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ENTWEDER DIKTATUR DES PROLETARIATS ODER DIKTATUR DER BOURGEOISIE


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Entweder Diktatur des Proletariats oder Diktatur der Bourgeoisie
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Entweder Diktatur des Proletariats oder Diktatur der Bourgeoisie

»Was sich neu tat, war 1. nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloss an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. das der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.« (Marx an Weydemeyer, 5. März 1852 [MEW, Bd. 28, S. 508])

»Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats (Marx, »Kritik des Gothaer Programms«, 1875 [MEW, Bd. 19, S. 28])

»Die Lehre vom Klassenkampf, von Marx und Engels auf die Frage des Staates und der sozialistischen Revolution angewandt, führt notwendig zur Anerkennung der politischen Herrschaft des Proletariats, seiner Diktatur, d. h. einer mit niemand geteilten und sich unmittelbar auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützende Macht.« (Lenin, »Staat und Revolution« [LW, Bd. 25, S. 416])

Schon diese drei Zitate, die eine historische Notwendigkeit vorzeichnen, auf die sich das Proletariat theoretisch, politisch, organisatorisch und schliesslich militärisch vorbereiten muss, genügen, um die Auseinandersetzung zwischen »kommunistischen« Parteien, die die »Diktatur des Proletariats« aus ihren Statuten streichen, und »kommunistischen« Parteien, die »sozialistische« Staaten führen, deren Funktion erklärtermassen darin besteht, dass »friedliche Zusammenleben« der Klassen zu sichern, an den richtigen Platz zu verweisen: es handelt sich um eine Auseinandersetzung zwischen Kräften, deren Zielsetzung und tägliches Werk darin bestehen, die Gegensätze zwischen den Klassen im Rahmen der bürgerlichen Ordnung gefesselt zu halten.

Der Weg dieser politischen Kräfte, die sich um Stalin sammelten, um im Dezember 1926 auf der VII. Erweiterten Exekutive der damals schon fast ehemaligen Internationale der kommunistischen russischen Opposition den offenen Kampf anzusagen und mit dem proletarischen Internationalismus offiziell zu brechen, der Weg dieser Kräfte, die sich zum Teil aus der »Reservearmee der Konterrevolution« (die Šmerals, Martynows, Cachins und Wyschinskis) rekrutierten, um vor der damals eilfertig und selbstzufriedenen »konstatierten« Stabilisierung des Kapitalismus, vor der Macht des in der Welt und somit auch in Russland auf allen Ebenen – aber mit ihrem Zutun – siegenden Kapitalismus offiziell zu kapitulieren, ist in Theorie und Praxis schon längst bei »Godesberg« angelangt; die noch verbleibende »radikale« Rhetorik diente schon längst – wie die jetzige Abschaffung derselben Rhetorik – lediglich als Schleier für die bessere Kontrolle des Proletariats und die Festigung der eigenen Position im Konzert der demokratischen Parteien der westlichen »Vaterländer« oder im Konzert der »Vaterländer« im »sozialistischen« Block.

