Marxismus und Klassenkampf
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KLASSENÜBERGREIFENDE PROTESTE IM IRAN KÖNNEN DIE BÜRGERLICHE THEOKRATIE NICHT ERSCHÜTTERN


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Klassenübergreifende Proteste im Iran können die bürgerliche Theokratie nicht erschüttern
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Das Fehlen proletarischer Forderungen schwächt die Bewegung

Klassenübergreifende Proteste im Iran können die bürgerliche Theokratie nicht erschüttern

Die Wirtschaft in den Händen der Pasdaran ist die materielle Grundlage für den Konsens der Islamischen Republik auf der Suche nach Allianzen

Die Proteste, die den Iran seit Mitte September erschüttern, sind noch weit davon entfernt, einen politischen Ausgang zu finden und die Machtverhältnisse zwischen den Klassen und das seit langem bestehende Machtgleichgewicht innerhalb des Regimes der theokratischen bürgerlichen Republik in Frage zu stellen.

Die Protestbewegung, die spontan aus der Ermordung von Mahsa Amini durch die »Sittenpolizei« hervorging, war nicht in der Lage, sich selbst eine Richtung zu geben, die ihre Kämpfe vereinen und ausweiten konnte. Das liegt daran, dass diese Bewegung nicht in der Lage oder sogar nicht bereit war, sich mit der wirtschaftlichen Unzufriedenheit des Proletariats und der schwächeren Schichten der iranischen Gesellschaft zu verbinden.

Seit Mai 2022 hatten die Proteste und Unruhen zugenommen und störten seit Ende 2017 den sozialen Frieden im Land. Ende 2017 kam es aus wirtschaftlichen Gründen zu einem spontanen Aufstand, bei dem die proletarische Komponente sehr wichtig war. Die anschliessende Repression konnte ihn nicht vollständig niederschlagen und in den folgenden Jahren brachten das iranische Proletariat und die halbproletarischen und entrechteten Schichten weiterhin ein gewisses Mass an sozialen Unruhen zum Ausdruck.

Das Gleiche geschah seit Mai 2022, als die hohen Lebenshaltungskosten und das Elend zu Protesten führten, bei denen die Arbeiterkomponente keineswegs fehlte. Auch der Mangel an fliessendem Wasser in der Provinz Chuzestan verstärkte diese Proteste.

Doch das iranische Proletariat, das unfügsam und kämpferisch ist, aber nicht über die Organe seiner eigenen Klassenunabhängigkeit verfügt, nämlich die kommunistische Partei und die Gewerkschaft, war nicht in der Lage, seine Richtung in den Kämpfen durchzusetzen, die schliesslich einen klassenübergreifenden Charakter angenommen haben.

In den folgenden Monaten verstärkte sich dieser Charakter der Proteste. Die Unterdrückung der Frauen und die erniedrigende Auferlegung des Schleiers wecken Empörung, die jedoch ohne Ausweg bleibt, wenn die Arbeiterklasse, die auf der Ebene ihrer eigenen klassenökonomischen Forderungen fest vereint ist, keine führende Rolle spielt.

Die Bourgeoisie und das Bürgertum, die sich über die Auswüchse der »Sittenpolizei« ärgern, sind nicht an einer Bewegung des Proletariats interessiert, sondern ziehen es vor, dass es die eiserne und terroristische Willkür innerhalb und ausserhalb der Fabrik schweigend erträgt.

Dieser Kampf gegen das Regime betrifft nicht nur die Mittelschichten, wenn die theokratische Repression mit ausgesuchter Grausamkeit die proletarischen oder halbproletarischen Elemente trifft, wie es bei den vier hingerichteten jungen Männern der Fall war. Die Repression gegen Frauen, die sich weigern, den Schleier zu tragen, ist in den Vierteln der Reichen viel milder als in den proletarischen Vierteln.

Ein weiteres Element der Proteste ist die Frage der ethnischen Minderheiten, die in unterschiedlichem Masse unterdrückt werden. Kurden und Belutschen haben einen wichtigen Beitrag während der Proteste geleistet. Wie die Chuzestan-Araber leiden sie nicht nur unter sprachlicher, sondern auch unter religiöser Diskriminierung, da sie als Sunniten im Iran der schiitischen Kirchenhierarchie eine Minderheit und untergeordnet sind. Ein gewisses Unbehagen ist auch bei der schiitischen türkischen Komponente der Azeris, der wichtigsten sprachlichen Minderheit des Landes, zu spüren, deren Bourgeoisie mit wachsendem Interesse auf das türkische »Modell« blickt.

Für ein Land mit einem ausgereiften Kapitalismus, das unter der Verlangsamung des industriellen Wachstums und den Schwierigkeiten der vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen zur Begrenzung seiner Ölproduktion leidet, besteht eindeutig ein Problem des Krisenmanagements durch das theokratische bürgerliche politische Regime. Das Problem der sozialen Unruhen droht immer komplexer zu werden, denn die Arbeitslosigkeit liegt bei 10 % der Erwerbsbevölkerung und bei 25–30 % der jungen Menschen. Die ständige Abwertung der Währung macht sich durch plötzliche Preissteigerungen bemerkbar (die Inflation liegt bei 40 %), und das Elend lauert unter den breiten Massen. Fünfundvierzig Prozent der Iranerinnen und Iraner leben unterhalb der Armutsgrenze und 10 %, die in absolute Armut abrutschen, haben ernsthafte Unterernährungsprobleme.

