruhigen Funktionäre die Massen auf, immer aber sorgfältig den Punkt im Auge behaltend, bei dem man die schäumenden Wogen noch unter Kontrolle halten konnte. Bezeichnend dafür ein Kommentar eines ehemaligen führenden DGB-Gewerkschaftlers:
»Die Gewerkschaftsführer haben durch diese Mobilisierung der Demokratie der Füsse – der Demonstration – der Opposition in der repräsentativen Demokratie einen bedeutenden Dienst erwiesen. Sie haben eine Form der Opposition gefunden, von der weder die Regierung noch die Gewerkschaftsführer fürchten müssen, dass sie zu revolutionären Aktionen führt«. ( Pirker, »Die blinde Macht«, Bd. 1, S. 259)

Bezeichnend für die radikalen Töne an der Gewerkschaftsspitze – der Vorsitzende des DGB, Fette, sprach sogar auf einer Demonstration von Generalstreik – ist die Tatsache, dass in übertragener McCarthy-Manier der DGB und die einzelnen Gewerkschaften 1952 die letzten Stalinisten auch von den kleinsten Funktionärsposten gesäubert haben, indem sie vor die Alternative gestellt wurden, entweder ein Revers zu unterschreiben, in dem sie sich verpflichteten, keine Weisungen einer Instanz ausserhalb der Gewerkschaften zu folgen oder andernfalls ihren Funktionärsposten aufzugeben. Die KPD verbot ihren Mitgliedern Verpflichtungen solcherart zu unterschreiben. Gleichzeitig gingen die Vorstände der einzelnen Gewerkschaften gegen alle Funktionäre vor, die sich an irgendwelchen »kommunistisch« gelenkten Aktionen beteiligten.

Mit so von den Stalinisten – und mit ihnen verschwanden selbstverständlich auch andere, im wahrsten Sinne des Wortes klassenkämpferische Elemente – gesäuberten Gewerkschaften, mit offen kollaborationistischer Zielsetzung seitens der opportunistischen Funktionäre setzte man also 1952, ähnlich wie schon in früheren Jahren, mit scheinbar radikalen, teilweise sogar noch pseudorevolutionären Tönen zum »Endsturm« gegen den Kapitalismus an, um jetzt endlich mit der Mitbestimmung einen ebenbürtigen Platz neben den Kapitalisten zu finden. Letztere hielten es allerdings mit der Arbeitsteilung: ihr Geschäft sollte alles Wirtschaftliche sein und bleiben, das Soziale und vieles Andere, was der Disziplinierung und Integrierung des Proletariats dienlich war, überliess man den Gewerkschaften, denn trotz dem berühmten Druckerstreik, den man allerdings tunlichst wieder stoppte als sich auch nur die kleinste Chance von Verhandlungsbereitschaft seitens der Regierung zeigte, waren die Kapitalisten in diesem Punkt zu keinen Konzessionen mehr bereit. In einem äusserst erstaunlichen Schnellverfahren absolvierte der Regierungsentwurf des BVG (Betriebsverfassungsgesetz) im Sommer 1952 das sonst durchaus schleppende Gesetzgebungsverfahren und schuf für die verdutzten Gewerkschaftler die bekannte »normative Kraft des Faktischen«. Aber diese scheinbare Niederlage der Gewerkschaften hatte auch ihr Gutes: die Funktionäre konnten – und sie haben es in späteren Jahren auch reichlich getan – die leidliche Mitbestimmungsfrage immer auf kleiner Flamme halten, um sie bei entsprechender Gelegenheit wieder mit nötiger Energie als scheinbaren Entscheidungsschlag des Proletariats zu nutzen und ihm vorzugaukeln, damit würde sich auch nur ein Deut an seiner materiellen Situation ändern, wobei als Effekt dieses raffinierten Trugspiels nur die noch stärkere Integrierung des Proletariats in den Kapitalismus bewirkt wird. Und dank der erbitterten Widerstände durch die Kapitalisten wird die Gewerkschaftsbürokratie auch tatsächlich in die Lage versetzt, selbst die kleinsten »Fortschritte« in dieser Frage als den Sieg des Proletariats herauszukehren.