Doch sind Parteien nicht nur ein Faktor der Geschichte, sondern vielmehr ein Produkt davon, und somit ein Produkt ihrer eigenen: die alte Sozialdemokratie von vor 1914, mit Worten aber meist nur zu Feiertagen revolutionär, in der Praxis reformistisch – der hellsichtige Bernstein hatte schon zur Jahrhundertwende verlangt, man solle die Worte der Praxis anpassen, sozusagen den Weg zu Godesberg schneller durchlaufen –, begnügte sich damit, dass Proletariat politisch und ideologisch zu entwaffnen: ihre Entwicklung führte sie dazu, den Imperialismus im Ersten Weltkrieg offen zu unterstützen und nach dem Krieg den konterrevolutionären Kampf gegen das Proletariat selbst in die Hand zu nehmen, um dann den reformistischen Weg zum »Sozialismus« in Ruhe weiter zu verfolgen: der reformistische Weg führte nicht zum Sozialismus, sondern zum Nationalsozialismus, zum äussersten Versuch, alle kapitalistischen Kräfte zu straffen, um das Proletariat – in der äusserst Phase des Kapitalismus, die immer wieder dazu führt, dass die Klassengegensätze ausbrechen – totalitär zu kontrollieren. Die mit dem siegreichen »Demokratien« aus der Emigration zurückgekehrte Sozialdemokratie erkannte nicht nur die Zeichen der Zeit: sie hatte auch leichtes Spiel, die Reste reformistischer und entstellter sozialistischer Demagogie aus ihrem Programm zu entfernen – in Godesberg wurde das reformistische Programm der eigentlichen Praxis der Verteidigung des Kapitalismus, so wie er ist, angepasst. Die Sozialdemokratie gab nicht nur offen zu, dass der reformistische Weg nicht zum Hineinwachsen in den Sozialismus, sondern zur Verteidigung der kapitalistischen Wirtschaft und der imperialistischen Weltordnung führt; sie gab auch zu, dass der Kapitalismus in seinem Wesen nicht reformierbar ist. Der konsequente und zwangsläufige Weg von all denjenigen, die die Revolution durch Reformismus, die Diktatur des Proletariats durch den Demokratismus und den proletarischen Internationalismus durch den Nationalismus ersetzen, ist in allen seinen Schritten durch die immer hartnäckiger werdende Verteidigung der herrschenden Ordnung gekennzeichnet: in der brutalen Unterdrückung des Proletariats 1919, 1921 und 1923, wie in der »Kapitulation« vor dem Faschismus; in der Wiedereinführung der »friedlichen« Klassenkollaboration (die sogenannte Demokratie) gegenüber einem nunmehr wehrlosen Proletariat nach dem Krieg, wie in der pausenlosen Vorbereitung des Staates auf die künftigen Klassenkämpfe und in der Anpassung auch der geringsten Tagesforderungen der Arbeiterklasse an die Interessen der kapitalistischen Wirtschaft.

Soweit die Sozialdemokratie, die sich Sozialdemokratie nennt. Die andere, die sich »kommunistisch« nennt (wann wird sie endlich mal auch dieses Wort aus ihrem rhetorischen Arsenal streichen?) und sich auf den Trümmern und mit der restlosen Zerstörung der Komintern bildete, hat den Internationalismus nicht erst bei Ausbruch eines imperialistischen Krieges über Bord geworfen, sondern bereits 1926 mit dem ominösen »Sozialismus in einem Land«, der gebührend von der Herabwürdigung des Internationalismus zu einer Sache des Völkerbundes (der damaligen UNO, von Lenin Bund von Räubern genannt [siehe LW, Bd. 31, S. 315]) und der diplomatischen Initiativen der UdSSR (in eigener Person oder über ihre internationalen Hausierer) begleitet wurde. Der Internationalismus wurde zu dem reduziert, was Marx bereits der deutschen Sozialdemokratie in der »Kritik des Gothaer Programms« vorwarf: zu einer Phrase aus dem Wortschatz eines bürgerlichen Freiheits- und Friedensbundes; nebenbei bemerkt, eines Friedensbundes, der je nach weltpolitischer Wetterlage mit der »Weltdemokratie« oder gegen die »Weltplutokratie« oder wieder mit dieser »demokratischen Plutokratie« marschierte. Wie es mit solchen Glaubensbekenntnissen immer geschieht, musste dieser »Internationalismus« mit der Verteidigung der »Vaterländer« im Krieg und dem Wiederaufbau der »Vaterländer« nach Kriegsende völligen Schiffbruch erleiden.

Für Marx lag die Siegeshoffnung nach der schrecklichen Niederlage des Pariser Proletariats vom Juni 1848 darin, dass die Trikolore, die nationale Flagge, getränkt vom proletarischen Blut, als rote Fahne der europäischen Revolution wieder auftauchen würde. Für die »Erneuerer des Marxismus« (lauter Benthams) lag der Triumph des Internationalismus in der Kreml-Fassung darin, dass die rote Fahne, getränkt vom Blut der auf den Schlachtfeldern des 2. Weltkriegs gegeneinander gehetzten Proletarier, als Trikolore der Weltdemokratien – also der Weltkonterrevolution – wieder auftauchte.

