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GESELLSCHAFTLICHER CHARAKTER DER ANTIKOLONIALISTISCHEN REVOLUTIONEN


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Gesellschaftlicher Charakter der antikolonialistischen Revolutionen
Zaristisches Russland und Kolonien
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Gesellschaftlicher Charakter der antikolonialistischen Revolutionen

Seit dem ersten Auftreten der Umwälzungen in den Kolonien, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, haben wir sie ständig verfolgt und versucht, ihre Erklärung in unsere allgemeine Geschichtsauffassung einzubetten und zu zeigen, dass es zu ihrem Verständnis keiner anderen kritischen Kriterien bedurfte als jene, die bereits vom Marxismus und Leninismus entdeckt wurden, wobei wir letzteren als den auf die imperialistische Phase des Kapitalismus angewandten Marxismus betrachten.

Unsere Arbeit, mehr beschreibend als kritisch, konnte sich nur darauf konzentrieren, die Bedingungen des Problems zu definieren, das durch die historischen Veränderungen aufgeworfen wurde, die in dem riesigen geosozialen Raum stattfanden, der bis vor einigen Jahren vom kapitalistischen Kolonialismus abgedeckt war. Eine theoretische Aufarbeitung dieses umfangreichen Materials wird die Aufgabe späterer Arbeiten sein; doch in der Zwischenzeit wird es nicht nutzlos sein, einige Einwände zu prüfen, die im revolutionären Lager selbst gegen unsere historische Einordnung der in den ehemaligen Kolonien wahrgenommenen Ereignisse und gegen die von uns diesbezüglich eingenommenen politischen Positionen erhoben wurden.

Der Haupteinwand betrifft die Bewertung der Rolle, die die einheimische Bourgeoisie bei den antikolonialen Umwälzungen spielte. War die Befreiung von der kolonialen Besatzung nicht nur mit der Gründung unabhängiger Staaten verbunden, sondern auch mit dem Beginn einer sozialen Revolution? Von der Antwort auf diese Frage hängt die Antwort auf die andere, nicht weniger wichtige Frage ab: Welche Rolle spielte die einheimische Bourgeoisie bei den Umwälzungen? Wenn man akzeptiert, dass die Beseitigung des historischen Kolonialismus und die Gründung des Nationalstaates den Weg für die Revolution ebneten, muss man natürlich auch zugeben, dass die Bourgeoisie, oder besser gesagt die einheimische Proto-Bourgeoisie, eine revolutionäre Rolle spielte, indem sie die antikoloniale Revolte anführte. Nun, wir glauben, dass der Zerfall der Kolonialreiche vor allem in den ehemaligen Kolonien Asiens eine soziale Revolution eingeleitet hat, die einen grossen Einfluss auf den endgültigen Kampf haben wird, den das Weltproletariat führen muss, um der kapitalistischen Herrschaft in der Welt ein Ende zu setzen.

Die These von der Unmöglichkeit der revolutionären Rolle der Kolonialbourgeoisie verallgemeinert willkürlich die bekannte Position von Marx und Engels nach dem Fall der Pariser Kommune 1871. Die europäische Bourgeoisie, die sich über die nationalen Grenzen und die Kriegsfronten hinweg gegen das revolutionäre Proletariat verbündet hatte, beendete damit die historisch notwendige und daher positive Periode der revolutionären Konvergenz zwischen der demokratischen Bourgeoisie und dem sozialistischen Proletariat. Die Position von Marx und Engels kam der Leugnung gleich, dass die Bourgeoisie für die gesamte historische Zukunft noch zu revolutionärem Handeln fähig und daher der Unterstützung durch das Proletariat würdig sei. Nach der Zerschlagung der Kommune, die durch die Umarmung des demokratischen Republikanismus von Thiers mit dem deutschen militaristischen Absolutismus erreicht wurde, kann die revolutionäre Rolle der europäischen Bourgeoisie als endgültig erschöpft betrachtet werden. Der bürgerliche Geschichtszyklus, der historisch und kritisch mit der Schlacht um die Aufklärung begonnen, mit der Revolution von 1789 umgesetzt und mit den Revolutionen von 1830 und 1848 vollendet worden war, ging auf dem Friedhof von Père Lachaise, dem Ort des Massakers an den letzten Verteidigern der Kommune, zu Ende.