Mit der Verabschiedung des BVG am 19. 07. 1952 war gleichsam die Phase der politischen Konsolidierung der kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung in der BRD abgeschlossen. Verstärkt wurde dies noch durch die Ergebnisse der 2. Bundestagswahl vom 9. September 1953, bei der die CDU/CSU ihren Stimmenanteil von 31 % auf 45,2 % erhöhen konnte, die SPD nur 0,4 Prozentpunkte auf 29,2 % kam, die stalinistische KPD mit 2,2 % ihre Isolierung vorgeführt bekam. Aufgrund eines veränderten Wahlgesetzes zog die CDU/CSU zudem noch mit 244 Mandaten ins Parlament, was die absolute Mehrheit für sie bedeutete.

Die Zeit für eine ruhigere Demagogie, angesichts der sich füllenden Bäuche, war offensichtlich für die Gewerkschaftsführer gekommen und sie fanden sich auch recht schnell in das ihnen von den Kapitalisten zugewiesene, traditionell reformistischen Gewerkschaftsvorstellungen auch eher entsprechende Gebiet der Sozialpolitik zurecht. Sicher werden nicht wenige dieser »Versammlungsrevolutionäre«, die sich dank der entwickelnden Wirtschaftsprosperität abzeichnende ruhigere Gangart mehr als begrüsst haben. Man konnte gleichsam – wenn auch nicht sofort – zum weit beschaulicheren Funktionärsdasein zurückfinden, ohne in vermeintlich radikalen Situationen sein sich doch so nach Ruhe sehnendes Gemüt durch irgendwie geartete klassenkämpferischen Töne beunruhigen zu müssen. Selbstverständlich gingen einige hartgesottene »linke« Opportunisten in diesem Umstellungsprozess baden. Figuren wie zum Beispiel Viktor Aggartz, der eigentliche Chefideologe der ersten »radikalen« Gewerkschaftsperiode, waren einfach zu wenig flexibel, oder besser vielleicht, geistig zu sehr in diese Phase als Akteure involviert, als dass sie, wie der Durchschnittsopportunist, ihr Fähnchen nach der jeweiligen Windrichtung ausrichten konnten.

V. DGB 1955–65: Von scheinbarer Aktion zur offenen Integration

Seinen Ausdruck fand dieser Wandel vom »maximalistischen Reformismus« im 1955 verabschiedeten Aktionsprogramm, dessen Anstoss im übrigen von der »linken« IG Metall ausging. Effektiv war dies eine stille, vorweggenommene Programmänderung, obwohl die Entwicklung noch nicht so weit geartet war, dass man offen von dem scheinradikalen Grundsatzprogramm von 1949 abrücken konnte. Jetzt gab’s eben für jeden etwas. Für die Avantgarde des gewerkschaftlichen Reformismus war das Aktionsprogramm der adäquate Ausdruck der veränderten Zeitverhältnisse, die hartgesottenen »Klassenkämpfer« konnten sich im Zweifelsfalle natürlich immernoch auf die alte Programmatik berufen.

Das zur Feier des Tages am 1. Mai 1955 verkündete Aktionsprogramm beschränkte sich – natürlich bei Beibehaltung der Mitbestimmungsforderung – im übrigen auf die traditionellen tarif- und sozialpolitischen Forderungen. Die Hauptpunkte des Aktionsprogramms waren:
• Kürzere Arbeitszeit (Fünf-Tage-Woche bei vollem Lohn- und Gehaltsausgleich mit täglich achtstündiger Arbeitszeit)
• Höhere Löhne und Gehälter (Hebung des Lebensstandards wie Lohn- und Gehaltserhöhung für Arbeiter, Angestellte und Beamte; gleiche Entlohnung für Männer und Frauen (d. h.Gleicher Lohn für gleiche Arbeit); Urlaubsgeld; Weihnachtszuwendungen; Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle auch für Arbeiter)
• Grössere soziale Sicherheit (Sicherung des Arbeitsplatzes; ausreichende Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, Unfall, Krankheit; Altersversorgung)
• Gesicherte Mitbestimmung (gesetzliche Regelung der paritätischen Mitbestimmung für alle Betriebe und Verwaltungen)
• Verbesserter Arbeitsschutz (ausreichende Ausbildungsmöglichkeiten für die Jugend)

