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KRISE UND REVOLUTION


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Krise und Revolution
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Krise und Revolution

Sobald die Anzeichen einer zyklisch Krise des Kapitalismus erscheinen und sich vermehren (wie es heute der Fall ist, obwohl die Bourgeoisie die Tragweite dieser Symptome geschickt übertreibt, um für nationale Eintracht und »allgemeine« Sparsamkeit noch besser zu werben), wird man selten jemanden finden, der der Versuchung widersteht, die mechanische und sozusagen automatische Verwandlung des wirtschaftlichen Zusammenbruchs in eine soziale und politische Katastrophe zu erwarten. Der Frage ist nicht akademisch, und eben deshalb müssen wir sie stellen. Infolge von mehr oder weniger »theoretisch« gerechtfertigten Vorhersagen eines »unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs« des Kapitalismus hat man schon allzuoft die Taktik und sogar die Strategie der Arbeiterparteien improvisiert, mit negativem, wenn nicht fatalen, Auswirkungen für das Proletariat.

Theoretisch gesehen, liegt der Fehler (wir gebrauchen dieses Wort, um überflüssige Ausführungen über die guten oder schlechten Absichten der Urheber zu vermeiden) teilweise in einer falschen Auslegung des Marx’schen Satzes,
»eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist« (»Zur Kritik der politischen Ökonomie«, S. 9, MEW, Bd. 13).
Die wirkliche Bedeutung dieses Satzes ist, um mit den Worten des »Manifest« zu reden, dass die Gesellschaft »zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt« für die engen Grenzen der bürgerlichen Verhältnisse. Mit anderen Worten, die Krise entsteht aus dem gewaltsamen Zusammenstoss der Produktivkräfte in voller Entwicklung mit einer Produktions- und Aneignungsweise, die furchtbar statisch ist, weil strikt privat; oder, um ein Bildnis zu gebrauchen, aus dem unheilbaren Gegensatz zwischen »dem Vulkan der Produktion und dem Sumpf des Marktes«[1].

Die falsche Interpretation, die, trotz ihrer feierlichen »wissenschaftlichen« Ansprüche, in diesen Sätzen gerade das Gegenteil liest von dem, was sie bedeuten, stellt die historische Kurve des Kapitalismus in typisch gradualistischer Weise als eine Sinuskurve dar. Nach dieser entstellten Auffassung würde die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit zunächst trotz augenblicklicher Schwankungen schnell wachsen, um sich danach zu verlangsamen, einen Höchstpunkt zu erreichen, worauf man einen fortschreitenden Rückgang bis zu einem Nullpunkt und einem Stillstand erleben würde. Hier wäre der grossartige Aufschwung erschöpft, den der Kapitalismus der Weltwirtschaft gegeben hatte, und daraus würde sich die Krise ergeben.

Wie es sehr oft geschieht, vereinigen sich Gradualismus und Fatalismus auch in dieser Perspektive wieder. Es ist kein Zufall, dass sie übereinstimmend vom sozialdemokratischen und zentristischen Anti-Katastrophismus und vom falschen immediatistischen »Katastrophismus« angenommen wird. Für die Sozialdemokraten der alten Schule wurde der friedliche Übergang der Macht in von den Händen einer sterbender Bourgeoisie in die eines seit langem zum Erben vorbereiteten Proletariats schon immer für den Zeitpunkt vorgesehen, zudem die Kurve endlich den Nullpunkt erreichen würde. Der Zentrismus schliesst nicht aus – Gott behüte! –, dass wenn man zu diesem Punkt gelangt, Revolution und Diktatur als zufällige Augenblickserscheinungen auftreten könnten. Wenn aber eine Krise ausbricht, beeilt er sich, Notstandsmassnahmen, Reformen, Kabinettsumwandlungen usw., vorzuschlagen; das alles unter dem Vorwand, dass der Kapitalismus ohnehin schon tot ist, und das ich je grösser der Teil des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte ist, den man zu retten vermöge, desto geringer die Geburtswehen der neuen Gesellschaft sein werden, wenn solche Geburtswehen unabwendbar sein sollten. Für den Immediatismus, schliesslich, sind die Revolution und sogar die Diktatur unumgänglich und willkommen, wenn man zum Nullpunkt gelangt, und alle objektiven und subjektiven Bedingungen dafür ergeben sich dann automatisch; es genügt, den Baum der assoziierten Wirtschaft zu schütteln, damit die reiche Frucht in die Hände des Erben, des Proletariats, fällt.

