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ZUR LAGE IN ITALIEN
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Zur Lage in Italien
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Zur Lage in Italien
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Ohne Zweifel ist Italien, neben Spanien und Portugal, heute das Land, wo die gesellschaftlichen Gegensätze am schärfsten zutage treten. Im Gegensatz zu Portugal aber, wo das salazaristische Regime vor kurzem zusammenbrach, und auch zu Spanien, wo der Prozess der Entfernung des frankistischen politischen Überbaus heute mühsam läuft, entfalten sich in Italien die Gegensätze im Rahmen eines Regimes, das seit 30 Jahren den Faschismus ablöste. Dieses Regime wurde seinerzeit dank der Zusammenarbeit der opportunistischen »Arbeiterparteien« errichtet, und man kann sagen, dass Italien in einem gewissen Sinne ein Vorläufer von alledem war, was sich heute im beschleunigtem Tempo in den anderen beiden Ländern ereignet: hier liegt eine Lehre, die nicht verschollen gehen darf.

Trotz der damaligen und späteren, anderslautenden Versicherungen der »marxistischen« Mitverfasser seiner republikanischen Verfassung, wie Terracini und Basso (von Togliatti ganz zu schweigen, der die Verfassung als »nichtbürgerlich« bezeichnete), hat Italien in Wirklichkeit in dieser »notwendigen«, »überleitenden«, demokratischen Phase keine seiner sozialen Probleme gelöst. Italien konnte nicht einmal die prosaische Absicht verwirklichen, sich auf die Ebene der anderen, moderneren Länder zu hieven, um die sozialen Gegensätze mit den Gewinnen der imperialistischen Politik zu verdrängen. Man kann nicht ungestraft »Lumpenimperialismus« treiben, voll zu Diensten anderer.

Es stimmt zwar, dass das Land seit Kriegsende eine bemerkenswerte wirtschaftliche Entwicklung durchlebte, mit hohen Wachstumsraten, vor allem in den Jahren 1958-63. Aber auch das »Wirtschaftswunder« ereignete sich als Auswirkung des internationalen Booms, auf einem Boden, der vor allem wegen der Verfügbarkeit über billige Arbeitskraft fruchtbar war; und es hat dazu beigetragen, Italien in den Wirbel des Weltmarktes zu stürzen, seine inneren Gleichgewichtsstörungen zu vergrössern. Unter diesen Umständen (und dasselbe wird auch in anderen Ländern unausweichlich auftreten) spitzen sich die Widersprüche zu, die vom »dualistischen« Charakter der Wirtschaftsentwicklung bestimmt werden: einerseits gibt es eine Industrie, die auf hohem technischen Niveau für den Weltmarkt produziert, andererseits die Industrie, die auf niedrigerem technischen Niveau und bei hoher Beschäftigung überdurchschnittlich schlecht bezahlter Arbeitskraft im Binnenmarkt verankert ist, und vom Handwerk und einem grossen Teil des Agrarbereiches ergänzt wird.

Dieser Dualismus hat seine Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt. Die »Entwicklung« kann einerseits den starken Überschuss an Arbeitskräften nicht in einem grossen Massstab aufnehmen, sie erzeugt aber andererseits die Nachfrage nach einer bestimmten Arbeitskraft, nach der beruflich qualifizierten Arbeitskraft, und zwingt alle anderen Wirtschaftsparteien zu einem ungleichen Rennen, das zu einer allgemeinen Erhöhung dessen, was die Bourgeois »Arbeitskosten« nennen, führt. Für die kleine und mittlere Industrie beginnt ein mühsamer Parcours, um sich zu stärken und um überhaupt überleben.

Die Ökonomisten - und wie hätte es anders sein können - betonen immer das grosse »Drama« der italienischen Wirtschaft: mit der Erhöhung der Arbeitskosten in Italien nach 1961 fangen auch die »Schwierigkeiten« an. Sie bewegen sich in einem Teufelskreis: in Wirklichkeit erhöhen sich die Arbeitskosten als Auswirkung der erhöhten Intensität der Arbeit. Der Jahresdurchschnitt für die Erhöhung des in der verarbeitenden Industrie erarbeiteten Wertes beträgt in der Periode 1954-1961 8 %, während der Jahresdurchschnitt für die Lohnerhöhungen 4,5 % beträgt. 1961 lautet die Relation 10,3 % - 4,4 %; hier fangen auch Tariflöhne und effektiv bezahlte Löhne an, sich auseinander zu entwickeln: das Wirtschaftswachstum führt die Industriekapitalisten dazu, mehr als das, was mit den Gewerkschaften vereinbart wurde, zu zahlen, um die Produktion, entsprechend der starken Nachfrage, anzuspornen. Von 1962 bis 1965 kehrt sich das Verhältnis also um, um nach der Krise zwischen 1966-68 wieder aufs alte zu kommen: dieses Verhältnis ist also jedesmal ein Ergebnis der Verhältnisse, die sich zwischen Kapital und Arbeit auf der Grundlage des Wirtschaftswachstums und der Möglichkeiten der italienischen Wirtschaft auf dem Weltmarkt herstellen. Und jedesmal verschärft sich die Konzentration der Produktivkräfte und somit auch die Trennung (»Dualismus«) zwischen dem Grosskapital (privatem und staatlichem) und dem Kleinkapital, während die Beschäftigungsfrage ein ungelöstes Problem bleibt. Diese gefährliche Spirale ist dazu bestimmt, sich zu verewigen.

Der extreme Mangel an Gleichgewicht zwischen den Sektoren, der Drang zum »Konsum« in einer Gesellschaft, wo Unterkonsumtion herrscht, die massive Auswanderung vom Süden des Landes in den Norden und vom ganzen Land ins Ausland, die ebenso massive Landflucht, all dies, das sich unausweichlich auf politischer Ebene manifestiert, ist keine Folge des Fehlens von »Wirtschaftsentwicklung« oder von einer »schlechten« Entwicklung, sondern Ausdruck der kapitalistischen Entwicklung, Ausdruck ihres mörderischen Weges, auf einem bestimmten Boden und unter bestimmten internationalen Verhältnissen. Das Absurde besteht darin, in diesem Kontext eine »Wirtschaftsentwicklung« anzustreben, ohne deren widersprüchliche Auswirkungen annehmen zu wollen.