In einer Laufbahn, die streng parallel läuft, wurde auch das »Proletarische«, der Klassencharakter in Russland und in der ganzen Welt vernichtet, und somit wieder bestätigt, was Marx und Engels seit der »Deutschen Ideologie« sagten: ein »Kommunismus«, der in der Praxis zu einem lokalen Phänomen gemacht wird, muss notwendigerweise von den universellen Mächten des Warentausches aufgehoben werden; ein »Kommunismus« der programmatisch zu einem lokalen Phänomen gemacht wird, läuft darauf hinaus, als heimisch-abergläubischer »Umstand« (ergo als Schleier für kapitalistische Ausbeutung) sein Dasein zu fristen[1].

Zehn Jahre nach dem makabren Tanz von 1926 und in Vorbereitung des noch makabreren der Moskauer Prozesse, schenkte der Stalinismus dem »Volk« der UdSSR eine Verfassung, die mit Recht als »demokratischste der ganzen Welt« bezeichnet wurde, weil sie ja die brüderliche Harmonie zwischen den Klassen und Individuen in der Einheit der »Nation« heiligspricht. Ebenso sollte sein internationales Sprachrohr, die von allen internationalistischen proletarischen Elementen gesäuberte Komintern, der Arbeiterklasse Frankreichs und Spaniens – und nach Möglichkeit der ganzen Welt – die »Volksfronten« schenken. Weitere fünf Jahre, und die »Volksfronten« waren »nationale Kriegsfronten«; nach dem Krieg verwandelten sie sich in »demokratische Regierungsfronten«, »Regierungen der nationalen Befreiung«, für den kapitalistischen Wiederaufbau unter dem Motto »der Streik ist die Waffe der Trusts« und begleitet von der Zerbombung (und der zuständige Minister der französischen Regierung war »Kommunist«) der aufständischen algerischen Bevölkerung. Soviel Bindung an die jeweiligen nationalen Zentren der Akkumulation des Kapitals muss zwangsläufig zum Polyzentrismus führen, den Italiener und Franzosen schon damals theoretisierten, und ihre Nachfolger zum Leidwesen des Kremls bis zur äussersten Konsequenz trieben (braucht ja jede imperialistische Nation »befreundete« Parteien in den anderen): Diktatur und Proletariat werden aus der Demagogie der Rhetorik, aus dem verstaubten Inventar entfernt. Die Diktatur wird durch die »neuentdeckte« Demokratie, das Proletariat durch die bekanntlich höchste Instanz des demokratischen Regimes, das Volk, ersetzt. Für Carillo ist die »Diktatur des Proletariats« überhaupt eine stalinistische Erfindung. Marchais’ Devise ist der Anti-Lenin: »Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Aberkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt«. Napoletano, Führer der »KP« Italiens, erklärt gar im selben Interview[2], wo er zugibt, dass die italienischen »Kommunisten« seit 1956 »anfingen, etwas an der leninistischen Auffassung zu berichtigen« und dass »man heute sagen kann, dass die Strategie der KPI sich nicht mehr in der von Lenin identifiziert«: »der Gradualismus ist eine Charakteristik der KPI, genügt aber nicht, um sie den europäischen Sozialdemokratien gleichzusetzen. Der Unterschied besteht darin, ob man wirklich eine Perspektive des Fortschreitens zum Sozialismus und des sozialistischen Aufbaus hat oder nicht«. Also Sozialdemokratie mit Vor-Godesberger Rhetorik, dazu gezwungen, dieselbe Rolle der Sozialdemokratie zu spielen und die Perspektive des Fortschreitens zur offiziellen Übernahme eines »Godesberger Programms« rasch zu verwirklichen.

Dass die öffentliche Meinung dies alles, was nur die letzte formelle Konsequenz ist, als »Wende« versteht und sich dauernd fragt, ob die »Wende« aufrichtig sei oder nicht, verwundert nicht in Anbetracht bürgerlicher Verblödung und der ebenso bürgerlichen Notwendigkeit, für noch schlimmere Krisenzeiten eine »sozialistische« Partei in der Reserve zu halten, die sich in den Augen des Proletariats noch nicht völlig entblösst hat.