Für diese drei Strömungen ist das Ergebnis eine Tatsache, die zur selben Kategorie gehört, wie der Eingang der Sonne in ein anderes Sternbild des Tierkreises zu einer bestimmten Jahreszeit. Für die zwei ersten, beschränkt sich der »Übergang zum Sozialismus« auf die Feststellung eines Todes, d. h. einer unabwendbaren Tatsache. Für die dritte handelt es sich um den glücklichen Ausgang dieses im wahrsten Sinne des Wortes natürlichen Phänomens des Todeskampfes eines Lebewesens, ein Ausgang, der von revolutionären Kräften herbeigeführt wird, die naturnotwendig aus diesem Todeskampf selbst entstehen. Sozialdemokraten und Zentristen wollen die Techniker und Fachleute dieses Übergangs in der lauen Atmosphäre der Parlamente, der Genossenschaften, der Gewerkschaftern und der Kommunalenverwaltungen »vorbereiten«. Die Immediatisten erwarteten, dass sie wie durch ein Wunder aus dem Übergang selbst entstehen, ob es sich nun um Militante oder um geheimnisvolle Organisationen handelt; strenggenommen, sehen die deren Vorbild in den Männern und Einrichtungen der »Arbeitermacht im Betrieb«. Ihnen geht es nicht so sehr um den Übergang zum Sozialismus, sondern um die Form, die dieser Übergang annehmen wird. Die Sozialdemokraten und Zentristen erblicken ihrerseits diesen Übergang, sind aber der Ansicht, dass seine Form unvorhersehbar ist. Exit die Bourgeoisie, Intrat das Proletariat: die Geschichte sieht aus wie eine klassische Theaterszene.

Ganz anders die richtige marxistische Auffassung. Sie wird mit grösster Klarheit in unserem Text »Theorie und Aktion in der marxistischen Lehre« (siehe »Programme Communiste«, Nr. 56, 1972) dargelegt, vor allem in den Schemata, die »die falsche Theorie der absteigenden Kurve des Kapitalismus« und »die Folge der Klassenherrschaften in der Auffassung des revolutionären Marxismus« darstellen. »Marx – liest man dort – hat nicht nur die Prognose aufgestellt, dass der Kapitalismus aufgeht und danach zusammenschrumpft, sondern im Gegenteil eine gleichzeitige und dialektische Steigerung der Produktivkräfte unter Kontrolle des Kapitals und deren unbegrenzte Akkumulation und Konzentration, und parallel dazu, der antagonistischen Reaktion der beherrschten Kräfte, das Proletariats. Das produktive und allgemeine wirtschaftliche Potential wächst unaufhaltsam, bis das Gleichgewicht gebrochen wird und eine revolutionäre Phase ausbricht. Während dieser äusserst kurzen, stürmischen Phase, stürzen die Produktivkräfte mit der Auflösung der alten Produktionsformen zurück, um sich neu zu organisieren und danach einen neuen und kräftigeren Aufschwung zu geben.«

In dieser mächtigen dialektischen Anschauung, die von Fatalismus und Voluntarismus gleich entfernt ist, zeigt sich der historische Zyklus des Kapitals in Form einer steil aufgehenden Kurve mit Schwankungen, die mehr oder weniger plötzlich, aber in immer kürzeren periodischen Abständen auftreten, und die aus ihm die chaotischste Produktionsform der ganzen Geschichte machen. Die Möglichkeit, dass sich am Gipfel der Kurve der Zusammenbruch des Systems ergebe, hängt nicht mit der blossen Zusammenhäufung der ökonomischen Widersprüche zusammen. Sie hängt von einer zweifachen Bedingung ab: dem Eingriff eines bewaffneten und organisierten Proletariats (also der grössten Produktivkraft, die die bürgerliche Gesellschaft geschaffen hat), und dessen Begegnung mit dem vorbereiteten Führungsorgan der entscheidenden Kämpfe, mit der Partei.