Diese widersprüchlichen Auswirkungen sind die Probleme, die die bürgerliche Staatsmacht zu lösen versucht, und die sich ihr in Italien ganz natürlich gestellt haben. Nach dem Zusammenbruch der anfänglich »liberalen« Illusion, dass die Wirtschaftsentwicklung die Probleme lösen würde (eine Illusion, die zu einem grossen Teil vom opportunistischen Lager geteilt wurde, mit dessen Theorie vom »zweiten Risorgimento« (1) und von der Bildung einer »wirklichen« italienischen Bourgeoisie), richtete sich der staatliche Eingriff auf die Verminderung der Diskrepanz zwischen den verschiedenen Ebenen der industriellen Entwicklung und zwischen den verschiedenen Gebieten dieser Entwicklung selbst.

Auf ökonomischer Ebene griff der Staat in Italien systematisch unter verschiedenen Formen ein: Erleichterungen an die private Industrie für die Investition in den »unentwickelten Gebieten«, und zwar nicht nur im Süden (und jede Gemeinde trug die eigene Armut stolz zur Schau, um die Investitionen, die »Arbeit beschaffen werden«, an sich zu ziehen); Subventionen und Kredite für Investitionen im Süden, Bildung von Unternehmen unter Staatsbeteiligung, die als Bahnbrecher für die Investitionen dienen sollten, wo sich das Privatkapital nicht traute, oder jene grosse Investitionen übernehmen sollte, an die sich der Privatkapitalist kaum heranmacht. In dieser Form nehmen der italienische Kapitalismus und die italienische Bourgeoisie selbst einen »Protegé-Charakter« an mit zunehmenden Klientelbeziehungen zu ihrem eigenen Staat. Und man möchte auch das Proletariat in diese Logik hineinziehen und preist ihm dauernd die Vorteile und »Garantien« eines solchen Systems an.

Das mindeste, was man sagen kann, ist, dass diese ganze Interventionsstruktur, die eine Zeitlang sogar vom Ausland bewundert wurde, anstatt die gesteckten politischen Ziele zu erreichen, im Gegenteil das Ungleichgewicht noch vergrössert und die ominöse »Klientelwirtschaft« verstärkt hat. Und man muss noch hinzufügen, dass die »Klientelwirtschaft« keineswegs von der »unfähigen Staatsmacht« systematisch eingeführt wurde, sondern vom »heroischen« und superfähigen Mattei, der eine faschistische Institution wiederbelebte und mit einem ökonomischen Dynamismus verband, der umso skrupelloser ist, als er »alle Mittel« (einschliesslich der Subventionen eines ganzen Pressesektors, die Korruption einzelner Journalisten, die regelmässige »Spende« an die politischen Parteien) nicht dem persönlichen Zweck, sondern dem nationalen Kapital unterordnet. Kurz und gut, die Tendenz, die Wirtschaft mittels »sozialer« Eingriffe auf den richtigen Weg zu bringen, hat ihre Widersprüche verschärft, auch wenn sie sie eine Zeitlang etwas zurückschob. Und heute mehr als gestern ist der politische Kampf in Italien ein Kampf um die Kontrolle dieser mächtigen ökonomischen Hebel. Der Anteil der staatlichen Unternehmen (einschliesslich der sogenannten »öffentlichen Dienstleistungen« wie Eisenbahn, Elektrizitätswerke usw.) ging von 19 % 1961 auf 49 % 1972 zurück. Allein in der Industrie (und zwar ohne die öffentlichen Dienstleistungen) ist er von 16 % auf 31 % gewachsen. Die Beschäftigung von Arbeitskraft ist in diesem selben Sektor aber nur um 4 % gestiegen.

Das Hauptziel, die hinausposaunte »Industriealisierung des Südens« führte zwar zu Investitionen, die über das ursprünglich vorgesehene hinausgehen, aber mit umgekehrten Ergebnissen:
»
Der Beitrag der öffentlichen Unternehmen zur Gesamtinvestition im Süden erhöhte sich von 15 % auf 26 %, ihr Anteil an der Beschäftigung ist in dem Gebiet aber lediglich von 3 % auf 4,3 % gewachsen, was noch einmal den vornehmlich äusserst kapitalintensiven Charakter ihrer Tätigkeit zeigt« (2).
Mit anderen Worten, gerade wenn das Kapital »intensiv« leistungsfähig ist, begünstigt die Investition keine grössere Beschäftigung.

Auf spezifisch politischer Ebene stellten sich die »Reformen« auf die Tagesordnung, die durch den enormen Rückstand des Überbaus und der »sozialen Leistungen« im Vergleich zu den Änderungen an der Basis notwendig wurden. Insbesondere wurde das Wohnungsproblem sofort nach dem Krieg angegangen, und die Investitionen waren in diesem Sektor höher als in anderen Ländern. Dies ändert aber überhaupt nichts daran, dass die Mieten stark in die Höhe gingen und dass der Wohnungsmangel weiterbestand: wird er ja nicht durch mangelndes »Angebot« bestimmt, sondern durch die Unmöglichkeit, in Anbetracht der Marktpreise, die »Wohnungsnachfrage« zu befriedigen. Wo aber die Strukturen weiter zurück blieben, war im Bau von Schulen, Krankenhäusern und in allen sozialen Diensten, also dort, wo notwendigerweise das »unproduktive Kapital« herrschte. Der Schuldige wird sofort gefunden: nicht der Kapitalismus in seiner Gesamtheit, der trotz keynesianischer Gebote gezwungen ist, diesen Sektor zu missachten, sondern der 30jährige Verwalter seiner Macht, die Democrazia Cristiana (DC), ist schuld: auf diesem Boden wird eine neue reformistische Illusion genährt, nämlich, dass mit einer neuen Verwaltung, einer ehrlichen, keine Vetternwirtschaft treibenden usw. Regierung mindestens die dringendsten Reformen durchführbar sein werden. Auf diesem Boden treffen sich alle Linkskräfte, die an den letzten Wahlen teilnahmen: keine (oder weniger) Macht der DC bedeutet somit die Möglichkeit, die Reformen durchzuführen und gleichzeitig »die Krise zu überwinden«.