Die marxistische Position liesse sich wie folgt übersetzen: Die Erfahrung der Kommune hat bewiesen, dass das bürgerliche Europa durch eine Klassengrenze geteilt ist, die viel realer und entscheidender ist als die Grenzen zwischen den Staaten. Diese Klassengrenze, die die Revolution von der Konservierung [der bestehenden Zustände] trennt, verläuft unwiderruflich zwischen der kapitalistischen Bourgeoisie und dem Proletariat, da die feudale Reaktion als historische Kraft nicht mehr existiert. Daraus folgt, dass jede revolutionäre Bewegung, d. h. jede soziale Umwälzung, die fähig ist den Lauf der Geschichte [im gesellschaftlichen Sinne] zu verändern, nur die gegen die Bourgeoisie gerichtete Aktion des Proletariats sein kann, die von der kommunistischen Partei angeleitet wird.

Der Fehler unserer Kritiker liegt in der willkürlichen Verallgemeinerung einer Position, bei der es sich in Wirklichkeit um eine Unterscheidung handelte, da sie nicht für den gesamten geosozialen Raum des Planeten galt, sondern nur für einen Teil davon, und zwar genau für die Länder, in denen der Klassenkampf endgültig das »bürgerliche Stadium« erreicht hatte, d. h. die Gesellschaftsform, in der die herrschende bürgerliche Macht nun frei von jeglicher Gefahr der gewaltsamen Rückkehr des Feudalismus ist und bereits einem als Klasse organisierten Proletariat gegenübersteht.

Nun, in welchem Stadium befand sich der Klassenkampf in den kolonialen Ländern zur Zeit der antikolonialen Revolte? Sicherlich nicht im bürgerlichen Stadium. Die historischen Umwälzungen, die zur Beseitigung der kolonialen Besatzung in fast ganz Asien und in Teilen Afrikas führten, fanden in einem historischen Umfeld statt, das in bestimmten Fällen der Ausgangspunkt und nicht der Endpunkt der Bewegung war und ist, die dazu tendiert, in Asien und Afrika ein »bürgerliches Stadium« einzuführen. Das heisst, in den afroasiatischen Ländern sind wir noch weit von dem entfernt, was 1871 für die Geschichte Westeuropas bedeutete. Die Grenzen, die die neuen unabhängigen Staaten trennen, sind noch wichtiger und tiefer als die sozialen Grenzen, die die entstehende Bourgeoisie und die ersten Elemente des Industrieproletariats trennen. Das Gegenteil ist der Fall in Europa, wo für die Bourgeoisie das Problem der Verteidigung der Staatsgrenze zweitrangig ist gegenüber dem Problem, das »Bündnis« der herrschenden Bourgeoisien gegenüber dem Proletariat schlagkräftig aufrechtzuerhalten.

In der Praxis hatte die ausländische Besatzung zur Versteinerung der archaischen gesellschaftlichen Beziehungen in den Kolonialländern geführt. Es stimmt, dass der kapitalistische Kolonialismus (in dieser wie auch in anderen historischen Formen des Kolonialismus) gezwungen war, die kapitalistische Produktionsweise in den Kolonien zu »importieren«: Die Ausbeutung von Rohstoffen aus überseeischen Ländern, die von den Industrien der Metropolen nachgefragt wurden, erzwang die Einführung von Lohnarbeit in den Kolonien oder Halbkolonien (siehe den Fall der ölproduzierenden Staaten des Nahen Ostens). Das bedeutet, dass die kolonialistische Praxis den weissen Imperialismus zwangsläufig dazu brachte, die kapitalistische Produktionsweise in ein vorbürgerliches historisches Umfeld einzuführen und so die Saat für die einheimische Bourgeoisie zu legen. Der kolonialistische Imperialismus hat jedoch widersprüchliche Interessen, da er dazu neigt, die Kolonien nur in einer Weise zu industrialisieren, die den nationalen Interessen der metropolitanen Wirtschaft entspricht, Interessen, die beschädigt würden, wenn der Industrialisierungsprozess auf die gesamte lokale Wirtschaft der Kolonie ausgedehnt würde. Nehmen wir das Beispiel Indien, wo der britische Imperialismus zwar auch die Grundlagen der kapitalistischen industriellen Revolution gelegt hat, wie z. B. die Eisenbahnen, aber die Entwicklung grundlegender Industriezweige nicht gefördert hat: Erst jetzt entsteht dort eine Stahlindustrie. Der Grund dafür ist offensichtlich. Die britischen Stahlmonopole konnten, solange Indien der britischen Krone unterstellt war, nicht zulassen, dass dort konkurrierende Unternehmen entstehen.