Das Aktionsprogramm bedeutete eine scheinbare Hinwendung zu konkreten Nahzielen, erreichbar innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung, und eine Beschränkung auf Forderungen, die das unmittelbare Interesse am steigenden Lebensstandard zur Folge hatten. In diesem Zusammenhang war auch die Mitbestimmung jetzt kein systematisches, »gesellschaftsveränderndes« Programm mehr, sondern zielte auf die Ausbreitung gewerkschaftlichen Einflusses im gegebenen kapitalistischen Rahmen. Angesichts stagnierender Mitgliederzahlen bei gleichzeitig sinkendem Organisationsgrad hoffte man, mit dem Aktionsprogramm die Organisationsbindung der Mitglieder zu verstärken, um bei potentiellen Mitgliedern eine grössere Werbewirksamkeit zu erzielen. Schon in der Geburtsstunde des Aktionsprogramms hat also der Gedanke der Propaganda eine grössere Rolle gespielt als die Wirklichkeit der Aktion. Das Aktionsprogramm des DGB hatte konsequenterweise deshalb auch von Anfang an eine sichtbare Schwäche: es sprach nicht von der Art der Aktion, die notwendig oder die durchzuführen die Gewerkschaften entschlossen waren um die einzelnen Forderungen durchzusetzen. Das Aktionsprogramm der Gewerkschaften war hinsichtlich dieser Frage ausserordentlich unklar – es war leer. Aber hinsichtlich einiger Punkte war dies – wie es sich später verstärkt zeigen sollte – noch nicht einmal inkonsequent: die Jahre wachsender Prosperität 1955–1965 ersparten den vorher so geplagten Gewerkschaftsfunktionären einen Grossteil ihres Geschäftes. Wachsende Vollbeschäftigung und zunehmende Auslastung der Kapazitäten, wie überhaupt die allgemein günstige Wirtschaftslage der nun anbrechenden Phase, erbrachten für das Kapital einen nahezu automatischen Zwang in wesentlichen Punkten Zugeständnisse zu machen. Der Faktor Lohnarbeit erlangte auch ohne, oder besser trotz der Politik der Gewerkschaftsführung im Akkumulationsprozess einen immer machtvolleren Stellenwert. Charakteristisch ist höchstens für diese Periode die zunehmende Spanne zwischen Effektiv- und Tariflöhnen, was genügend über die eigentlichen Aktivitäten der Gewerkschaft aussagt. Auch das damals so gefeierte, im Juni 1956 zwischen Metallindustrie und IG Metall abgeschlossene Bremer Abkommen über die Arbeitszeitordnung war den Gewerkschaften praktisch in den Schoss gefallen. Nach diesem Abkommen sollte in der Metallindustri die 45-Stunden-Woche, mit vollem Lohn- und Gehaltsausgleich ab 1. Oktober 1956 eingeführt werden. In einem nicht festgelegten Stufenplan wollte man später bis zur 40-Stunden-Woche herabgehen.

Das Bremer Abkommen kann möglicherweise als das so oft gefeierte sozialgeschichtliche Ereignis eingestuft werden. Aber es war nicht das Ergebnis einer Kette gewerkschaftlicher Erfolge seit der Proklamation des Aktionsprogramms oder etwa Ausdruck eines harten gewerkschaftlichen Kampfwillens, sondern das Resultat völlig veränderter allgemeiner wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse in der BRD. Denn hier war im Wesentlichen folgende gesetzmässige Entwicklung wirksam, die Marx so beschreibt:
»Je mehr die Produktivkraft der Arbeit wächst, umsomehr kann der Arbeitstag verkürzt werden, und je mehr der Arbeitstag verkürzt wird, destomehr kann die Intensität der Arbeit wachsen«. (in: Das Kapital, MEW, Bd. 23, S.552)

Und nicht nur war dieser so bejubelte Erfolg mehr Resultat immanenter kapitalistischer Gesetzmässigkeit sondern es schlug letztlich trotz scheinbarer äusserlicher Vorteile auf die Arbeiter zurück. Mit zunehmender Notwendigkeit des Übergangs von extensiver zu intensiver Ausbeutung, vom absoluten zum relativen Mehrwert, fiel der Arbeitstag nur quasi in sich zusammen, um dank der Steigerung von Arbeitsintensität und Arbeitsproduktivität innerhalb der sich verkürzenden Arbeitszeit die Mehrarbeit zunehmend zu vergrössern. Auch hier im Effekt also letztlich ein mehr als fragwürdiger Erfolg.