Es soll jetzt auf die politische Bewegung und auf die Lohnkämpfe hingewiesen werden: die Lohnkämpfe waren in Italien im allgemeinen breiter als in anderen Ländern, was oft zu übertriebenen politischen Folgerungen führte.

Vor allem nach der Periode des »Wirtschaftswunders«, das heisst nach 1964, erlebten die Lohnkämpfe einen beachtlichen Aufschwung, der 1979 seinen Höhepunkt erreichte. Das hängt damit zusammen, dass die Voraussetzung des »Wunders« in den niedrigen Löhnen bestand: die Arbeiterklasse hat sich daher energisch geschlagen, um mindestens eine Entschädigung für den erlittenen Schaden zu erhalten. Die Gewerkschaftsführungen aber, schon damals darauf bedacht, »Entwicklungsmöglichkeiten« nicht zu beeinträchtigen, brachten es fertig, mit der Strategie des »artikulierten« Kampfes (Stotterstreiks, Schwerpunktstreiks, strenge lokale und branchenmässige Splitterung der Kämpfe) eine Zusammenfassung und Vereinigung der Lohnbewegungen in Richtung auf einen einheitlichen Kampf zu behindern: die Tarifverträge wurden den Möglichkeiten der einzelnen Sektoren, Branchen und auch Gebieten untergeordnet.

Der Ausbruch von 1969, der nach der wirtschaftlichen Wiederbelebung erfolgte, war seinem Wesen nach die Antwort der Arbeiterklasse auf diese Form von Gewerkschaftskämpfen, auch wenn sie sich mit der Bewegung von anderen zahlenstarken und aussichtslosen Schichten wie der Studenten, kreuzte, eine Erscheinung, die anderen kapitalistischen Ländern gemeinsam ist.

Von diesem Augenblick an entwickeln sich politische Bewegungen, die die Absicht hegen, durch die Zusammensetzung der beiden grossen Impulse, der »protestlerischen« in der Schule und Universität und der Lohnkämpfe der Arbeiter, eine revolutionäre Bewegung in Gang zu setzen. Mehr als in Frankreich - von Deutschland ganz zu schweigen - richtet sich in Italien die Aufmerksamkeit auf die Arbeiterklasse. Eine rein spontaneistische Strömung entwickelt sich, die den Zusammenstoss mit der herrschenden Macht ausgehend vom Fabrikkampf und ohne »komplizierte Vermittlungen« erreichen möchte. Unter anderen Bewegungen entwickelt sich »Lotta Continua« (zu deutsch: »ständiger Kampf«) auf dieser Linie.

Eine andere, politischere Strömung, spiegelt die Schwierigkeiten wider, die die grossen traditionellen Arbeiterparteien gegenüber den zwei hervorstechendsten Erscheinungen jener Jahre fanden: der studentischen Protestbewegung (und teilweise der plötzlichen Aufwallung der Arbeiterkämpfe) und dem Bruch zwischen China und Russland mit der darauffolgenden »Kulturrevolution«. Es ist die grosse Stunde des Maoismus, der, im Vergleich zu seinen ersten »antirevisionistischen« Manifestationen in rein stalinistischem Sinn, sich mit einer Verpflanzung der äusserlichen Aspekte der »Kulturrevolution« in den Westen erneuert. Die Spaltung von »Manifesto« von der KPI reift mit diesem neuen »Bezugspunkt«: aus der Geschichte jener Jahre buddelt man die Lehre aus, wie man der westlichen Arbeiterbewegung eine antizentralistische und antibürokratische Garantie aufpfropfen kann: der Leninismus wird auch von diesen Leuten endgültig und vollständig liquidiert, natürlich nach dem man in Pflichtübung die »Rechtfertigung«... für seine Zeit ausgesprochen hat. Auch die Bewegung von »Avanguardia Operaia« (»Arbeitervorhut«), gehört zu dieser Strömung und geht von einer prochinesischen und prostudentischen Fassung des Trotzkismus aus, um später mit »praktischem« Geschick das Experiment eines Lenin-Mao-Studentenbewegungs-Cocktails, wo je nach Lage die verschiedenen Zutaten anders dosiert werden, durchzuführen.

Von Anfang an ist allen diesen Bewegungen nicht nur die Überschätzung ihrer selbst, sondern auch insbesondere der Lage von 1968-69 gemeinsam. Für sie fängt das kapitalistische System da an zu lecken, gleichzeitig öffnet sich ein neuer Weg für die Emanzipation der Arbeiterklasse. Früher konnte der Opportunismus objektiv nicht überwunden werden: er hatte in der Praxis eine historische Berechtigung, was auch heisst: seinen historischen Nutzen. Jetzt aber und jetzt erst kann man mit ihm brechen. Die frühere Geschichte ist eine dunkle Vergangenheit, ohne wichtige Lehren für die Gegenwart. Sogar der Stalinismus wird für die frühere Periode freigesprochen und seine »revolutionäre Funktion« wird an seiner Fähigkeit gemessen, vor allem der Studentenbewegung eine Antwort zu liefern. Typisch, was Rosanna Rossanda 1972 darüber schrieb, wie sich die »Stalinfrage« in der KPI nach dem 20. Kongress der Russen und nach den ungarischen Ereignissen stellte: um nicht in eine »sterile trotzkistische« oder »gefährlich sozialdemokratische« Analyse zu fallen, blieb den Genossen (sie selbstverständlich inbegriffen)
»
nichts anderes übrig, als die Ellenbogen unter dem Sturm zusammenzudrücken, zu warten, dass er vorübergeht, auf das Geschick Togliattis (sic!) und die Kraft einer Partei zu vertrauen, die nunmehr aus den schlimmsten Jahren der Arbeiterreaktion herauskam«.
Man brauchte halt den studentischen Protest und die chinesische »Kulturrevolution«, um die Augen dieser Leute mit ihrem Vertrauen auf Togliatti zu öffnen und sie vor »steril trotzkistischer« Versuchung zu retten. Und man brauchte nachher die Aussicht auf eine »Regierung der Linken«, um sie wieder in die Arme des Reformismus zu führen, von denen sie sich befreit glaubten und glauben. In diesem ewigen Hin und Her gegenüber dem »Unvorhersehbaren« gibt es nur eins, das fest ist: das Fehlen einer Theorie, einer über den Tag hinausgehenden Analyse, eines einheitlichen Rahmens für die Erklärung der Ereignisse. Alles andere ist flüssig, unbeständig, kurzum sumpfig.