Der Kolonialismus, der den von ihm selbst ausgelösten Industrialisierungsprozess einschränkte, führte zu einer Annäherung zwischen den Interessen der herrschenden Klassen der Metropole und denen der konservativen Schichten der Kolonien, deren Existenz als Klasse durch den Fortschritt der Industrialisierung selbst bedroht war. Anders ausgedrückt, der Bereich der gesellschaftlichen Beibehaltung [bürgerlicher Verhältnisse] und der [antiproletarischen] Konterrevolution zählt in den kolonialen und ex-kolonialen Ländern nicht, nur der kolonialistische Imperialismus, dem die einheimische feudale Reaktion zur Seite steht. Der Fall Jordanien ist auffallend, wo die imperialistisch-feudale Ausrichtung in der jüngsten Krise ganz klar zutage getreten ist. Die von den Nationalisten angezettelten Strassenaufstände mobilisierten automatisch das Lager der Bewahrer. Und wen haben wir dort antreten sehen? Die VI. US-Flotte und die Wüstenbeduinen, d. h. die militärischen Vertreter der am weitesten entwickelten und mächtigsten kapitalistischen Bourgeoisie und die überlebenden Überreste des asiatischen Feudalismus.

Auch die Dinge von heute sollten uns nicht die Dinge von gestern vergessen lassen. Es ist bekannt, dass vor der Erlangung der Unabhängigkeit etwas mehr als die Hälfte Indiens britisches Territorium war; der Rest, mit einer Bevölkerung von etwa einem Fünftel der Gesamtbevölkerung, war in 562 (wir sagen: fünfhundertzweiundsechzig) Staaten und Kleinstaaten von sehr unterschiedlicher Grösse unterteilt. Die Beziehungen zwischen der Krone und den Staaten wurden durch Verträge geregelt, die von der Ostindien-Kompanie abgeschlossen wurden, oder, einfacher ausgedrückt, durch Gewohnheitsrecht. Die Souveränität war in unterschiedlichem Masse zwischen der Krone, die nach dem grossen Sepoyaufstand im Jahr 1875 die Macht von der Kompanie übernommen hatte, und den Prinzen aufgeteilt: Doch gegenüber allen einheimischen Staaten behielt die britische Regierung als »Paramount Power« [»Überragende Macht«] die ausschliessliche Kontrolle über die diplomatischen Beziehungen, die Aussenpolitik und die Verteidigung. Dies bestätigt die These, dass der Kolonialismus auf einem feudal-imperialistischen Bündnis beruhte und immer noch beruht. Im alten Indien wurde sie durch die britische Krone verkörpert, dem Vertreter des überseeischen Kapitalismus und dem bunten Strauss an Fürsten, die an der Erhaltung der lokalen vorkapitalistischen Verhältnisse interessiert waren. Eine ähnliche Situation besteht auch heute noch in Malaysia, wo die Macht zwischen der britischen Krone und den Feudalfürsten aufgeteilt ist.