Wie schon bei dieser Initiative, so war überhaupt die tragende Figur dieser Zwischenetappe vom »Radikalismus« zur offenen Systembejahung der »linke« IG-Metall-Chef Otto Brenner. Auch an der Spitze des DGB repräsentierte diese Phase seit Oktober 1956 ein neuer Kompromisskandidat, der Sachbearbeiter für Sozialpolitik im GBV und SPD-Bundestagsabgeordnete Willi Richter, und dies war sicher nicht zufällig. Waren früher Gewerkschaften wie SPD krampfhaft bemüht gegenüber der faktischen Regierungspolitik scheinbare Alternativen aufzuweisen, so brach jetzt der heute allseits bekannte Wettstreit bei gleicher Programmatik an: die besseren Deutschen und die besseren Antikommunisten – daran durfte niemand zweifeln – mussten die Sozialdemokraten und die führenden Gewerkschaftler sein.

Natürlich verliefen die hier gerafft geschilderten Vorgänge in Etappen und unter anfangs immer wieder erneut ausbrechenden scheinradikalen Windungen ab. Der »Entpuppungsprozess« bei einer Massenorganisation wie dem DGB konnte selbstverständlich nur unter langwierigem inneren Umbau und ideologischen Übergangsphasen vor sich gehen. Beschleunigend wirkte aber immer wieder der sich in einem schnellen Konsolidierungsprozess befindliche prosperierende Kapitalismus, in dem sicher nicht zufällig die CDU/CSU mit ihrer Parole »keine Experimente« beim Bürger Anklang fand, da er, vielfältigen Schrecken und materiellem Elend durch Faschismus und Nachkriegsjahren entronnen, sich erst jetzt in der »Wiederaufbauphase« wieder einen behaglichen kleinbürgerlichen »Luxus« leisten konnte. Beschleunigend auf diese Metamorphose der Gewerkschaften wirkte sich besonders die erneute Wahlniederlage der SPD in der Bundestagswahl 1957 aus, in der die CDU/CSU jetzt auch mit 55 % der Stimmen auch die absolute Mehrheit nach Stimmenanteil errang (die KPD wurde 1956 verboten).

Für wache Strategen, sowohl in den Gewerkschaften als auch der SPD, war hiermit das Signal zur radikalen »Erneuerung« ihrer Organisation gegeben. Bei der SPD wurde endgültig das Konzept der »Volkspartei« aus der Taufe gehoben: sie sollte sich bis zum nächsten Wahlgang, so die Absicht, für den Bundestag so radikal reformieren, dass die Wahlentscheidung für die Wähler keine Alternative mehr darstellte – auch wenn sie vorher nur eine Scheinalternative gewesen war, so setzte sie sich aber doch stets bewusst von der CDU-Politik ab –, sondern nur noch eine Wahl zwischen zwei sich nur partiell unterscheidenden Parteien. Dies hatte natürlich, dank der engen Verbindungen zwischen DGB und SPD seine entsprechenden Auswirkungen auf die Gewerkschaften. Es mag als Symptom gewertet werden, dass es gerade gewerkschaftliche Spitzenfunktionäre waren, die nach der Wahl die radikalsten Auffassungen im Hinblick auf eine Parteienreform und damit natürlich verbunden auch eine Reform des DGB vertraten. Einer von ihnen war der als besonders »radikal« verschrieene erste Vorsitzende des DGB in Bayern, Max Wönner.