Es ist klar, dass nach der Enttäuschung der ersten Illusionen die ersten Einschätzungen wiederholt »berichtigt« werden. Im Grunde bleibt dennoch die Einschätzung, dass die Arbeiterklasse in einer revolutionären Bewegung begriffen ist, dass es keinen Raum mehr für den Reformismus gibt, und dass der Prozess objektiv in Richtung auf die Gründung der revolutionären Partei als »Collage« der verschiedenen Strömungen des »revolutionären Lagers« läuft: eine erste Krönung soll die Wahlkoalition von PDUP, AO und LC sein, die »Democrazia Proletaria«.

Die Frage der Partei stellte sich allen, nach dem Rückfluss von 1969. Es war offensichtlich, dass es ohne eine weniger unbeständige politische Führung unmöglich wäre, irgendetwas aus den Ereignissen zu ziehen, und jede Bewegung versuchte, auf diese Frage eine Antwort zu geben. In Wirklichkeit lief das Neudurchdenken auf eine Wiederentdeckung der Notwendigkeit des Reformismus seitens einer völlig voluntaristischen Bewegung hinaus. Im besten Fall steht fest, dass der Reformismus »der anderen« (es ist immer der Reformismus der anderen) mindestens ein Verbündeter und nicht ein Feind ist, wie man ursprünglich geglaubt hatte (3).

Die jüngste Geschichte fasst sich zusammen in dem Programm von »Democrazia Proletaria«: die Voraussetzung für jeden weiteren Schritt in revolutionärem Sinn ist die Bildung einer »Linksregierung«, d.h. einer Regierungskoalition der kommunistischen Partei (PCI) mit der sozialistischen Partei (PSI), im Gegensatz zur Absicht dieser beiden Parteien, eine »Notstandsregierung« mit allen Parteien, die »auf dem Boden der Verfassung stehen« (das heisst unter Ausschluss der neofaschistischen MSI) zu bilden. Der Sieg sollte daran gemessen werden, ob die Wahlergebnisse die PCI aus ihrer Umarmung mit der widerspenstigen DC reissen können, und das Optimale wäre eine Linksregierung mit Beteiligung der Democrazia Proletaria selbst, deren Parlamentarismus also bis zur Regierungsbeteiligung geht, wobei sich eine solche Regierung selbstverständlich in eine... »Übergangsphase« zum Sozialismus verwandeln würde.

Diese Linksregierung hat sogar ihr Programm, schön ausgearbeitet von unseren Helden der Democrazia Proletaria, aber unbeachtet von den »künftige Regierungsparteien«. Dieses Programm zentriert sich auf das Problem, Investitionen und Beschäftigung miteinander in Einklang zu bringen, Italien aus der NATO austreten zu lassen, ohne in Abhängigkeit gegenüber der UdSSR zu fallen, die »nationale Unabhängigkeit« dadurch zu garantieren, dass... die Militärausgaben in soziale Investitionen verwandelt werden, das neue Investitionsmöglichkeiten in heute missachteten Sektoren, wie der Landwirtschaft und den Dienstleistungen, geschaffen werden usw. usf.. Es erübrigt sich, an dieser Stelle eine ausführliche Kritik dieses Programms, das von den Reformisten aller Länder mit der einen oder anderen Sossen vorgelegt wird, zu machen (4).

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich eine soziale Phase eröffnet, die von der Klassenzusammenarbeit für den Wiederaufbau und die »Wiedergeburt« des Landes gekennzeichnet war. Es ist selbstverständlich idiotisch, die PCI als »schuld« an der Situation anzusehen (wie die Linksgruppen in Italien, die immer wieder die Fabel auftischen, dass im »Partisanenjahr« 1945 die Alternative auf der Tagesordnung stand: entweder Kollaboration oder Revolution, wobei es nur darum gehen sollte (ratet mal!) die PCI zu überzeugen... den zweiten Weg zu wählen) (5). Objektive Tatsache war, dass die Arbeiterklasse ihrer internationalen revolutionären Führung beraubt worden war und sich eben deshalb, nach den blutigen Niederlagen unter den Schlägen der Demokratie, des Faschismus, des Nazismus und des Stalinismus, in den Strudel des Kriegskollaborationismus reissen liess. Wenn man die Ansicht verficht - wie es praktisch alle, von den Maoisten bis hin zu den »Trotzkisten«, tun –, dass es nicht darum ging, den Krieg zu sabotieren, sondern der antideutschen Front zu helfen, wie es mit der politischen Orientierung nach dem Sturz von Mussolini der Fall war, beweist man schlagend, nicht verstehen zu können, dass die revolutionäre Entwicklung an der Möglichkeit zu messen war, eine proletarische Front gegen alle Kriegsteilnehmer, Russland inbegriffen, zu bilden. Deshalb schrieb unsere Bewegung 1945, während sie versuchte, sich wieder zu organisieren, in ihrer Plattform:
»
Das vorrangige Erfordernis in der gegenwärtigen Weltlage besteht darin, in einer internationalen politischen Organisation alle lokalen und nationalen Bewegungen zusammenzufassen, die sich ohne Zweifel und Zögern ausserhalb der Blöcke für die bürgerliche Freiheit und den liberalen antifaschistischen Kampf stellen, die nicht unter dem Einfluss der Einflüsterungen der bürgerlichen Kriegspropaganda beider Kriegsfronten stehen, die entschlossen sind, die Selbständigkeit des Denkens, der Organisation und des Kampfes der internationalen proletarischen Massen wieder aufzubauen...« (6).