Der Kern des Problems der afroasiatischen Aufstände besteht darin, die unbestreitbare Tatsache anzuerkennen, dass es in den Kolonien und in den Ländern, die gerade aus dem Kolonialstaat hervorgegangen sind, eine doppelte Front gibt, die zwei reaktionäre Bastionen zusammenschweisst: die Kräfte für die Beibehaltung der imperialistischen und der feudalen Zustände. Wenn man dies erkennt, fallen alle Zweifel über den Charakter der afro-asiatischen Aufstände weg. Das demokratisch-unabhängige Lager kämpft gegen den imperialistischen Besatzer oder seine gewaltsame Rückkehr und gleichzeitig gegen die interne feudale Reaktion, die ihre Unterstützung im Imperialismus findet. So wirkt der antikoloniale Kampf auf eine Verschiebung der historischen Formen der Produktion und der gesellschaftlichen Organisation hin: Diese Verschiebung ist gleichbedeutend mit einer sozialen Revolution. (Dass sich dann die in den Kolonialländern entstandenen neuen bürgerlichen Staaten und ihre Bourgeoisien ihrerseits mit dem Imperialismus verbündeten, ist ein weiteres Problem, das das marxistische Muster Europas nach den 1870er-Jahren bald auch für diesen Bereich wiedergeben wird).

Unter diesen historischen Bedingungen gilt die Unterscheidung, die Marx und Engels auf die westeuropäische Bourgeoisie anwendeten, nicht. Die im Entstehen begriffene schwarze Bourgeoisie, die wir als die in der nationalen demokratischen Bewegung organisierte einheimische Proto-Bourgeoisie bezeichnet haben, agiert unter Bedingungen, die mit denen vergleichbar sind, unter denen die westeuropäische Bourgeoisie in der Zeit ihres Aufstiegs zur Macht agierte. In den afroasiatischen Ländern ist die bürgerlich-demokratische Bewegung voll und ganz in den Kampf gegen die feudale Reaktion involviert, die hartnäckig in den Produktionsverhältnissen verwurzelt ist, die Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende überdauert haben. Nicht das Proletariat ist also der unmittelbare Feind der neuen bürgerlich-demokratischen Staaten, sondern die sozialen Schichten, die dazu neigen, die alten Produktionsverhältnisse zu bewahren. Das liegt nicht nur daran, dass das asiatische Industrieproletariat noch im Entstehen begriffen ist, sondern auch (und gerade deshalb) daran, dass die bestehenden proletarischen Zusammenschlüsse nicht in der Lage waren, aus ihrer Mitte heraus Programme zu formulieren, die mit denen vergleichbar sind, die eine andere proletarische Partei ebenfalls in einem historischen Umfeld zu bekämpfen hatte, das von einem feudal-imperialistischen Bündnis beherrscht wurde: die bolschewistische Partei. Das werden wir im zweiten Teil dieses Artikels sehen.

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Wir haben ganz bewusst den Fall der bolschewistischen Partei angeführt. Es musste erwähnt werden, weil es genau das ist, was unsere Kritiker benutzen, um uns des Verrats am Marxismus (!) zu bezichtigen, weil wir den revolutionären Charakter der antikolonialistischen Bewegung betonen, obwohl wir wissen, dass die Führung dieser Bewegung in den Händen der einheimischen Bourgeoisie liegt.

Die feudal-imperialistische Allianz ist keine neue Tatsache und kann auch nicht nur in afro-asiatischen Ländern festgestellt werden. Historisch gesehen gibt es sie auch in Ländern, die nicht unter kolonialer Herrschaft stehen. Ein typisches feudal-imperialistisches Bündnis war dasjenige, das den zaristischen Staat Russland, der politisch auf vorbürgerlichen Gesellschaftsstrukturen beruhte, mit den grossen imperialistischen Mächten Westeuropas verband: Frankreich, England, Belgien usw. Und es war ein so festes Bündnis, dass die zaristische Regierung 1914 nicht zögerte, in den Krieg zu ziehen, um die Weltinteressen dieser Mächte zu verteidigen. Noch vor den Fällen, die die ehemaligen Kolonien bieten, beweist das Beispiel des Russlands von Nikolaus II das historisch ein Bündnis zwischen herrschenden Klassen möglich ist, die bestrebt sind, jeweils für sich diametral entgegengesetzte Produktionsweisen und soziale Organisationen aufrechtzuerhalten.

Man muss jedoch verstehen, warum die russische Bourgeoisie im Gegensatz zu den Bourgeoisien in den Kolonien nicht in der Lage war, eine eigenständige politische Rolle zu spielen und sich weigerte, die antifeudale Revolution anzuführen.

