IBKL – Internationale Bibliothek der Kommunistischen Linken
[home] [content] [end] [search] [print]


BRIEF VON AMADEO BORDIGA AN KARL KORSCH


Content:

Brief von Amadeo Bordiga an Karl Korsch
Source


Brief von Amadeo Bordiga an Karl Korsch



Neapel, 28. Oktober 1926

Lieber Genosse Korsch,

die Fragen sind heute so schwerwiegend, dass es wirklich notwendig wäre, darüber viel und des längeren mündlich diskutieren zu können: aber unglücklicherweise werden wir diese Möglichkeit vorläufig nicht haben. Nicht einmal die Möglichkeit, Ihnen detailliert zu allen Punkten Ihrer Plattform zu schreiben, von denen einige Anlass zu einer nützlichen Diskussion zwischen uns geben könnten. Zum Beispiel scheint mir, dass Ihre »Weise des Sich-Ausdrückens« über Russland nicht gut ist. Man kann nicht sagen, dass »die russische Revolution eine bürgerliche Revolution ist«. Die Revolution von 1917 ist eine proletarische Revolution gewesen, obwohl es ein Irrtum ist, die daraus zu ziehenden »taktischen« Lehren zu verallgemeinern. Nun stellt sich das Problem, was mit der proletarischen Diktatur in einem Lande geschieht, wenn nicht die Revolution in den anderen Ländern folgt. Es kann eine Konterrevolution geben, es kann eine von aussen kommende Intervention geben, es kann einen degenerativen Verlauf geben, dessen Symptome und Reflexe innerhalb der kommunistischen Partei es zu entdecken und zu definieren gilt. Man kann nicht einfach sagen, Russland sei ein Land, in dem der Kapitalismus sich ausdehne. Die Sache ist sehr viel komplexer: es handelt sich um neue Formen des Klassenkampfes, für die es keine historischen Präzedenzfälle gibt. Es geht darum, zu zeigen, dass die gesamte von den Stalinisten vertretene Konzeption des Verhältnisses zu den Mittelklassen ein Verzicht auf das kommunistische Programm ist. Es schiene, Sie schlössen die Möglichkeit einer Politik der russischen kommunistischen Partei aus, die nicht der Restauration des Kapitalismus gleichkäme. Dies liefe darauf hinaus, Stalin eine Rechtfertigung zu geben oder die unannehmbare Politik des »Machtabtritts« zu unterstützen. Man muss hingegen sagen, dass eine korrekte Klassenpolitik in Russland möglich gewesen wäre ohne die Reihe ernster Fehler in der internationalen Politik, die von der gesamten »alten leninistischen Garde« zusammen begangen wurden.

Ich habe dann den Eindruck – ich beschränke mich auf vage Eindrücke –, dass Sie in Ihren taktischen Formulierungen, auch wenn sie annehmbar sind, einen zu übermässigen Wert der Suggestion der objektiven Lage beimessen, die heute nach links gewendet scheint. Sie wissen, dass wir, die italienischen Linken, beschuldigt werden, die Situationsanalyse zu negieren: dies ist nicht wahr. Dennoch ist es unser Ziel, eine wirklich allgemeine und nicht zufällige linke Linie zu konstruieren, die sich auf sich selbst zurückbezieht im Durchgang durch Phasen und Entwicklungen von zeitlich voneinander entfernt liegenden und verschiedenen Situationen, ihnen allen auf dem guten revolutionären Terrain gegenübertritt, und gewiss nicht deren unterschiedliche objektive Merkmale ignoriert.

Ich komme ohne Umschweife zu Ihrer Taktik. Um mich mit abkürzenden und nicht offiziellen Formulierungen auszudrücken, werde ich sagen, dass sie mir noch zu elastisch und zu bolschewistisch in den internationalen Parteibeziehungen zu sein scheint. Die gesamte Erklärung, mit der Sie das Verhalten gegenüber der Fischer-Gruppe rechtfertigen, d. h. dass Sie darauf rechneten, sie nach links zu schieben, oder, wenn sie sich weigerten, sie vor den Augen der Arbeiter abzuwerten, überzeugt mich nicht, und es scheint mir, dass es auch faktisch keine guten Ergebnisse erbracht hat. Im allgemeinen denke ich, dass heute – mehr als die Organisation und das Manövrieren – in erster Linie die Vorfragen klärende Arbeit zur Erarbeitung der politischen Ideologie der internationalen Linken stehen muss, die auf den beredten Erfahrungen basiert, die die Komintern durchlaufen hat. Da man in diesem Punkt sehr zurück ist, wird es um jede internationale Initiative schwierig bestellt sein. Ich füge Ihnen einige Anmerkungen über unsere Position zu den Fragen der russischen Linken bei. Es ist interessant, dass wir die Dinge verschieden gesehen haben: Sie, die Sie sehr misstrauisch Trotzki gegenüber waren, sind sehr schnell beim Programm der uneingeschränkten Solidarisierung mit der russischen Opposition angelangt, wobei Sie mehr auf Trotzki als auf Sinowjew setzten (ich teile mit Ihnen diese Präferenz). Heute, da sich die russische Opposition hat unterwerfen müssen, sprechen Sie von einer Erklärung, in der man sie attackieren müsste, da sie das Banner hat fallen lassen. Dies ist eine Sache, der ich nicht zustimmen würde, während wir vorher nicht geglaubt haben, uns unter diesem, von der russischen Opposition gehaltenen Banner zu »verschmelzen«.