Diesem Punkt damals nicht verstanden zu haben und in heute, a posteriori, nicht zu verstehen, bedeutet, die ganze Wirklichkeit der Nachkriegszeit nicht verstehen zu können, die aus dieser Kriegsfront hervorging, die man damals nicht einmal hat schwächen können. Die Brüche, die sich in dieser Front ergeben, haben eine äusserst grosse Bedeutung, und die Fähigkeit der Analyse und der Aktion kann man an der Exaktheit der Einschätzung, die man von ihnen gibt, messen. Wenn man aber nicht nur von der Existenz von fähigen politischen Kräften absieht, sondern sogar objektive revolutionäre Bewegungen erwartet, ohne zu berücksichtigen, ob es eine wirkliche Tendenz zum Bruch mit den kollaborationistischen Kräften gibt, verfällt man ganz einfach einer platten Illusion.

Der weltweite »Wiederaufbau« des Kapitalismus, der fast nur von den nationalen Befreiungskämpfen der vom westlichen Imperialismus geknechteten Nationen gestört wurde, hat auf die proletarische Klasse Auswirkungen gehabt, die noch verheerender waren, als man es 1945 hat vorhersehen können. Die Arbeit von wenigen, die auf den Bruch der Front der Klassenzusammenarbeit gerichtet war, blieb ohne Echo. Leichteren Widerhall fanden die Zwischenpositionen, die sich die ewige Aufgabe stellen, die Parteien und Organe der Klassenkollaboration »auszunutzen«. Aber auch der geringe Massstab ihres Erfolges sowie ihre immer wieder vollzogene Rückkehr von der »Zwischenposition« zur reinen Kollaboration bestätigen die objektive Lage.

1976 bleibt das wesentliche Problem im Kern dasselbe: alle Energien für die Stärkung einer Organisation einzusetzen, die weiss, keine Verbündeten als das in den anderen Ländern kämpfende Proletariat zu haben. Und dieses elementare Bewusstsein macht erst seine anfänglichen Schritte.

Ohne Zweifel hat sich 1969 in Italien eine Phase eröffnet, die sich von der früheren unterscheidet. Es ist die Phase der langsamen, mühsamen, immer wieder auf sich selbst zurückkehrenden Zersetzung der aufgezwungenen »Modelle«: das platt bürgerliche »Wohlstandsmodell« - und es wäre blöde, es nicht zu beachten, diente es ja zu einer Verbürgerlichung, die um so massiver war, als eine einmalige Wirtschaftsentwicklung die Arbeiterklasse ideologisch entwaffnet vorfand –, das Modell des klassisch sozialdemokratischen und stalinistischen Opportunismus, pazifistisch (was die Klasseninteressen angeht), kollaborationistisch, an das Schicksal der Volkswirtschaft und demzufolge des »Vaterlands« gebunden. Eine Linksvariante des letzteren, eine »zentristische« Strömung (mindestens in den Absichten) besteht schliesslich im Modell der oben erwähnten Gruppen: »geschickte« Verwendung der opportunistischen Organisationen, von denen man wie von einem Sprungbrett für die Revolution ausgehen muss. Dieses raffinierte »Modell« sagte: wir sind keine Reformisten, die Reformen und der Reformismus dienen uns aber, um weiterzugehen. Wie die Linksregierung. Alles sind lauter »Kasematten«, Festungen, auf denen oder von denen aus der Endkampf durchgefochten werden soll. Die Ärmsten verstehen nicht, dass diese Kasematten gegen die Arbeiterbewegung gerichtet sind, die somit nur mit den Parolen und Institutionen des Feindes »bewaffnet« sind, und in der Illusion gewogen wird, bereits alles erreicht zu haben. Portugal und Chile sind in diesem Sinne tragische Modelle: die »Revolutionäre« rechneten mit der Unterstützung der Reformisten in der Regierung, die logischerweise die Revolutionäre entwaffneten. So geht die Bewegung zurück und die Arbeiter, die sich auf eigene Rechnung organisierten, werden unausweichlich geschlagen. Italien rühmt sich einer glorreichen, proletarischen Tradition, was auch stimmt: um so mehr gilt es, die Lehren zu ziehen.

Der Reformismus hatte in Italien das Proletariat sogar 1922 entwaffnet, als der Faschismus voll im Angriff war. Der Reformismus hat das heutige Italien in Zusammenarbeit sogar mit den Monarchisten und Pfaffen »wieder aufgebaut«. Mit ihrem Einverständnis hat er das Land den siegreichen Verbündeten, den Herren der Welt, ausgeliefert und dafür nur um etwas Gnade und später um ein paar Dollars gebeten. Er ist mehr denn je bereit, die Rolle zu wiederholen, die einzige, die er geübt hat und auswendig kennt.

Der »historische Kompromiss« der PCI bedeutet nichts anderes als die Fortsetzung der Klassenkollaboration in einer Zeit, wo es der Bourgeoisie darum geht, durch Scheinkonzessionen zu erreichen, dass die Arbeiterklasse mit einem Mindestmass an sozialen Unruhen den Gürtel zum Wohle des Vaterlands immer enger schnallt. Das wird im Wahlprogramm der PCI klar formuliert:
»
Man kann von den Arbeitern und den Massen eine grössere Anstrengung abverlangen, wenn man eine immer grössere Gerechtigkeit in der Anwendung der notwendigen Massnahmen und in der Verteilung des Reichtums sicherstellt«, da »die soziale Ungerechtigkeit die nationale Solidarität verhindert«.
In der Praxis bedeutet das, dass die
»
Unternehmer sich ernsthaft verpflichten müssen, ihre Profite in Italien zu reinvestieren und alle ihre Mittel und unternehmerischen Fähigkeiten in den produktiven Sektoren zu konzentrieren«, während auf der anderen Seite »eine ernsthafte Arbeitsanstrengung aller erforderlich ist«, um »die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, (...) das Krankfeiern zu reduzieren«, sich einer »gefährlichen Gleichmacherei« in der Lohnfrage zu widersetzen und von der Gewerkschaftsbewegung zu verlangen, dass sie »zur Durchführung von Notstandsmassnahmen beitrage«. Das verlangt natürlich eine »leistungsfähigere Exekutive«, kurzum einen starken Staat mit »einer erhöhten Wirkungskraft der Streitkräfte im Interesse der Nation und zwecks Sicherung der republikanischen Institutionen«.
Es ist das Programm einer Notstandsregierung gegen die Arbeiterklasse, aber ohne Reaktion seitens der Arbeiterklasse, die demzufolge der aktiven Kollaboration der Parteien bedarf, die die Arbeiterklasse kontrollieren
(7).