Um die zaristische Macht zu stürzen, war die Revolution des kommunistischen Proletariats erforderlich. Die demokratische Bourgeoisie, die durch den Sturz des halbfeudalen Zarismus »eine ganze Welt zu gewinnen« hatte, erwies sich als absolut unfähig zu revolutionärem Handeln; tatsächlich nahm sie angesichts der Revolution stets eine defätistische Haltung ein. Jahrzehntelang rief sie durch ihre Intellektuellen und Politiker zur Erneuerung der russischen Gesellschaft auf, doch jedes Mal, wenn die historische Notwendigkeit sie auf das Feld der Tat drängte, zog sie sich zurück. Jedes Mal, wenn sie sich auf Augenhöhe mit dem revolutionären Proletariat befand, wich sie vor ihren eigenen Programmen zurück und kauerte sich hinter die zaristische Macht. Dies bedeutete, dass das feudal-imperialistische Bündnis niemals gegen das demokratisch-sozialistische Aufstandsbündnis antreten konnte. Am Ende der Rechnung musste das Proletariat die ganze Last der Revolution auf sich nehmen und sie allein durchführen, zunächst gegen die zaristische Macht und später, nachdem diese bereits zerfallen war, gegen die Bourgeoisie selbst.

Der Unterschied im politischen Verhalten der Bourgeoisie im zaristischen Russland bzw. in den Kolonien, d. h. im gleichen historischen Umfeld, das im Wesentlichen durch die Vorherrschaft des feudal-imperialistischen Bündnisses gekennzeichnet ist, ist im unterschiedlichen Grad der politischen Bereitschaft des Proletariats zu suchen. Was das Proletariat in den kolonialen Ländern jeglicher Möglichkeit einer unabhängigen Aktion in der antikolonialen Revolution beraubte und es den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien ermöglichte, die Führung zu übernehmen, war und ist das Fehlen einer im revolutionären Marxismus ausgebildeten proletarischen Partei – aus historischen Gründen, die wir nicht analysieren können. Anders ausgedrückt: Der antikolonialen Revolution fehlte eine Partei vom bolschewistischen Typ, d. h. eine marxistische Partei, die in einem historischen Umfeld handlungsfähig ist, in dem der Weg zur sozialen Revolution durch eine vom ausländischen Imperialismus unterstützte Feudalmacht versperrt ist. Leider musste das afroasiatische Proletariat die Führung der falschen, Moskau-treuen kommunistischen Parteien erdulden, die sich seit Jahrzehnten nicht mehr zum Marxismus und Leninismus bekennen, auch wenn ihre Veröffentlichungen mit Zitaten von Marx und Lenin vollgestopft sind.

Zaristisches Russland und Kolonien

In Russland entstand die marxistische Bewegung in Bezug auf Theorie und Parteiorganisation zusammen mit den wichtigsten ideologischen und politischen Strömungen der bürgerlichen Demokratie. Der russische Kommunismus wurde unter glücklichen Umständen geboren, da er sich auf die noch frischen Erfahrungen des französischen Sozialismus in der Kommune und die kolossale theoretische Produktion der revolutionären Sozialdemokratie in Österreich und Deutschland stützen konnte. Es war die Zeit, in der die revolutionäre proletarische Bewegung in Europa eine Hochphase erlebte, und dank des Exils schwappte die Bewegung über die Grenzen in das Zarenreich. Unter diesen Bedingungen konnte der russische Kommunismus unter der Führung von Lenin die bürgerlich-demokratischen Parteien entscheidend überflügeln und überwältigen. Und wie stark der Einfluss des Marxismus auf die Massen war, bewies die Tatsache, dass die Bourgeoisie versuchte, ihn sich zunutze zu machen, indem sie ihn mit raffinierten Verfälschungen (Struvismus [»Legaler Marxismus«]) ihren Bedürfnissen anpasste. So kam es im zaristischen Russland – was in früheren antifeudalen Revolutionen nie der Fall gewesen war –, dass die Bourgeoisie nicht die einzige Klasse mit einem revolutionären Programm war; im Gegenteil, sie wurde in Lehre und Politik vom Proletariat übertroffen. Dies wurde bereits bei der gescheiterten antizaristischen Revolution von 1905 unmissverständlich deutlich. Damals musste die Bourgeoisie erkennen, dass die Revolution nicht auf die von ihr gewünschte Weise in Gang gesetzt wurde, sondern durch den Einsatz einer ausschliesslich proletarischen Waffe: den aufständischen Generalstreik, und sie musste befürchten, dass beim geringsten Zusammenbruch des zaristischen Staatsgefüges das Instrument der revolutionären Arbeitermacht, der Sowjet, in Erscheinung treten würde.