Die Grundlage für eine solche demokratische Vollendung der westlichen »kommunistischen« Parteien ist aber die Existenz oder die historische Möglichkeit der parlamentarischen Demokratie als Form der Diktatur des Kapitals, d. h. dass der jeweilige Staat historisch und aufgrund seiner innen- und aussenpolitischen Stabilität noch nicht alle Relais verbrannt hat, die die Hochspannung der Klassengegensätze in stabile und »organisch« funktionierende Klassenkollaboration und aussenpolitische Beziehungen umsetzen, oder dass diese Relais für eine bestimmte Periode wieder repariert werden konnten. Dass diese Relais im imperialistischen Zeitalter der höchsten Machtkonzentration in Wirtschaft und Politik eine Farce darstellen, die nur in der Folge einer masslosen Abschreckung funktionieren können, merkt sogar der sogenannte kleine Mann, der zwar eifrig seine Wahlstimme abgibt, gleichzeitig aber resigniert (fernes Echo noch nicht überwundener Niederlagen des Proletariats): die da oben machen sowieso, was sie wollen. In Russland läuft das Ganze genauso, jedoch ohne Mehrparteiensystem und ohne die sogenannten Grundrechte. Historisch hat die Konterrevolution in Russland den zentralisierten Staatsapparat und dass Einparteiensystem, die das Proletariat für seine eigene Diktatur errichtet hatten, übernommen und gegen das Proletariat und dessen Partei eingesetzt. Die nationale staatliche Festigung des russischen Kapitalismus unter Stalin vollzog sich in einer bereits voll entwickelten imperialistischen Umgebung und in einer Situation der äussersten internen Krise, was den offenen diktatorischen Charakter, den alle bürgerlichen Staaten in ihrer Entstehungsphase hatten, noch zuspitze: der Liberalisierung der Wirtschaft nach der ersten Akkumulationsperiode folgte auch mit der »Verurteilung« der Verbrechen Stalins eine gewisse politische Liberalisierung im bürgerlichen Sinne (d. h. für den Bürger, nicht für den Proletarier: darin gleichen sich alle Liberalisierungen), nicht aber die Einführung eines Mehrparteiensystems oder eine Verallgemeinerung der sogenannten Bürgerrechte: Russland erreichte auf gekürztem Weg dasselbe Ergebnis, dass auch die westlichen Länder vorweisen, nur spielen sich die Interessenkonflikte, die die kapitalistische Anarchie im Schosse der Bourgeoisie selbst erzeugt, nicht im Parlament bzw. zwischen den Parteien, sondern innerhalb der einen Partei ab. Und dies vor einem für die Bourgeoisie viel gefährlicheren Hintergrund, der zum alles übertörenden Einsatz pseudosozialistischer Demagogie und zum äussersten Versuch der absoluten Kontrolle aller gesellschaftlichen und politischen Manifestationen zwingt: nämlich das durch die historische Entwicklung bedingte Fehlen einer eigenständigen, getrennten, opportunistischen Arbeiterpartei einerseits und andererseits die Diskrepanz zwischen der relativ rückständigen Wirtschaftsstruktur und der politisch-militärischen Vorherrschaft in Osteuropa, die wiederum zu einer Quasi-Militarisierung der russischen Gesellschaft führen und gleichzeitig dazu zwingen, die russischen Verhältnisse auf diese osteuropäischen Vasallen zu übertragen.