In einer zerrütteten Wirtschaftslage, der gegenüber die Arbeiterklasse aufgrund der langjährigen Entwaffnung durch den Opportunismus nicht in der Lage ist, ihre Interessen (und seien es die konkreten Interessen) durchzusetzen, geht es der Bourgeoisie einschliesslich ihrer Agenten in der Arbeiterklasse darum, der Arbeiterklasse das »Stabilisierungsprogramm« zu verkaufen (8). Deshalb agitiert nicht nur die DC gegen eine »Linksregierung« sondern sperren sich die Parteien, die eine solche Regierung nach Wunsch der Operettenrevolutionäre bilden sollten, selbst dagegen. Die Hypothese einer Linksregierung ist als kurzfristige Perspektive ausgeschlossen, keineswegs aber weil diese Regierung im Sinne der Interessen der Arbeiterklasse weiterzugehen gezwungen wäre, als ihr lieb sein könnte, sondern weil sie eben im umgekehrten Sinne zu weit gehen müsste, nämlich im Sinne der Übernahme der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und militärischen Unterdrückung der Arbeiterklasse in eigener und alleiniger Verantwortung: und soweit darf die Bourgeoisie heute noch nicht gehen, die Zeit ist noch nicht reif für den Verbrauch der Waffen, die sie in der Zukunft, bei ganz anderer Grössenordnung der Krise einsetzen muss. Hier zeigt sich die nicht nur ohnmächtige sondern geradezu kriminelle Politik der Befürworter einer »progressiven Rolle« opportunistisch-reformistischer Regierungen in vollem Licht (und auch die Utopie ihrer Einschätzung, nicht nur der langfristigen, sondern auch der unmittelbaren Entwicklung). Selbiges gilt auch für die Befürworter einer Linksregierung, weil sie die Möglichkeit liefern würde, den Opportunismus zu entlarven. Der Opportunismus ist heute eine mächtige, organisierte Kraft, die die Arbeiterklasse fast totalitär kontrolliert, während diese Arbeiterklasse vom revolutionären Standpunkt aus desorganisiert ist. Während also der strategische Spielraum des Opportunismus gegenüber der Arbeiterklasse gross ist, rechtfertigt die Lage keineswegs, dass er die Rolle des Bluthunds unmittelbar spielt. Wäre die Lage aber eine solche, wie in Mitteleuropa am Ende des Ersten Weltkriegs, das heisst müsste die Bourgeoisie in einer Situation der höchsten Krise den Opportunismus mit der Regierung beauftragen, damit dieser dadurch einen Teil der Arbeiterklasse lähmt und gegen den Teil, der in die revolutionäre Bewegung getreten ist, den Notstand ausruft und den Bluthund spielt, mit anderen Worten damit der Opportunismus die noch mangelnde Vorbereitung des Proletariats ausnützt, um die Reihen des Proletariats zu »säubern«, dann fragt sich, welche Entlarvung die Militanten der Revolution heute wohl vor Augen haben können: bei derartigen Kräfteverhältnissen und bei ihrer Nachtrabpolitik gegenüber dem Opportunismus, das heisst bei fehlender Vorbereitung des Proletariats auf die gewaltsame Unterdrückung durch die »arbeiterfreundliche« Regierung, müsste es wohl eine Entlarvung im Himmel sein, wohin ihre gutmütigen Seelen nach dem Massenmord wandern würden.

Dieser kurzfristige Exkurs über die Taktik sollte weniger auf die Absurditäten eine Einschätzung der Lage hinweisen, die eine opportunistisch-reformistische »Arbeiterregierung« eher als Produkt der Propaganda einer verschwindenden Minderheit ansieht, als als Ergebnis einer krisenhaften materiellen Entwicklung; vielmehr ging es darum, zu zeigen, dass die Entlarvung eben voraussetzt, dass die organisierte Kraft vorhanden ist, die das Proletariat vorbereitet, damit nicht im Endeffekt die Schwäche und Desorganisierung des Proletariats entlarvt wird, also eine organisierte Kraft, die nicht davon ausgeht, dass die opportunistische Regierung die Sachen leichter machen wird, sondern davon, dass sie - um es kurz zu sagen - auf die Arbeiter schiessen wird, weil die Verteidigung des Kapitalismus dies von ihr verlangt: nur so, nur indem sie Illusionen bekämpfen und sich und das Proletariat auf den wirklichen Klassenkampf vorbereiten, können Revolutionäre aus der »Entlarvung« profitieren.

Es versteht sich aus dem oben gesagten von selbst, dass in Italien, wie in allen anderen Ländern, der revolutionäre Weg nicht über die Verkennung der tatsächlichen Situation und der tatsächlichen Kräfteverhältnisse, nicht über die reformistischen »Kasematten« geht - die eigentlich, wenn sie als solche begriffen werden, nichts anderes sind als Theoretisierung der eigenen Schwächen und entsprechender »Ersatz« für den Klassenkampf - sondern über ganz andere »Kasematten«. Er ist im wesentlichen der Weg der Wiederherstellung einer gegenüber dem Reformismus unabhängigen Klassenbewegung, einer auch nur unmittelbaren Bewegung, die den demokratischen »Garantien« und den Institutionen nichts schenkt: diese haben von sich aus nicht mehr zu geben, man muss ihnen die Zugeständnisse entreissen bevor man sie zerstört. Die Bildung dieser »Kasematte« ist der Massstab für die wirkliche Radikalisierung des Klassenkampfes: seine Tendenz, den Boden der »Erneuerung« des Unterdrückungsapparates zu verlassen, sich nicht wieder auf diesen Boden schleppen zu lassen, die Wiedereroberung von autonomen Verteidigungspositionen, wo, wie in den alten »Arbeitskammern« die Probleme der Arbeiter auf der Tagesordnung stehen, und nicht die Probleme der Verwaltung der eigenen Unterdrückung.