In diesem Zusammenhang erscheint auch der zweite und schlimmste »Fehler« der Gradualisten und Fatalisten, der darin besteht, »den wirtschaftlichen Prozess in rein formeller Weise mit dem politischen in Einklang zu bringen[2] und – noch schlimmer – in der Voraussetzung, dass sich« der wirtschaftliche Prozess »im Leeren, als etwas selbständiges abspielt (während er in Wirklichkeit Ergebnis komplexer Wechselwirkungen zwischen Basis und Überbau ist), als wären konstantes und variables Kapital mathematische Grössen, während sie in Wirklichkeit historische Kräfte darstellen; als fände der Kampf zwischen metaphysischen Kategorien statt, und nicht zwischen materiellen Klassen; oder schliesslich als würde die Macht der Bourgeoisie parallel zu den Produktivkräften abnehmen und Hand in Hand damit das Proletariat stärker werden, so dass die geschichtliche Verurteilungen der Bourgeoisie sich ohne weiteres vollziehen würde, wenn der Kapitalismus das Grenzalter erreicht hätte…! So wird der dialektische Materialismus zu einem vulgären ökonomistischen Materialismus herabgesetzt, in absoluter Missachtung des kräftigen Widerspruchs von Engels. In einer Rede unmittelbar nach dem 3. Kongress der Internationale griff Trotzki seinen Kongressbericht wieder auf und illustrierte einen scheinbaren Widerspruch, der den Schlüssel für »den Imperialismus, höchstes Stadium des Kapitalismus« lieferte: einerseits wird die Bourgeoisie von ihren eigenen inneren Widersprüchen am Hals gepackt, ihre Produktionstruktur ist erschüttert, die internationalen Beziehungen zwischen den Staaten gestört; andererseits steht sie auf dem Gipfel ihrer Verteidigungs- und Angriffsfähigkeiten gegen die feindliche Klasse. Sie weiss oder fühlt, dass sie verurteilt ist, weigert sich aber, den Urteilsspruch ohne Reaktion anzunehmen. Dank einer unerhörten Verschwendung von Produktivkräften wird ihr Gleichgewicht und mit jedem Schritt vernichtet und wiederhergestellt, um dann nochmals vernichtet und nochmals wiederhergestellt zu werden. Diese Dynamik zeigt jedoch ihre grosse Widerstandskraft, deren bester Beweis eben darin liegt, dass die Herrschaft der Bourgeoisie immer noch nicht zusammengebrochen ist. Es versteht sich von selbst, dass diese Rede nicht den Zweck hatte, dass die Militanten, die aus Mitteleuropa nach Moskau gekommen waren, die Waffen ablegten; sie wollte diesen Militanten im Gegenteil die schwere Verantwortung der Vorbereitung und Voraussicht der Kommunistischen Partei klar vor Augen führen[3].

Dieselbe These hatte die Italienische Linke einige Monate vorher in der Zeitschrift »Rassegna Comunista« entwickelt, und zwar nicht weil Mailand äusserlich und mechanisch von Moskau ferngesteuert wäre, sondern weil alle Kommunisten denselben Beurteilungskriterien gehorchen und eine gemeinsame Sprache sprechen.

Der Schöpfer der Roten Armee erklärte seinerseits, dass der scheinbare Widerspruch in Wirklichkeit eine dialektische Erscheinung darstellte: »Selbst wenn die Bourgeoisie je in einem völligen Gegensatz zu den Bedürfnissen der historischen Entwicklung geraten ist, bleibt sie immernoch die mächtigste Klasse. Noch mehr, man kann sagen, dass die Bourgeoisie in politischer Hinsicht erst an den Moment ihre höchste Macht, die grösste Konzentration an Kräften und Mitteln, an politischen und militärischen Mitteln, an Betrug, Vergewaltigung und Provokation, d. h. die höchste Blüte ihrer Klassenstrategie erreicht, wo ihr der soziale Untergang am unmittelbarsten droht. Der Krieg und seine furchtbaren Folgen (…) offenbarten der Bourgeoisie die drohende Gefahr des Untergangs. Das hat ihren Selbsterhaltungstrieb als Klasse aufs höchste geschärft. Je grösser die Gefahr ist, desto mehr verfeinert die Klasse wie die Einzelperson ihre Lebenskräfte zum Kampf um die Selbsterhaltung. Wir dürfen ferner nicht vergessen, dass die Bourgeoisie sich in Lebensgefahr sah, nachdem sie eine gewaltige politische Erfahrung erworben hatte. Die Bourgeoisie schuf und zerstörte allerhand Regierungsformen. Sie entwickelte sich unter dem reinen Absolutismus, unter der konstitutionellen Monarchie, und der demokratischen Republik, unter der bonapartistischen Diktatur, im Staate, der mit der katholischen Kirche verbunden war, im Staate, der von der Reformation abhing, in kirchenfreien Staaten, wo die Kirche verfolgt wurde usw. usf.; diese ganze mannigfaltige und reiche Erfahrung, die der regierenden Kaste der Bourgeoisie in Fleisch und Blut übergegangen ist, ist jetzt von ihr mobilisiert worden, um sich um jeden Preis am Ruder zu erhalten. Und sie handelt mit um so mehr Erfindungsgabe, Raffinement und Rücksichtslosigkeit, je klarer ihre Führer die drohende Gefahr erkennen.«