Sinowjew und vor allem Trotzki sind Menschen, die viel Realitätssinn besitzen. Sie haben verstanden, dass man noch Schläge einstecken muss, ohne zur offenen Offensive überzugehen. Wir haben noch nicht den Augenblick der endgültigen Klärung erreicht, weder was die äussere, noch was die innere Situation betrifft.

1 – Die Position der russischen Linken im Hinblick auf die Direktiven der Staatspolitik der russischen kommunistischen Partei werden von uns geteilt. Die von der Mehrheit des Zentralkomitees vertretene Richtung wird von uns bekämpft als ein Schritt hin zur Degeneration der russischen Partei und der proletarischen Diktatur, der sie zum Abgehen vom Programm des revolutionären Marxismus und des Leninismus führt. In der Vergangenheit haben wir nicht die Staatspolitik der russischen kommunistischen Partei bekämpft, solange sie auf dem Boden verblieb, der den beiden Dokumenten der Rede Lenins über die Naturalsteuer und dem Bericht Trotzkis an den 4. Weltkongress entsprach. Wir akzeptieren die Thesen Lenins auf dem 2. Kongress.
2 – Die Positionen der russischen Linken zur Taktik und zur Politik der Komintern, abgesehen von der Frage der vergangenen Verantwortlichkeit vieler ihrer Mitglieder, sind unzureichend. Sie kommen dem nicht näher, was wir seit Beginn der Kommunistischen Internationale zum Verhältnis von Partei und Masse, von Taktik und Situation, zum Verhältnis von kommunistischen Parteien und anderen sogenannten Arbeiterparteien, zur Einschätzung der Alternative der bürgerlichen Politik gesagt haben. Sie nähern sich, aber nicht vollständig in der Frage der Arbeitsmethode der Internationale und der Interpretation und der Funktion der inneren Disziplin und des Fraktionismus. Befriedigend sind die Positionen Trotzkis zur deutschen Frage von 1923 und ebenso ausreichend ist das Urteil über die gegenwärtige Weltlage. Ähnliches lässt sich nicht über die Berichtigungen Sinowjews zur Frage der Einheitsfront der Roten Gewerkschafts-Internationale sagen, sowie gegenüber anderen Punkten, die zufälligen und kontingenten Charakter haben und die kein Vertrauen auf eine Taktik geben, die vergangene Irrtümer vermeidet.
3 – Bei der gegebenen Unterdrückungs- und Provokationspolitik der Führer der Internationale und ihrer Sektionen stellt jede Organisation nationaler und internationaler Gruppen gegen die Abweichung nach rechts Spaltungsgefahren dar. Man muss nicht die Spaltung der Parteien und der Internationale wollen. Man muss die Erfahrung der künstlichen und mechanischen Disziplin zu ihrem Ende kommen lassen und ihr in ihren Absurditäten des Verfahrens folgen, solange es möglich sein wird, ohne jemals auf die Positionen ideologischer und politischer Kritik zu verzichten und ohne jemals mit der vorherrschenden Richtung sich zu solidarisieren. Die ideologischen Gruppen mit einer vollständigen traditionell linken Position konnten sich nicht uneingeschränkt mit der russischen Opposition solidarisch erklären, aber sie können ihre kürzlich erfolgte Unterordnung nicht verdammen, mit der die Opposition keine Versöhnung betrieben, sondern nur die Bedingungen hingenommen hat, deren einzige Alternative die Spaltung war. Die objektive und äussere Situation ist noch so beschaffen, dass nicht allein in Russland die Tatsache, aus den Rängen der Internationale verjagt zu werden, bedeutet, noch geringere Möglichkeiten zu haben, den Verlauf des Arbeiterklassenkampfes zu verändern, als die Möglichkeiten, die sich innerhalb der Parteien bieten.
4 – Unannehmbar wäre in jedem Fall eine Solidarität und Gemeinsamkeit bei der Abgabe politischer Erklärungen mit Elementen wie Fischer etc., die, auch in anderen Parteien als der deutschen, jüngst noch verantwortlich für die Parteiführung je nach rechter oder zentristischer Richtung waren, und deren Übergehen zur Opposition mit der Unmöglichkeit zusammenfiel, die Führung einer Partei in Übereinstimmung mit dem internationalen Zentrum beizubehalten, und mit von der Internationale gemachten Kritiken an ihrem Vorgehen. Dies wäre unvereinbar mit der Verteidigung der neuen Methode und des neuen Kurses der Kommunistischen Internationale, die der des Manövrierens parlamentarisch-funktionärshaften Typus folgen muss.
5 – Mit jedem Mittel, das nicht das Recht in der Partei zu leben ausschliesst, muss die vorherrschende Richtung denunziert werden als eine, die zum Opportunismus führt und mit der Treue zu den programmatischen Prinzipien der Internationale kontrastiert, die zu verteidigen auch von uns unterschiedene Gruppen das Recht haben können, unter der Bedingung, dass sie sich die Frage stellen, die anfänglichen, nicht theoretischen, sondern taktischen, organisatorischen und disziplinarischen Fehler zu untersuchen, die die Dritte Internationale noch empfänglich für degenerative Gefahren gemacht haben. Ich glaube, dass eine der Schwächen der gegenwärtigen Internationale die gewesen ist, ein lokaler und nationaler »Oppositionsblock« zu sein. Man muss darüber nachdenken, wohlverstanden ohne zu Übertreibungen zu gelangen, sondern um aus diesen Lehren nachhaltig Nutzen zu ziehen. Lenin hielt viel Arbeit »spontanen« Sichherausbildens an, indem er darauf zählte, in der Gluthitze der russischen Revolution die verschiedenen Gruppen in groben Zügen zusammenzubringen und dann nachher erst homogen zu verschmelzen. Zum grossen Teil ist ihm dies nicht gelungen.