Wenn erst diese Linie der proletarischen Partei den Boden liefern wird, die Kämpfe der Arbeiterklasse auf eine politische Stufe zu heben, setzt sie selbst, wenn sie Kontinuität haben und diese potenziert werden soll, die Tätigkeit dieser Partei voraus, die nicht nur die Theorie und Taktik des Marxismus in die Bewegung einführen muss, sondern für den Tageskampf der Arbeiterklasse - die in ihren unmittelbarsten Lebensinteressen vom Opportunismus verraten wird - intensiv zu wirken hat.

Notes:
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  1. Risorgimento = Wiedergeburt. Damit wird die Periode der Befreiungs- und Einheitskriege des 19. Jahrhunderts bezeichnet, die zur Bildung des modernerem italienischen Staates führte [back].
  2. Wirtschaftsdaten aus G. Podbielski, »Storia dell'economia italiana 1945-1974«, Bari, Laterza, 1975, vor allem Seite 182 und Tabelle 4. [back]
  3. Das zeigt sich auf Gewerkschaftsebene besonders krass. Während die Gruppen sich zunächst auf die 1969 entstandenen autonomen Basisorganisationen stützten, haben sie durch ihre Nachtrabpolitik gegenüber den Gewerkschaftsführungen (heute unterstützen sie sogar die gewerkschaftliche »Investitionspolitik«, die nichts anderes darstellt, als der Versuch, den Tageskampf durch utopische Reformpolitik zu ersetzen) zur Kontrollübernahme der Gewerkschaften über diese Organisationen beigetragen, die dadurch nicht einmal mehr ein Druckpotential gegen die Verratspolitik der Gewerkschaften darstellen können. Wie immer erfolgte diese Liquidierung der eigenen Position, die vor allem für Avanguardia Operaia charakteristisch ist, über die Annäherung an die »Linksströmung« der Gewerkschaften. Man kann selbstverständlich keineswegs ausschliessen, dass sich in den Gewerkschaften eine Linksströmung bildet. Kennzeichen dieser Linksströmung müsste aber der Kampf gegen die Gewerkschaftsführungen und gegen die Gewerkschaftspolitik sein, das heisst das Auftreten für Klassenforderungen und Klassenmethoden. Die heutige »Linksströmung«, die sich zu einem grossen Teil mit Militanten des PDUP (Manifesto) identifiziert (die entweder aus der PCI oder aus der PSIUP, einer »linken« Abspaltung der PSI, kommen), vertritt im Gegenteil das Wesen der offiziellen Gewerkschaftspolitik, das übrigens sehr charakteristisch ist für die heutige Funktion des Opportunismus: ging es dem klassischen Opportunismus aus der Zeit der II. Internationale darum, den Tageskampf mit einer reformistischen Politik zu kombinieren, oder besser in eine reformistische Politik münden zu lassen, so geht es heute darum, den Tageskampf durch Reformpolitik zu ersetzen, was sich auch in den vorgeschlagenen Reformen selbst ausdrückt: Investitionspolitik, Entwicklung des italienischen Südens usw.. Während aber Avanguardia Operaia die eigene Position völlig liquidiert hat und die Positionen des Manifesto (die Positionen einer Linksdeckung des offiziellen Opportunismus) übernahm, versucht Lotta Continua noch das Nachtraben hinter den Gewerkschaftsführungen mit einer spontaneistischen Position zu verbinden. [back]
  4. Das Programm, das Lotta Continua in seiner Zeitung vom 23./24.5. veröffentlichte, verlangt
    »
    Investitionen, die wirklich Arbeit und soziale Dienstleistungen beschaffen« (unter dem Kapitalismus!!!), fordert die »parlamentarische Kontrolle über die Militärpolitik«
    und sogar die Untersuchungen, dass die Polizei schlecht funktioniert, weil die eine Hand nicht weiss, was die andere tut. Über die Rolle der Polizei kein Wort, dafür als Allheilmittel die gewerkschaftliche Organisierung der Ordnungshüter.
    Die Spitze wird aber bei der Aussenpolitik erreicht. Während Avanguardia Operaia (»Quotidiano dei Lavoratori«, 16./17.5.) schrieb, dass es notwendig ist,
    »
    das Land politisch und ökonomisch der Perspektive einer imperialistischen Vereinigung Europas zu entziehen (...)«, »die Suche nach einem Weg progressiver Unabhängigkeit (...)« und »internationale Beziehungen (...) auf der Grundlage der Autonomie und des gegenseitigen Nutzens«
    fordert, spricht Lotta Continua in ihrem bereits zitierten Programm von einer
    »
    unabdingbaren Linie der Autonomie und der nationalen Unabhängigkeit«.
    Ein solches Programm unterscheidet sich nicht einmal in der Demagogie von den charakteristischen Programmen opportunistischer Parteien, wälzt sich aber in der Illusion, nicht reformistisch zu sein, weil die »Basis« Reformen unterstützen und mittragen soll. Kein »Reformismus von oben«, dafür aber »Reformismus von unten«. Dass diese Leute, für die die Erfahrungen des früheren Klassenkampfes sowieso nicht einmal musealen Wert haben, sogar jüngste Katastrophen wie Chile und Portugal souverän übersehen, zeigt ihre Auffassung der Linksregierung als Träger des »Programms«: die Linksregierung ist zwar noch nicht die wirkliche Regierung der Arbeiter, aber
    »(...)
    sie kann und muss ein wichtiges Instrument im Aufbau der Volksmacht sein; sie kann und muss das Programm, die Kämpfe und die Entwicklung der proletarischen Organisation unterstützen; sie kann und muss dazu dienen, die Reihen der gegnerischen Klasse zu desorganisieren« (»Lotta Continua«, 23./24.5.).
    Für Avanguardia Operaia kann man sogar die heutige republikanische Verfassung (mit einigen Verbesserungen) anwenden.