Der entscheidende Wandel wurde aber trotzdem zunächst bei der SPD durchgesetzt. Mitte Mai 1958 hält die SPD in Stuttgart ihren Parteitag ab. Der grössere Teil der Debatten beschränkt sich auf die Parteireform, auf den Inhalt des neuen Programms. Auch hier waren wieder die vermeintlichen »linken« Parteifunktionäre die Drahtzieher im Hintergrund. In der westdeutschen Presse wurde seinerzeit dieser Stuttgarter Parteitag der SPD besonders deswegen als ein Sieg der »Linken« in der SPD aufgefasst, weil Herbert Wehner, der von der CDU, vom Bundeskanzler und der Presse als »radikaler Sozialist« wenn nicht sogar als »verkappter Kommunist« angesehen wurde, zum stellvertretenden Vorsitzenden der Partei avancierte. In der Tat war er einer der Hauptvertreter der SPD-Entwicklung hin zur »Volkspartei«. Zu den neuen Mitgliedern des SPD-Parteivorstands zählte auch Willy Brandt. Diese spätere sozialdemokratische »Führergestalt« war vor allen Dingen durch die Berlin-Krise ins Rampenlicht geraten und keineswegs von seiner Partei, sondern vielmehr von den Amerikanern durch eine weltweite Propaganda aufgebaut worden. Unter der Ägide dieser »Führungsgestalten« ergab sich Brett für Brett die neue Plattform der SPD: entschlossener Antikommunismus, nationale, überparteiliche Aussenpolitik, unbedingte militärische Bündnistreue, keine wirtschaftspolitischen Experimente – von jetzt an bekennt sich die SPD offen zur »freiheitlichen Wirtschaftsordnung, zur Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen, und für eine Beschränkung des Gemeineigentums auf die Grundstoffindustrien und die Energiewirtschaft« sowie zu einer vorsichtigen Verbesserung der Sozialpolitik.

Diese Grundsätze wurden im Oktober 1959 auf dem ausserordentlichen Parteitag in Bad Godesberg in dem danach benannten Programm abgesegnet, und wie weit die Entwicklung zur »Volkspartei« bei den Mitgliedern fortgeschritten war, dies zeigt sich an der überraschenden Einmütigkeit mit der die SPD diese Programmänderung akzeptierte. Mit diesem Parteitag sorgte die SPD aber endlich für Klarheit. Der praktisch von Anfang an in der Geschichte der SPD bestehende Konflikt zwischen radikaler Wortgewaltigkeit und reformistischer Praxis wurde aufgehoben. Die SPD hörte nun auch ganz offiziell auf, eine »antikapitalistische« und eine »sozialistische« Partei zu sein. Es wäre deshalb falsch, dem Godesberger Programm mehr geschichtliche Bedeutung zuzuschreiben als lediglich einer Absegnung der bisher bestehenden Praxis. Dieses Programm war nur der Schlussstrich unter den langen Katalog von politischen Akten, durch die die SPD die bestehende Staats- und Wirtschaftsordnung schon lange vorher anerkannt hat und sich als bewährter »Krisenmanager« in für das Kapital gefährlichen Situationen erwiesen hatte.

Mit zeitlicher Verzögerung wirkte sich diese Entwicklung auch auf den DGB aus. Den ersten Schritt zur anstehenden Programmreform des DGB unternahm, als gleichsam neuer Chefideologe des offenen Reformismus, im September 1959 Ludwig Rosenberg. Es sollte allerdings noch bis 1963 dauern, bis die Gewerkschaften mit einem neuen Grundsatzprogramm diese Entwicklung abschlossen. Und einer der Hauptakteure dieser Richtung, besagter Rosenberg, wurde 1962, also genau ein Jahr zuvor zum neuen DGB-Bundesvorsitzenden gewählt. Mit dem neuen Programm von 1963 setzten die Gewerkschaften verstärkt die Tradition der Übernahme wirtschaftspolitischer Vorstellungen à la Keynes fort und ironischerweise war dies praktisch die einzige Hauptdifferenz zur Regierungspolitik, die sich damals noch neoliberalen Glaubenssätzen verpflichtet fühlte. Der Keynesianismus konnte von den Gewerkschaften sicher nicht zuletzt deshalb so bereitwillig akzeptiert werden, weil er zum einen das Problem der Vollbeschäftigung im Kapitalismus für grundsätzlich lösbar ansieht und zum anderen in der Nachfrage der Konsumenten eine wirksame Stütze des wirtschaftlichen Wachstumsprozesses sieht.