Ich verstehe gut, dass die Arbeit, die ich vorschlage, nicht leicht ist, da es an organisatorischen Verbindungen, an Möglichkeiten der Publikation, Propaganda etc. fehlt. Ungeachtet dessen glaube ich, dass man noch warten kann. Neue äussere Ereignisse werden kommen, und in jedem Fall rechne ich damit, dass das System des Belagerungszustands aus der Erschöpfung heraus ein Ende finden wird, bevor es uns gezwungen hat die Provokationen aufzugreifen. Ich glaube, dass wir uns diesmal nicht von der Tatsache hinreissen lassen, dass die russische Opposition einige Sätze gegen uns hat unterzeichnen müssen, vielleicht um in der qualvollen Abfassung des Dokuments an irgendeinem anderen Punkt zurückstecken zu müssen. Auch diese Reflexe gehen in die Berechnungen der »Bolschewisierer« ein. Ich werde versuchen, Ihnen Material über die italienischen Dinge zu schicken. Wir haben die Kriegserklärung nicht angenommen, die in den Suspendierungsverfahren gegenüber einigen Führungselementen der Linken bestand, und die Sache hat keine Folgen fraktionsmässiger Art gehabt. Die Batterien der Disziplin haben bisher in Watte geschossen. Es ist keine schöne Linie, die uns alle zufriedenstellt, aber es ist die weniger schlecht mögliche. Wir werden Ihnen die Kopie unseres Einspruchs bei der Internationale schicken.

Um zum Schluss zu kommen, glaube ich, dass es nicht der Fall ist, eine internationale Erklärung abzugeben, wie Sie vorschlagen, und ich glaube auch nicht, dass die Sache praktisch durchführbar ist. Ich glaube gleichwohl, dass es nützlich ist, in den verschiedenen Ländern Kundgebungen abzuhalten und Erklärungen abzugeben, die aufgrund ihres Inhalts in bezug auf die Probleme Russlands und der Komintern ideologisch und politisch parallel laufen, ohne deswegen die genauen Beweisdaten des fraktionellen »Komplotts« zu bieten, und wobei jeder frei sein Denken und seine Erfahrungen herausarbeitet.

In dieser internen Frage meine ich, dass sehr oft die Taktik des sich Von-den-Ereignissen-schieben-lassens sich als gut erweist, was in den »äusseren« Fragen sehr schädlich und opportunistisch ist. Um so mehr wegen des besonderen Spiels des inneren Machtmechanismus und der mechanischen Disziplin, die, wie ich zu glauben beharre, dazu bestimmt sind, sich von selbst zu zerbrechen. Ich weiss, dass ich unzureichend und wenig klar bin. Sie mögen mich entschuldigen und für heute freundliche Grüsse.

Amadeo Bordiga


Source: »Arbeiterbewegung. Theorie und Geschichte«, Jahrbuch 1, Fischer Taschenbuch, 1973

Ein lesenswerter Kommentar zu diesem Brief wurde 1973 von Christian Riechers verfasst.

[top] [home] [mail] [search]