Fünfzig Jahre sind seit dem verflossen. Von der sozialdemokratischen Republik von Noske und Scheidemann ist die Bourgeoisie auf diese Mischung von Gewalt und Reformismus übergegangen, die man mit dem Namen Hitler und Mussolini identifizierte, und danach auf diese andere Mischung von Reformismus und Gewalt, die ihren Namen vom Sieger des Zweiten Weltgemetzels übernommen hatte. Ihre Produktionsweise wurde vom Gericht der Geschichte verurteilt, die Bourgeoisie bleibt dennoch am Ruder. Es ist klar – aber nur die Dialektik kann es erklären –, dass Wirtschaft, Politik, Staat, Klasse, ideologischer und juristischer Überbau nicht parallel laufen wie die Fäden eines harmonischen Gewebes, sondern sich verknäueln und überlagern in einem komplexen Wechselspiel, wo sich Folgen in Ursachen verwandeln, Ursachen zu gegensätzlichen Folgen führen, wo wirtschaftliche Anarchie die politische Disziplin fördert und Missverständnisfaktoren Ausgleichsfaktoren herauslösen.

Andererseits, wenn Marx den eben zitierten Satz aus »Zur Kritik der politischen Ökonomie« mit der Bemerkung ergänzte: »Und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind«, setzt er keinen festen Termin für das Aufkommen der Klasse, deren materielle Bedingungen nicht nur des Daseins sondern auch des Zugangs zur Macht gesellschaftlich bereits vorhanden sind (oder in der Lage sind, es zu werden), und noch weniger macht er diesen Zugang ausschliesslich vom Umfang der Produktivkräfte abhängig, der für die Entstehung einer neuen Produktions- und Lebensweise erforderlich ist. Das Gegenteil kann nur derjenige behaupten, der schon wieder »den wirtschaftlichen Prozess auf rein formeller Weise mit dem politischen in Einklang bringt« und vergisst, dass, wenn für Marx die Arbeiterklasse »ein Element des Erfolges besitzt – ihre Zahl« und diese Zahl durch die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung selbst ständig wächst, diese Zahl nur dann Gewicht hat, »wenn Organisation sie eint und Bewusstsein sie leitet[4]. Nun wird das erste, die Vereinigung, auf strikt ökonomischer Ebene ständig durch die Konkurrenz bedroht, die sich die Proletarier gegenseitig liefern, und das zweite, das Bewusstsein, das allein die Partei besitzt und von ihr in die Avantgarde der Klasse eingeführt wird, lebt unter ständiger Gefahr, durch die herrschende Ideologie und der von ihr verursachten historischen Trägheit vernichtet zu werden, und zwar sogar wenn diese Bewusstheit bereits besteht, sogar wo sie besteht. Und wenn sich das ergibt, sind die Folgen tief und dauerhaft und verwandelt selbst die Organisation (oder geben sie dieser Gefahr Preis), die ein Antrieb sein soll, in einen mächtigen Bremsfaktor.

Um anderes zu denken, muss man vergessen haben, dass schon Marx und Engels die Entstehung der Arbeiteraristokratie aus der kommerziellen und kolonialen Expansion der Bourgeoisie hatten beobachten können, so wie auch das Zuströmen von jungen und politisch ungebildeten proletarischen Schichten in die Trade Unions, die in die Hände der bürgerlichen Vertreter der Arbeiterklasse gefallen waren und unter dem Banner der »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« marschierten. Man muss vergessen haben, dass die Fabrik gleichzeitig eine Schule der Disziplin (Lenin) und ein Zuchthaus (Marx) für die Lohnarbeiter darstellt; dass solche objektive Faktoren wie die Arbeitslosigkeit, die Unsicherheit des Lebens, dass Elend, der periodische Rückfall in die untersten Schichten der industriellen Reservearmee, die ständige Kriegsgefahr, die Massen zum entscheidenden sozialen Zusammenstoss vorantreiben werden, dass sie aber gleichzeitig und sehr oft als Faktoren wirken, die zur Entmutigung, zur Demoralisierung, zum offenen oder verschleierten Verrat von ganzen Arbeiterschichten an ihrer Klasse führen.