Moskau geht es also nicht um die »Diktatur des Proletariats«: diese gehört ebensowenig zum Palaver der portugiesischen »Kommunisten« oder der »auf dem Boden der Verfassung« stehenden DKP, die nichtsdestotrotz immer wieder mit russischem Lob überschüttet werden. Moskau selbst gibt sich nicht als Diktatur des Proletariats aus. Für die UdSSR liegt das Problem darin, dass die westlichen »Kommunisten« mit der Streichung der »Diktatur« (für sie freilich nur ein Wort) gleichzeitig kundtun, sie hielten Russland nicht mehr für ein »sozialistisches Modell«. Carillo, dessen Borniertheit lediglich vom eigenen antiproletarischen Geschick übertroffen wird, geht so weit, in der russischen Gesellschaft »feudale und zaristische Züge« zu finden. Die Freunde von gestern, Prachtstücke in den Monstershows, wo die Überlegenheit des »sowjetischen Sozialismus« mit Klatschsalven und »Solidaritätsbekundungen«… »bewiesen« wurde, nehmen Abstand. Die Ratten verlassen das gemeinsame Schiff, was ja den Eindruck geben könnte, es sei ein sinkendes. Die »kommunistischen« Parteien des Westens werfen der UdSSR genau dasselbe vor, wie der um die Entwicklung in Osteuropa besorgte Kissinger-Berater und US-Stratege Sonnenfeldt, nämlich, dass die UdSSR innen- und aussenpolitisch keine »organische«, das heisst auf besseren Lebensstandard und parlamentarischer Demokratie sowie im internationalen Rahmen nicht bloss auf Militärmacht, sondern auf eine wirtschaftlich fest verankerte Militärmacht beruhende Beziehung schafft. Dadurch entblössen sie wieder die Schwächen der Sowjetunion und verlangen gleichzeitig, dass sie die Mittel entschärfe, mit denen sie diese Schwäche ausgleicht. Die wiederholte Einladung der UdSSR an alle europäischen »Kommunisten«, auf den »proletarischen Internationalismus« zu schwören und dem »Antisowjetismus« den Kampf anzusagen, ihre neue »internationalistische« Welle, um ihren Machtbereich auszudehnen, stehen im Zusammenhang mit der Tatsache, dass ihre ehemaligen Sprachrohre im Westen durch ihre neuen politischen Bindungen die imperialistische Balance ändern könnten[3] und mit ihrer Geste gleichzeitig ein Element liefern, dass die zentrifugalen Tendenzen in Osteuropa stärken kann.

Vor dem Hintergrund der ganzen historischen Entwicklung der »kommunistischen« Parteien stalinistischer Herkunft sowie der oben skizzierten staatspolitischen und imperialistischen Überlegungen ist der Kuhhandel um den Begriff »proletarischer Internationalismus« und der ganze Rummel im Zusammenhang mit der Vorbereitung des »Gipfeltreffens der europäischen kommunistischen Parteien« zu verstehen. Das »Prinzip des proletarischen Internationalismus« ist für keine dieser Herrschaften »proletarisch«, sondern stets national, handelt es sich ja um die »Solidarität« zwischen nationalen Staaten, die in einem bestimmten hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, und um die Beglaubigung dieses Verhältnisses (nämlich auch der Vorherrschaft der UdSSR) durch westliche Parteien, also um die Suche nach einem angemessenen Ausdruck für die politische Balance zwischen nationalen Staaten, die die jeweiligen nationalen Interessen ihrer herrschenden Klassen in einem imperialistischen System vertreten. Schon deshalb, zumal bei langfristig fliessenden Kräfteverhältnissen, kann es sich um kein »Prinzip« handeln, was ja durch den Kuhhandel noch zusätzlich bestätigt wird, wo immer wieder in Frage gestellt wird, ob die »Solidarität« zwischen diesen Staaten und Parteien oberstes Gebot sein soll, oder gleichzeitig mit den aus jedem bürgerlichen Vertragswerk zwischen Staaten ebenso bekannten »Prinzipien« der »Unabhängigkeit«, alles Sachen, die in der Luft hängen, da im Kapitalismus zwar der Versuch besteht, eine bestimmte Kräftekonstellation im Interesse der mächtigeren imperialistischen Staaten oder im antiproletarischen Interesse aller beizubehalten, nicht aber die Möglichkeit, dies zu verwirklichen. Heute zum Beispiel sollten die Vorbereitung des »Gipfeltreffens« dem bereits zitierten US Vertreter Dr. Sonnenfeldt mit der »unparteiischen« Redaktion des Schlussdokuments beauftragen, wenn es darum geht, die Formel des »proletarischen Internationalismus« als Fixierung der bedingungslosen Solidarität der Ostblockländer auf die UdSSR zu fixieren: ebensowenig wie die Russen sind die USA an konvulsiven Entwicklungen der Kräfteverhältnisses in der gemeinsam beherrschten Welt interessiert, was sowohl das Sonnenfeldt-Referat bezeugt, als auch und noch viel mehr die Verlegenheit und Dementis, als es publik wurde[4].