Auch die demografische Entwicklung ist nicht gerade förderlich für die soziale Stabilität, wenn von den 88 Millionen Einwohnern rund 51 % unter 30 Jahre alt sind, während die erwerbstätige Bevölkerung nicht einmal 25 Millionen erreicht. Die Arbeitslosenzahlen, vor allem bei jungen Menschen, werden in den ländlichen Gebieten stark unterschätzt, wo immer noch mehr als 17 % der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft beschäftigt sind.

Ausserdem ist der Iran schon seit mehreren Jahrzehnten voll kapitalistisch ausgereift. Seit vielen Jahren sind über 30 % der Arbeitskräfte in der Industrie beschäftigt. Das verarbeitende Gewerbe ist relativ weit entwickelt, während die Industrieintensität des Landes nach der von den Vereinten Nationen geschätzten Stromproduktion mit einem Index von 107 leicht vor der Türkei mit 106 liegt.

In diesem Kontext der strukturellen Moderne bindet ein Element die politische Stabilität an mächtige Interessennetzwerke: Die Pasdaran, die sogenannten » Revolutionswächter« und der zuverlässigste militärische Arm der bürgerlichen Theokratie, kontrollieren einen grossen Teil der Wirtschaft des Landes. Dies ist vergleichbar mit der Übernahme der Wirtschaft durch die ägyptische Armee, die bereits seit mehreren Jahrzehnten andauert. Wie in Ägypten üben die Pasdaran einigen Schätzungen zufolge über die »Bonyads«, wörtlich »Stiftungen«, eine strenge Kontrolle über mehr als 60 % der iranischen Wirtschaft aus.

Dies deutet auf eine klare Tendenz zum Staatskapitalismus hin und erklärt auch, warum die Kämpfe der prekär Beschäftigten in der Privatwirtschaft, vor allem im Ölsektor, den Proletariern, die in dem direkt oder indirekt vom Staat kontrollierten Sektor beschäftigt sind und die mit grösseren Garantien wie einem mit dem Existenzminimum kompatiblen Lohn und einer grösseren Stabilität des Arbeitsvertrags rechnen, oft gleichgültig sind.

Dieser Prozess der Stärkung der militärischen Klasse der Pasdaran markiert einen internen politischen Kampf innerhalb der iranischen herrschenden Klasse, bei dem die aussenpolitischen Orientierungen erhebliche Auswirkungen auf die Kriterien für das Management der nationalen Wirtschaft hatten.

In den 1990er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrhunderts entwickelten die Präsidentschaften von Rafsandschāni und Chātami »liberalistische« wirtschaftspolitische Tendenzen und eine versöhnliche Haltung gegenüber dem »kapitalistischen« Westen, wenn auch innerhalb der Grenzen, die der Rahmen der Islamischen Republik zuliess. Sie entstand aus dem Sturz des monarchischen Pahlavi-Regimes, das 1953 durch den von London und Washington geplanten Staatsstreich wiederhergestellt wurde, der der Regierung Mossadeqhs ein Ende setzte, dem einzigen Versuch der iranischen Bourgeoisie, eine national-liberale Politik zu betreiben.

Die Politik von Chātami, der von 1997 bis 2005 Präsident war, bestand darin, einen grossen Teil der staatlichen Unternehmen zu privatisieren, was auch das Ergebnis der Beschlagnahmung des Kronvermögens nach seinem Sturz war. Der staatsorientierte Charakter, den der iranische Kapitalismus nach der so genannten »islamischen Revolution« von 1979 angenommen hatte, hatte zu einer Form des wirtschaftlichen Dirigismus geführt, der die Annahme von Fünfjahresplänen nicht verachtete.

Im Jahr 2005 brachten die Wahlen Ahmadinedschād, einen Verfechter der »strengeren« Tradition der Islamischen Republik, auch im wirtschaftlichen Sinne, ins Präsidentenamt. Die Wirtschaftspolitik seiner Regierung konnte sich jedoch nicht vom »Liberalismus« der beiden vorherigen Präsidenten lösen, und als es um die Privatisierung von 300 staatlich kontrollierten Unternehmen im Wert von 70 Milliarden Dollar ging, landeten nur 13,5 % davon in den Händen von Privatpersonen, unter ihnen die grossen iranischen Kapitalisten. Der Rest ging fast vollständig in die Hände der Pasdaran über.