Übergeordnetes Ziel des neuen Grundsatzprogramms war jetzt auch ausgewiesenermassen nicht mehr die »grundlegende Veränderung« der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Modernisierung und »Verwissenschaftlichung« der Wirtschaftspolitik zur »Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums und der Vollbeschäftigung« war jetzt Ziel. So heisst es gleich zu Beginn:
»Die Wirtschaftspolitik muss auf die volle Entfaltung und Nutzung aller produktiven Kräfte gerichtet sein. Alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und politischen Möglichkeiten sind planmässig zur Vermeidung von Konjunktur- und Beschäftigungsschwankungen anzuwenden«.

Die »Wirtschaftspolitischen Grundsätze« im ersten Teil des neuen Grundsatzprogramms lesen sich über weite Strecken wie eine Vorwegnahme der späteren Wirtschaftspolitik unter dem Keynesianer und SPD-Politiker Schiller (der später übrigens zur CDU übertrat und sich in die Dienste Springers stellte) nach 1966 praktiziert wurde und im »Stabilitäts- und Wachstumsgesetz« von 1967 ihren gesetzlichen Ausdruck fand. Als Ziele der Wirtschaftspolitik werden aufgeführt:
• Vollbeschäftigung und stetiges Wirtschaftswachstum
• gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung
• Stabilität des Geldwerts
• Verhinderung des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht
• internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Die zentralen Punkte des Münchner Programms – Planung, Gemeineigentum und Mitbestimmung – sind in diesem, im übrigen mehr zufälligen und relativ beliebig zu verlängernden Zielen nicht enthalten. Oberstes Ziel ist – wie früher allerdings auch verklausuliert – die kurz- und langfristige Stabilisierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die unternehmerische Investitionsautonomie wird grundsätzlich akzeptiert. So wird im Zusammenhang mit der auch schon damals aufgestellten Forderung nach Investitionslenkung – die auch trotz jeweilig grosser Aufregung bei Aufstellung dieser Forderung mehr mit Keynes und schon garnicht mit Marx zu tun hat – ausdrücklich festgelegt, dass unbeschadet der globalen Beeinflussung der privatwirtschaftlichen Investitionstätigkeit »die letzte Entscheidung über Art und Umfang der Investitionen aus dem Bereich des einzelnen Unternehmens« nicht herausgenommen werden soll. Auch ideologisch war so die völlige Unterordnung unter die Bedürfnisse des Kapitals vollzogen.

In den frühen 60er-Jahren lief im grossen Ganzen alles seinen gemächlichen Gang, kaum Streiks oder sonstige spektakuläre Ereignisse störten die jetzt friedlich abgeschlossene offen prokapitalistische Funktion des DGB, der als Quasi-Staatsgewerkschaft vornehmlich die wichtigste aller Waren für den Reproduktionsprozess, nämlich die Ware Arbeitskraft, fürs Kapital im optimalsten Sinne managte. Und es gelang dem DGB auch mit bemerkenswerter Konsequenz, in der für Arbeiterforderungen stets günstigen Zeit wirtschaftlicher Prosperität alle grösseren autonomen Klassenbewegungen auszuschalten, was für die heutige Zeit relativ lethargischer und verunsicherter Arbeiterreaktionen auf die stets erneuerten Angriffe der Bourgeoisie nicht ohne Bedeutung ist.

Gestört wurde die scheinbare Idylle früherer Jahre einer scheinbar immerwährenden Prosperität mit den für sie unerwarteten Auftauchen nationaler und internationaler Krisen (1966/67 und 1972/73). Jetzt wurden die DGB-Gewerkschaften aufgrund der sich erneut abzeichnenden durch wirtschaftliche Zwänge erzeugten Anzeichen sich belebender sich selbständig entwickelnder Klassenkämpfe gezwungen, prompt ihre an die Mitglieder gerichteten Verlautbarungen wieder in einer radikaleren Sprache abzufassen. Weiss man um die Geschichte des DGB, so bekommt man jedoch eine Ahnung vom Zweck solcher verbalen Gangart, die einzig dem Ziel untergeordnet ist, das Proletariat der Botmässigkeit und Willkür des kapitalistischen Akkumulationsprozesses auszuliefern.


Source: »Kommunistische Politik«, Nr. 9, 1994, Überarbeiteter Text von 1980

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