In der marxistischen Auffassung ist die Internationalität die Welt des revolutionären Prozesses und seines äussersten Moments (äusserst, aber Moment, integrierender Bestandteil), Übergang zum Sozialismus mittels der Diktatur des Proletariats, keineswegs eine mehr oder weniger zufällige Begleiterscheinung, sondern eine Lebensbedingung. Im Kampf gegen die eng nationale Auffassung Lassalles schrieb Marx 1875:
»Es versteht sich ganz von selbst, dass um überhaupt kämpfen zu können, die Arbeiterklasse sich bei sich zu Haus organisieren muss als Klasse, und dass das im Land der unmittelbare Schauplatz« (hier das nebenrangige Element!) »ihres Kampfs. Insofern ist der Klassenkampf nicht dem Inhalt, sondern, wie das Kommunistische Manifest sagt, ›der Form nach national‹. Aber der ›Rahmen des heutigen nationalen Staats‹… steht selbst wieder ökonomisch ›im Rahmen des Weltmarkts‹, politisch ›im Rahmen des Staatensystems‹. Der erste beste Kaufmann weiss, dass der deutsche Handel zugleich ausländischer Handel ist, und die Grösse des Herrn Bismarck besteht ja eben in seiner Art internationaler Politik«.

Das Proletariat, das, als Partei oder herrschende Klasse organisiert, sich »im Rahmen« seiner Grenzen isoliert, verurteilt sich selbst dazu, vom breiteren »Rahmen« des Welthandels umgestürzt und beherrscht zu werden. Noch mehr: es verurteilt sich selbst dazu, seinen Klassencharakter zu verlieren, unter das Niveau des »ersten besten Kaufmanns« zu fallen – hier kippt der »Sozialismus in einem Land« in »Kapitalismus in allen Ländern« um.

Der Kapitalismus hat das Proletariat dadurch zur einzigen revolutionären Klasse der modernen Geschichte gemacht, dass er alles vernichtet hat, was den Produzenten früherer Gesellschaftsformationen als Person definierte: Produktionsmittel, Arbeitsplatz, an ihn gebundene und mit ihm ein Ganzes bildende Familie, Zunft als Hüter seines Know-Hows, Stadt als natürlicher Markt seiner Produkte, Vaterland als ideale Krönung und politische Garantie des ganzen. Wenn es eine einzige Eroberung gibt, die das Proletariat als revolutionäre Klasse von der kapitalistischen Gesellschaft erbt und verteidigt, dann ist es diese zwar nicht gewollte, immer bekämpfte aber notwendige und unaufhaltsame, rücksichtslose Vernichtung aller Schranken, die einen autonomen Produzenten vom anderen, seine Gemeinde von der nächsten trennten, dann ist es diese Vereinigung der Arbeit in der Fabrik und Universalisierung der menschlichen Beziehungen, auch wenn sie sich auf dem Weg der Universalisierung des Warentausches durchsetzte. Wenn sich die Marxisten früher wünschen konnten, dass die Geschichte auf alle chinesischen Mauern die Losung »Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit« schriebe, so war es nicht, weil sie an die Ewigkeit dieser »Werte« geglaubt hätten, sondern weil sie wussten, dass diese die Kriegsrufe einer Bewegung waren, die dazu neigte, alle Mauern, allen »heimischen Aberglauben«, alles Private, alles Lokalistische – auch den Lokalismus auf der Ebene einer Nation – zu vernichten. Sie konnten es wünschen, weil diese historische Tendenz den proletarischen Befreiungskampf, den Kampf für den Kommunismus mit einem internationalen und internationalistischen Charakter erfüllen würde.

Wenn man die Klasse in ihrem Machtkampf oder in ihren Kampf um die Erhaltung der Macht auf den Weg zum Sozialismus im kleinen Winkel der Fabrik, in der Ortschaft, des Berufes, der Nation einsperrt (und für Marx war 1848 vom Standpunkt des revolutionären Sieges oder der Niederlage ganz Europa ein kleiner Winkel gegenüber England, das als Herrscher des Weltmarkts fest auf seinem Felsen sass), wird sie zur Subklasse, zu unterdrückten Dienerin der herrschenden Ordnung. Schlimmer noch, sie wird dazu verurteilt, das Rad der Geschichte rückwärts zu drehen, wird zum Erben und Verteidiger des Banners des Feindes – eines Banners, den der Kapitalismus selbst wieder zum Zweck der sozialen Erhaltung neu zusammenflickt und schwenkt: Individuum, Familie, Vaterland, nationale Werte und Gebräuche, Demokratie.