Wer weiss, dass jede Revolution ein bewaffneter Krieg zwischen den Klassen ist, versteht, dass die russische Bourgeoisie lange zögern und sich schliesslich weigern musste, gegen den Zarismus in den sozialen Krieg zu ziehen, weil sie wusste, dass sie ein kämpferisches Proletariat im Rücken hatte, das sich durch die Arbeit der marxistischen Organisationen in einen Todfeind verwandelte. Für sie stellte der Zarismus zwar eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Möglichkeiten sozialer Herrschaft und ein Hindernis auf dem Weg zur politischen Macht dar; der marxistische Kommunismus aber bedeutete die Negation ihrer eigenen Existenz als Klasse. Unter solchen Bedingungen wurde ein bürgerlich-proletarisches Bündnis gegen die zaristische Macht – ein Bündnis, das in Frankreich während der Grossen Revolution möglich gewesen war – unmöglich, und es war das unauslöschliche Verdienst der Bolschewiki und Lenins, die Menschewiki, die an ein solches Bündnis glaubten, zu bekämpfen und zu zersprengen.

Wie sieht andererseits die Situation der Arbeiterbewegung in der antikolonialen Revolution aus? Das Proletariat der kolonialen Länder, wir wiederholen es, war nicht in der Lage, aus eigener Kraft eine wirklich marxistische Partei auszubilden, und blieb Gefangener der ideologischen Entartungen des Stalinismus. Damit wollen wir nicht das Proletariat der Kolonien anklagen. Das wäre lächerlich, zumal das Phänomen nicht durch subjektive Ursachen oder gar lokale Umstände erklärt werden kann. Tatsache ist zunächst einmal, dass die russische antifeudale Revolution und die antifeudale Revolution in den Kolonien im Rahmen ganz unterschiedlicher weltweiter Bedingungen des Klassenkampfes heranreiften. Während die russische Revolution in einer Periode des Aufschwungs der internationalen marxistischen Bewegung heranwuchs – es waren die Zeiten, in denen die Kautskys und Plechanows die Arbeiterbewegung nicht nur noch nicht verraten, sondern mit wertvollen doktrinären Beiträgen bereichert hatten, und die Zweite Internationale versprach, was sie später nicht halten sollte –, brach die antikoloniale Revolution in einer Periode des furchtbaren Niedergangs der Arbeiterbewegung aus. Während der dunkelsten Periode in der langen Geschichte des Kommunismus wurden die linken Flügel der kommunistischen Parteien entwurzelt und zerstreut, die Dritte Internationale wurde stalinisiert und kastriert, der Bolschewismus wurde in Russland zerschlagen und massakriert, und das Proletariat der am weitesten entwickelten Länder der Welt wurde durch die »Partisanen«- und »Befreiungs«-Ideologien unheilbar vergiftet. Zweitens [gab es im Zarenreich] eine Arbeiterklasse, die sich in den grossen städtischen Industriekomplexen konzentrierte und daher über ein sehr hohes revolutionäres Potenzial verfügte. Nicht so in der überwiegenden Zahl der neuen Staaten, die seit dem letzten Krieg in Asien entstanden sind.