Um diesem idiotischen Irrtum zu verfallen, muss man ausserdem vergessen haben (und die es vergessen, sind heute die Legion), dass die Arbeiterklasse unter dem Druck eines Jahrhunderts von Niederlagen, von beispiellosen Blutungen, von riesigen Opfern steht, die auf heldenhafte Kämpfe folgten, und vor allem, das sehr oft und in entscheidenden Momenten durch Mitschuld oder direkte Verantwortung der Renegaten der Arbeiterbewegung die Klassenpartei vernichtet wurde, also das einzige Organ, das Organisation und Bewusstsein fest, beständig und in gegenseitiger Ergänzung zu nutzen des revolutionären Zieles verbinden kann.

Unabwendbare materielle Bestimmungen haben Millionen Proletarier in Bewegung gesetzt und werden sie wieder in Bewegung setzen, und dabei die völlig verdorbenen unmittelbaren Massenorganisationen wiederherstellen oder neue solche Organisationen schaffen. Wie es aber in den Statuten der Ersten Internationale steht: »in seinem Kampf gegen die vereinigte Macht der privilegierten Klassen kann das Proletariat nur, indem es sich in einer politisch selbstständigen Partei organisiert, eine Partei, die sich gegen alle anderen Parteien der herrschenden Klasse stellt, überhaupt agieren« (Absatz 7a, übernommen in der Einleitung zu den Statuten der Dritten Internationale). Nun, die Partei hat während der Kommune von 1871 und in dem, was die Berliner Kommune von 1919 hätte sein können, gefehlt. Ihre Abwesenheit hat in beiden Fällen die Niederlage bedeutet, und die Grausamkeit, mit der die Schergen von Thiers gegen die Communards, und die von Noske gegen die Spartakisten, vorgegangen sind, erklärt sich nur durch ihre Furcht, dass diese Partei trotz allem voll bewaffnet aus der Niederlage wieder entstehen könnte. Die Partei war dabei und tätig im Oktober in Russland, und das bedeutet den Sieg.

Es war notwendig, ihr Wesen als Weltpartei zu vernichten (und das war das Werk des Stalinismus), damit die beginnende chinesische Revolution in einem x-maligen Blutbad endete (dessen Anzahl an Opfern bis heute unbekannt ist), und damit die Krise des Schwarzen Freitags, die zum grossen Schrecken der Regierungen, der Finanziers, der Industriellen, der Bullen, der Pfaffen und der Bonzen eine Hauptstadt nach der anderen ergriff, im Proletariat keine bemerkenswerte Reaktion verursachte, sondern im Gegenteil den Boden für einen friedlichen Sieg des Nazismus bereitete. Genau so war es notwendig, die letzten Spuren dieser Partei physisch auszurotten, um deren Wiedergeburt im Feuer des Spanischen Bürgerkrieges – Vorspiel des zweiten imperialistischen Gemetzels – zu vernichten.

Nur eine winzige, eine äusserst winzige Minderheit begreift heute, was das bedeutet hat und immer noch bedeutet. Bei den Immediatisten hat niemand die blasseste Ahnung davon, dass sich die Arbeiterklasse aus einer solchen Konterrevolution (so tiefgreifend, dass sie den Stalinismus erzeugte) nur um den Preis eines Golgathaweges erheben kann, dessen Länge und grosse Schmerzen im umgekehrten Verhältnis zu dem Verständnis der Leute stehen, die sich heute für »Avantgardisten« halten. In Sätzen, die wir gegen alle organisatorischen Improvisationen ihres Autors (und von den blassen Epigonen ganz zu schweigen), beanspruchen müssen und auch gegen die Illusion, dass der wirkliche Einfluss der Partei sich je unabhängig von den materiellen Bestimmungen entfalten könne, (die, trotz allem, das Proletariat aus seiner Apathie, und seine fortgeschrittensten Schichten zum Kampf gegen die politischen und ökonomischen Organisationen führen werden, in denen sie heute eingesperrt sind, und somit auch dazu, das Problem des politischen Führungsorganes, wenn auch konfus, doch zu stellen), schrieb Trotzki 1934 im Andenken Rosa Luxemburgs:

»Was für Energien haben die werktätigen Massen der zivilisierten und halbzivilisierten Länder seit Anfang des Weltkrieges ausgegeben, welche Opferbereitschaft haben sie gezeigt! Dafür gibt es kein Beispiel in der ganzen Geschichte der Menschheit. In diesem Sinne hatte Rosa Luxemburg vollkommen recht gegen die Philister, Feldwebel und die Idioten der konservativen Bürokratie, die, ›siegesgekrönt‹, ihren kleinlichen Weg weitertrottelten. Aber eben die Vergeudung dieser riesigen Energien hat einen günstigen Boden für die Depression geschaffen, die sich im Schosse des Proletariats verbreitete (…). Man kann ohne Übertreibungen sagen, dass die Weltlage durch die Führungskrise des Proletariats bestimmt wird. Der Weg der Arbeiterbewegung ist noch verschüttet von den Ruinenhaufen der alten, bankrott gegangenen Organisationen. Nach unzähligen Opfern, nach ständigen Enttäuschungen, zieht sich das europäische Proletariat, mindestens zu einem grossen Teil, in sich zurück.«

Wir müssen den Mut haben, einzusehen, dass sich diese Situation nach vierzig Jahren nicht geändert hat, und dass, so gross die Tragweite und Tiefe der kapitalistischen Krise auch sei, sie weit davon entfernt ist, der politischen Führungskrise der Arbeiterbewegung zu gleichen, die heute nicht nur »einen grossen Teil«, sondern die erdrückende Mehrheit des Proletariats ergreift und die Perspektiven einer Auflösung der wirtschaftlichen Krise in tiefer sozialer Krise und in Klassenzusammenstoss sehr erschwert.

Diesbezüglich schrieben wir 1953:

»Ein derartiges Tief kann man nur verlassen, wenn man es auf allen Gebieten tut. Es ist notwendig, zu zeigen, dass es in Russland keinen »sozialistischen Aufbau« gibt; dass der russische Staat, wenn er in einen Krieg eintritt, es nicht um den Sozialismus sondern wegen imperialistischer Rivalitäten tun wird; es ist vor allem notwendig, zu beweisen, dass die demokratischen und progressiven Ziele im Westen nicht nur für die Arbeiterklasse von keinem Interesse sind, sondern ausschliesslich dazu dienen, einen verfaulten Kapitalismus auf den Beinen zu halten. Im langen Wiederherstellungswerk, dass die Heranreifung der Krise der westlichen und amerikanischen Produktionsform (heute können wir ruhig ›russischen‹ hinzufügen) begleiten muss – einer Krise, wofür alle objektiven Bedingungen vorhanden sind und deren Ausbruch keine Absenkung in der Innen- oder Weltpolitik um mehr als ein paar Jahrzehnte hinausschieben kann, darf man auf keinen Fall den fatalen Fehler begehen, neuen Hilfsmitteln und Gruppierungen, die den Anspruch erheben, Ergebnis eines ›Studiums der Geschichte‹ zu sein, mehr Wert zu verleihen, als den Bestätigungen, die die Ereignisse selbst dem richtig verstandenen und verwendeten ursprünglichen Bauwerk des Marxismus bringen.«[5]

Entweder oder: entweder versteht man, dass die Partei auf dieser Grundlage und mit diesem Material aufzubauen ist, und da sie verteidigt werden muss durch die Verteidigung von alledem, was ihre Existenz als militanten politischen Kern bedingt, oder man gibt sich von vornherein geschlagen gegenüber einer Krise, die, wie so viele anderen, kommen wird, und die, ohne diese grundlegende subjektive Bedingung der Revolution, über den gemarterten Körper der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde vorüberschreiten wird, wie es in der Geschichte mehr als genug der Fall gewesen ist.

Notes:
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  1. Gegenprobe: »wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krise? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte.« – (»Manifest«). Also dadurch, dass sie den Zyklus auf erweiterter Stufenleiter wieder aufnimmt. [⤒]

  2. Siehe »Lezioni delle controrivoluzioni« (Lehren der Konterrevolution), Edition Il Programma Comunista, Mailand 1951. [⤒]

  3. Siehe »Die neue Etappe«, Hamburg 1921, Seite 51, 55–56 ff. [⤒]

  4. Zitat etwas berichtigt von sinistra.net, Mai 2000 [⤒]

  5. »La rivoluzione anti-capitalista occidentale«, in »Per l’organica sistemazione dei principi comunisti«, Ed. Il Programma Comunista, Mailand 1973, S.35–36 [⤒]


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr.1, Juni 1974

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