Man kann keinen nationalen Wege zum Sozialismus fordern und ebensowenig dessen isolierten nationalen »Aufbau«: eine solche Forderung ist nicht nur konterrevolutionäre Utopie, sondern sie bedeutet auch, dass man die ideologischen Reflexe der zeitweiligen Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen im eigenen Schrebergarten oder des zeitweiligen Druckes der Aussenwelt als Glaubensbekenntnisse ins eigene Programm und in die eigene Theorie hineingenommen hat, kurzum, dass man die materialistische Voraussage der revolutionären Entwicklung der Klassengegensätze über Bord wirft, um vor der Macht der Bourgeoisie zu kapitulieren, und das heisst mit ihr zusammenzuarbeiten.

Es gibt keinen Mittelweg: entweder die Vorbereitung des Proletariats – und das heisst an erster Stelle Schaffung seiner Partei – auf den internationalen revolutionären Kampf, auf die Vernichtung der Diktatur der Bourgeoisie und Errichtung der Diktatur des Proletariats, oder den Weg der Sozialdemokratie zu durchlaufen, der in der gewaltsamen Unterdrückung des Proletariats und in der Stärkung der Diktatur der Bourgeoisie objektiv und subjektiv mündet.

Zum 1. Mai 1913, 17 Monate bevor die Sozialdemokratie den Internationalismus offiziell abschüttelte, um imperialistisch zu werden, schrieb Rosa Luxemburg über die zu Ende gehende Periode der reformistischen Illusionen und der ideologischen und politischen Entwaffnung des Proletariats
»Die Periode der langen Depression auf dem Weltmarkt sei dem Krach der siebziger Jahre [18…] war überwunden, und die kapitalistische Wirtschaft trat just in eine Phase glänzenden Aufschwungs, der fast ein Jahrzehnt dauern sollte. Zugleich atmete die Welt nach 20 Jahren ununterbrochenen Friedens von den Erinnerungen der Kriegsperiode auf, in der das moderne europäische Staatensystem seine blutige Taufe empfangen hatte. Die Bahn schien frei für eine ruhige Kulturentwicklung, Illusionen, Hoffnungen auf eine schliedlich-friedliche Auseinandersetzung zwischen der Arbeit und dem Kapital schossen in den Reihen des Sozialismus üppig in die Halme. Vorschläge, ›den guten Willen die offene Hand‹ entgegenzuhalten, bezeichneten den Beginn der neunziger Jahre, Verheissungen auf ein unmerkliches ›allmähliches Hineinwachsen‹ in den Sozialismus bezeichneten ihr Ende. Krisen, Kriege, Revolutionen sollten überwundene Standpunkte, Kinderschuhe der modernen Gesellschaft gewesen sein, Parlamentarismus und Gewerkschaften, Demokratie im Staate und Demokratie in der Fabrik sollten die Pforten zu einer neuen, besseren Ordnung eröffnen.
Der Gang der Dinge hat unter allen diesen Illusionen fürchterliche Musterung gehalten. Anstelle der verheissenen sanften sozial-reformerischen Kulturentwicklung setzte seit Ende der neunziger Jahre eine Periode der gewalttätigsten, schärfsten Zuspitzung der kapitalistischen Gegensätze ein, ein Stürmen und Drängen, ein Krachen und Aufeinanderprallen, ein Wanken und Beben in den Grundfesten der Gesellschaft. Über die zehnjährige Periode wirtschaftlichen Aufschwungs quittierten in dem folgenden Jahrzehnt zwei erschütternde Weltkrisen. Auf zwei Jahrzehnte des Weltfriedens folgten in dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts sechs blutige Kriege und im ersten des neuen vier blutige Revolutionen. Statt der sozialen Reformen – Umsturzvorlagen, Zuchthausvorlagen und Zuchthauspraxis, statt der industriellen Demokratie – der gewaltige Zusammenschluss des Kapitals im Kartellamt und Arbeitgeberverbänden und die internationale Praxis der Riesenaussperrungen. Und statt des neuen Aufschwungs der Demokratie in Staate ein elender Zusammenbruch der letzten Reste des bürgerlichen Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie.«
[5]