Unter diesen Bedingungen konnte die antifeudale Revolution in den Kolonien das bolschewistische Modell nicht wiederholen, sondern war dazu verurteilt, bei dem bürgerlichen und demokratischen Modell der Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts zu bleiben. Hinter der einheimischen Bourgeoisie, die mit einem Programm ausgestattet war, das allerdings in den nebulösen Ideologien der bürgerlichen Demokratie zum Ausdruck kam, stand ein Proletariat, das kein Programm hatte, oder wenn es eines hatte, war es eine getarnte Dublette des bürgerlichen Programms, das ihm die russisch-kommunistischen Parteien unter dem Etikett des Marxismus präsentierten. Dies führte unweigerlich zur politischen Ohnmacht der Arbeiterklasse, zur Unmöglichkeit einer unabhängigen politischen Aktion der revolutionären Bewegung. Als notwendige Konsequenz musste die führende Rolle in der antikolonialen Revolution in den Händen der einheimischen Bourgeoisie bleiben.

Kommen wir zum Schluss: Unsere Kritiker gehen, um ihren Grundsatz zu verteidigen, dass nicht nur in Europa und Amerika, sondern in der ganzen Welt eine Revolution, die nicht vom Proletariat geführt wird, undenkbar ist, so weit, dass sie den Umwälzungen, die in den Kolonien stattgefunden haben und dort noch stattfinden, jeglichen revolutionären Inhalt absprechen. Aber das bedeutet, dass sie die Augen vor der Realität verschliessen. Was wir über die Rolle der bürgerlichen oder kryptobürgerlichen Parteien – wie die asiatischen »kommunistischen« Parteien – gesagt haben, würde wie eine Leugnung der Position klingen, die Marx zum Zeitpunkt des Falls der Kommune 1871 eingenommen hat! Doch das Gegenteil ist der Fall. Marx’ Unterscheidung betraf die Länder des vollendeten Kapitalismus, d. h. Länder, in denen der bürgerliche Geschichtszyklus als endgültig abgeschlossen betrachtet werden konnte, in denen der bürgerliche Staat vollständig eingerichtet war und jede Gefahr einer gewaltsamen Rückkehr des Feudalismus endgültig verschwunden war. In diesen Ländern konnte jede künftige Revolution nur das Werk des Proletariats sein, des Proletariats allein: in den Ländern, in denen die bürgerliche Revolution noch bevorstand, blieb die Frage offen. Es obliegt dem Determinismus des Klassenkampfes, sie in den Gebieten zu lösen, die 1871 noch ausserhalb der von Marx unterschiedenen geo-sozialen Umgrenzung lagen, d. h. im zaristischen Russland und in dem riesigen, vom Kolonialismus kontrollierten Raum.

Wenn der Marxismus die Wissenschaft der Wirklichkeit ist, wäre es antimarxistisch, den revolutionären Charakter und die Reichweite der afroasiatischen Bewegungen zu leugnen. Dass es bürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte waren, die an der Spitze der Bewegung standen, ist etwas, das der Marxist erklärt, ohne seine Lehre und die Traditionen der Bewegung umzuarbeiten und anzupassen. Im Gegenteil, die Tatsache, dass die soziale Revolution, die in den letzten vierzig Jahren mit aller Gewalt in die Tiefen der bürgerlichen Gesellschaft Europas und Amerikas zurückgedrängt wurde, im afrikanisch-asiatischen Raum zum Ausbruch kommt, ist eine Realität, die den Marxisten in seiner Überzeugung bestärkt und seine Fähigkeit zum Ausharren, zum Widerstand und zum Abwarten erhöht. Sie bedeutet, dass der Imperialismus trotz seiner Armeen und apokalyptischen Vorrichtungen nicht in der Lage ist, die Welt in das eiserne Netz der Konservierung einzuhüllen und den Lauf der Geschichte aufzuhalten. Wenn in Asien das Alte und Überholte zusammenbricht und verschwindet, wenn die alten gesellschaftlichen Strukturen neuen Produktionsverhältnissen weichen, auch wenn es sich um bürgerliche Produktionsverhältnisse handelt, bestätigt dies das allgemeine Gesetz der historischen Dialektik. Auch in Europa und Amerika muss das Alte und Überholte früher oder später zusammenbrechen.


Source : Übersetzt aus »Il Programma Comunista« № 11/12, 1957 (M&K, Juni 2025)

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