    Es handelt sich um eine rosarot gefärbte demokratisch-reformistische Perspektive: durch ein Wahlergebnis wird eine Regierung gebildet, die den bürgerlichen Staat in den Dienst der Arbeiterklasse und der Überwindung des Kapitalismus stellt. Unter dieser Regierung schafft man im Kapitalismus politisch und ökonomisch wachsende Inseln von Sozialismus, die schliesslich den Rahmen des Kapitalismus und des kapitalistischen Staates überborden. Es ist verständlich, warum diese Gruppen dazu bestimmt sind, dem offiziellen Opportunismus nachzutraben und von ihm assimiliert zu werden: ihre ganze »revolutionäre« Perspektive besteht darin, den Opportunismus und den bürgerlichen Staat durch einen »Druck von unten« zu Trägern eines Hineinwachsens in den Sozialismus zu machen. Solche Gruppen können das Proletariat nicht auf die Revolution vorbereiten, ganz einfach, weil für sie die Revolution nicht notwendig ist.
    Damit hängt (da man wohl einsehen muss, dass der Opportunismus sich so revolutionär nicht entwickelt) selbstverständlich zusammen, dass man die reformistischen Parteien durch eine »richtige Politik« sozusagen zwingen muss, weiterzugehen, als ihnen lieb wäre. Es handelt sich um die Theorie der »Verpflichtungen«, die Lenin brandmarkte und heute in einer idiotischen und selbstmörderischen Fassung auftritt, dass sie auf Parteien angewandt wird, die - im Gegensatz zur Demokratie 1905 - nicht mehr gegen den Zarismus kämpfen, sondern selbst Tragsäulen des bestehenden Regimes sind. Geben wir aber Lenin das Wort:
    »
    Der opportunistische Flügel der Sozialdemokratie ist stets geneigt, auf die bürgerliche Demokratie in der Weise einen »Druck auszuüben«, dass er ihr Verpflichtungen abverlangt, während der revolutionäre Flügel der Sozialdemokratie auf die bürgerliche Demokratie dadurch einen »Druck ausübt« und sie nach links stösst, dass er sie wegen ihrer Rechtsschwankungen brandmarkt und das er unter den Massen die Losungen der entschiedenen Revolution verbreitet. Die Theorie des »Abverlangens von Verpflichtungen«, diese berühmte Theorie des Lackmuspapiers (...), ist im höchsten Grade naiv und nur geeignet, im Proletariat Verwirrung zu stiften und es zu demoralisieren«. [back]
  5. Bezeichnend diesbezüglich unter anderem eine Propagandabroschüre der GCR (italienische Sektion der »IV. Internationale«) vom November 1974 (»Historischer Kompromiss oder Arbeiterregierung?«), wo scharfsinnig darauf hingewiesen wird, dass die PCI 1943 -45 die Entwaffnung der Partisanen, den Wiederaufbau der alten reaktionären Armee usw. usf. »wählte« (sic!). Das hindert den Autor nicht daran, sich darüber zu beklagen, dass die heutige PCI nicht darauf abzielt,
    »
    die heutigen Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse zu überwinden, um sie um ein Programm des antikapitalistischen Kampfes, gegründet auf alle Bedürfnisse der Arbeiter, zu vereinigen«.
    Das Problem bleibt für diese Leute immer dasselbe: die PCI dazu zu führen (präziser ausgedrückt: dazu zu verführen), sich für den revolutionären Weg zu entscheiden!
    [back]
  6. in »Per l'organica sistemazione dei prinzipi comunisti«, Seite 111 -112, Edizioni Programma Comunista, Mailand 1974. [back]
  7. »L'Unità«, 16.5.76. Die Zitate wurden einem Programm der PCI entnommen, das gebührend heisst: »Für eine Einheitsregierung der Rettung und Wiedergeburt des Landes«. [back]
  8. Bürgerlicher Scharfsinn kennt keine Grenzen, wohl aber den Wettbewerb »linker« Beurteilungen. Die Wahlergebnisse werden allgemein als Polarisierung der Kräfte in Italien bewertet, allerdings nicht unbedingt von der PCI selbst, die jede mögliche »Polarisierung« nur wittert, um die Notwendigkeit einer »Konvergenz« um so mehr zu unterstreichen. Die grossen Sieger PCI und DC stellen sich beide als Volksparteien vor, beide treten sozial und ideologisch als nationale Parteien auf, beide streben eine Stabilisierung der Lage an, beide Stellen konvergierende »Pole« dar und predigen die Klassenkollaboration. Herr Spinelli & Co stellen sich als Kandidaten der PCI, weil sie nur in einer Beteiligung der PCI an der Regierung eine Stabilisierungsmöglichkeit erblicken. Mittelstandswähler wählen die PCI aus demselben Grund. Darin erblickt aber der unvergleichliche Scharfsinn der »Korrespondenten« eine »Polarisierung der Nation«. Wenn der Durchschnittsarbeiter bei den herrschenden Kräfteverhältnissen keine Perspektive sieht, die eigenen Interessen durch den Klassenkampf durchzusetzen, sich von der Stabilisierungsillusion der PCI einfangen lässt und diese wieder wählt, obwohl sie für ihn nur Opfer zu versprechen hat (und erst später, die Litanei kennt man, eine Scheibe des grösser gewordenen Kuchens) wittert die »Linke« revolutionäre Zeichen am Himmel. Die PCI wird sich weiterhin - wie bisher - von den Oppositionsbänken aus an der Regierung beteiligen. Sie wird weiterhin die DC anprangern, nicht fähig zu sein, die einzelnen Bourgeois im Sinne der Gesamtinteressen der Akkumulation zu disziplinieren usw.. Unsere »Entlarver« sind aber merkwürdige Leutchen. Anstatt aufzuzeigen, dass die PCI von den Oppositionsbänken aus die Politik der Regierung mitgestaltet und unterstützt, fordern sie... die PCI-Regierung.
    Ein besseres, praktisches Argument als die Wahlen, die soviel »polarisieren«, dass sie alles beim alten lassen und nur die Stabilisierung auf dem Rücken der Arbeiterklasse sanktionieren, also ein aktuelleres Argument für unseren aktiven Wahlboykottismus, für den Aufruf an die Arbeiterklasse, durch den Klassenkampf die Verteidigung ihrer Lebens- und Kampfbedingungen zu ergreifen, könnte man sich kaum denken.
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Source: »Kommunistisches Programm«, Nr. 11, Juli 1976

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