Auf diese Entwicklung war das westliche Proletariat nicht vorbereitet, und die Sozialdemokratie, die sich zunächst »lediglich« den Illusionen der »friedlichen Entwicklung« gebeugt hatte, ging beim revolutionären Ausbruch nach dem Ersten Weltkrieg dazu über, die revolutionären Versuche des Proletariats selbst zu unterdrücken. Die Niederlage im Westen – und vor allem in Deutschland – kostete das Weltproletariat die einzige eroberte Festung – Russland – und führte zum Zusammenbruch der gegen die Sozialdemokratie gegründeten Kommunistischen Internationale, deren westliche Sektionen meist zu spät und unzulänglich entstanden, als dass sie das Proletariat zum Sieg hätten führen können.

Es gilt, das Proletariat schon heute theoretisch, politisch und organisatorisch auf die oben von Rosa Luxemburgs skizzierte Entwicklung, die für das Kapital in seiner imperialistischen und faschistischen letzten Phase charakteristisch ist, vorzubereiten, seine Avantgarde für einen Kampf zu erziehen und zur Klassenpartei zu organisieren, die aufgrund ihrer prinzipiellen und theoretischen Festigkeit die Arbeiterklasse über ihre Teilkämpfe und über das Wiederaufflammen des Klassenkampfes zur erfolgreichen Lösung der Alternative unserer Epoche führen kann: entweder Diktatur des Proletariats oder Diktatur der Bourgeoisie.

Notes:
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  1. siehe »Die Deutsche Ideologie«, MEW, Band 3, Seite 35. [⤒]

  2. »Corriere della Sera«, 23.12.75 [⤒]

  3. Die »New York Times« stellte kürzlich die Frage:
    »Ist Kissinger so stark gegen die Machtbeteiligung der Kommunisten in Westeuropa, weil Moskau davor Angst hat?«,
    zitiert nach »Süddeutsche Zeitung«, Osterausgabe 1976 [⤒]

  4. Helmut Sonnenfeldt erklärte im Dezember 1975 auf einem Treffen der US-Botschafter in London, die USA sollten dafür eintreten, dass die UdSSR ihre Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern »organisch« festlegten, das heisst auf der Grundlage eines günstigen Warenaustausches gestalten, damit die Gefahr von »revolutionären Entwicklungen« in Osteuropa gebannt wird. Als diese sogenannte »Sonnenfeldt-Doktrin« in die Öffentlichkeit drang (das Referat galt als »vertraulich«), wurden die Aussagen Sonnenfeldts für »verzerrt und entstellt zitiert« erklärt. Es lohnt sich einige Kernsätze zu zitieren:
    »Hinsichtlich Osteuropas muss es in unserem langfristigen Interesse liegen, Ereignisse in diesem Gebiet zu beeinflussen – wegen der gegenwärtigen unnatürlichen Beziehungen zu der Sowjetunion –, damit sie nicht früher oder später explodiert und den Dritten Weltkrieg auslöst. Diese unnatürliche, unorganische Beziehung ist eine weit grössere Gefahr für den Weltfrieden als der Konflikt zwischen Ost und West… Deshalb muss es unsere Politik sein, für eine Entwicklung einzutreten, welche die Beziehungen zwischen den Osteuropäern und der Sowjetunion zu einer organischen Beziehung macht. Unsere Politik muss eine Politik sein, die den deutlich sichtbaren Aspirationen in Osteuropa auf eine autonome Existenz im Kontext eines starken sowjetischen geopolitischen Einflusses entgegenkommt.« (zitiert nach »Neue Zürcher Zeitung« vom 31.3.76) [⤒]

  5. Rosa Luxemburg, »Der Maigedanke auf dem Vormarsch«, »Leipziger Volkszeitung«, 30. 4. 1913, »Gesammelte Werke«, Band 3, Seite 191/92) [⤒]


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr. 10, April 1976
Im November 2023 vollständig überarbeitet. Rechtschreibung, Zitate und Grammatik wurden stillschweigend korrigiert. (sinistra.net)

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