Diese »Militarisierung« der iranischen Wirtschaft sollte in zweierlei Hinsicht als bestimmend für die politischen Entscheidungen des Staates angesehen werden:
1) Die Pasdaran müssen ihren Einfluss auf die iranische Gesellschaft zugunsten ihres eigenen Netzwerks wirtschaftlicher Interessen aufrechterhalten, und dies spiegelt sich auch in der Notwendigkeit wider, den Massen die Verhaltenskanäle aufzuzwingen, die die schiitischen Ayatollahs in ihrer eigenen Auslegung des Religionsrechts vorsehen;
2) Die Wiederaufnahme des Dialogs mit dem Westen würde zwangsläufig eine Verstärkung des wirtschaftlichen Austauschs mit Amerika und Europa bedeuten, was das Gewicht des von den Pasdaran kontrollierten Teils der iranischen Wirtschaft fatal schwächen würde, die ihre Allgegenwart an den Kommandoposten mit den ständigen Spannungen und dem von pro-iranischen Milizen geführten Krieg im Irak, in Syrien, im Libanon und im Jemen rechtfertigen können.

Aus diesen Prämissen und der von den westlichen Mächten, vor allem den USA, verhängten Sanktionspolitik folgt, dass die Hauptexportressourcen des Irans, Öl und Gas, derzeit weniger Gewicht haben als in der Vergangenheit, sowohl in der Wirtschaft des Landes als auch im Export.

Das hat mehrere Gründe. Die Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen, von 28,45 Millionen im Jahr 1970 auf 87,92 Millionen im Jahr 2021. In den 1970er Jahren lag die Ölproduktion zeitweise bei sechs Millionen Barrel pro Tag. Im Jahr 1978, dem letzten Jahr des monarchischen Regimes, zählte die Bevölkerung des Irans 36 Millionen. Zum Zeitpunkt des Übergangs zum theokratischen Regime – wir können im Iran nicht von einer sozialen Revolution sprechen, sondern von einem gewaltsamen Regimewechsel in einem Kampf zwischen bürgerlichen Fraktionen – produzierte der Iran also ein Barrel Öl pro Tag für je sechs Einwohner, und ein grosser Teil der Produktion war für den Export bestimmt. Im vergangenen Dezember, als sich die Förderung nach zwei Jahren des Rückgangs aufgrund der Pandemie wieder erholte und rund 2 Millionen Barrel pro Tag gefördert wurden, pendelte sich die inländische Rohölproduktion bei 2,8 Millionen ein. In der Zwischenzeit ist die Bevölkerung des Irans jedoch auf 88 Millionen Menschen angewachsen, so dass auf 31,4 Einwohner/innen ein Barrel Öl kommt. Hinzu kommt, dass derzeit mehr als zwei Drittel der Ölproduktion für den Inlandsverbrauch bestimmt sind.

Die Entwicklung der Ölexporte wirft ein Licht auf den aktuellen Stand der internationalen Beziehungen des Irans. Auf dem Papier wäre iranisches Öl durch die Sanktionen verboten, die Trump 2018 verhängte, als er das 2015 in Wien vereinbarte iranische Atomabkommen aufkündigte. Im Jahr 2020 hatte die kombinierte Wirkung der Sanktionen und der Pandemie dazu geführt, dass die iranischen Rohölexporte auf rund 100 000 Barrel pro Tag gesunken waren. Danach hatte sich das Volumen zwischen 800 000 und 850 000 Barrel pro Tag eingependelt.

Das scheinbare Paradoxon ist, dass der Ölverkauf ins Ausland nach Beginn der Aufstände stark angestiegen ist. Im Dezember 2022 exportierte der Iran 1,4 Millionen Barrel, fast doppelt so viel wie im letzten Sommer. An wen verkauft der Iran sein Öl? Tatsache ist, dass China seine Importe aus Malaysia stark erhöht hat: 1,2 Millionen Barrel pro Tag im Dezember, während die malaysische Produktion weniger als eine halbe Million Barrel beträgt.

Nicht ideologische, sondern materielle Kräfte treiben das theokratische Regime des Irans dazu, nach Osten zu blicken. Es sind wirtschaftliche, also politische Gründe, die die Ayatollahs dazu bringen, Drohnen an Russland zu verkaufen, um den Krieg in der Ukraine fortzusetzen. Und wirtschaftliche Gründe bestimmen die Politik der Vereinigten Staaten, für die die sogenannte »Achtung der Menschenrechte« nur eine heuchlerische Formel ist, die dazu dient, Staatsverbrechen aller Art oder eine selbstgefällige Haltung selbst gegenüber denjenigen zu rechtfertigen, die von der Propaganda als die schlimmsten Feinde dargestellt werden.

Die USA hatten Verhandlungen mit dem Iran aufgenommen, um die Sanktionen zu lockern. Der Ausbruch der Proteste setzte die Verhandlungen aus. Das Tauziehen der US-Regierung mit dem Iran ist eine Möglichkeit, weiterhin Druck auszuüben, ohne jedoch den Sturz des Regimes anzustreben, an dem sie nicht unbedingt interessiert sind. Unterdessen gewährt das Regime einigen Intellektuellen und Demonstranten eine Teilamnestie…

Internationale Kommunistische Partei (il partito comunista)


Source: »In Iran le proteste interclassiste non scuotono la teocrazia borghese«, »il partito comunista«, 24. 02. 2023.
Übersetzt aus dem Italienischen von M&K 2023.

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