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KAPITALISMUS UND ARBEITERIMMIGRATION


Content:

Kapitalismus und Arbeiterimmigration[1]
Notes
Source


Lenin

Kapitalismus und Arbeiterimmigration

Der Kapitalismus hat eine besondere Art der Völkerwanderung entwickelt. Die sich industriell rasch entwickelnden Länder, die mehr Maschinen anwenden und die zurückgebliebenen Länder vom Weltmarkt verdrängen, erhöhen die Arbeitslöhne über den Durchschnitt und locken die Lohnarbeiter aus den zurückgebliebenen Ländern an.

Hunderttausende von Arbeitern werden auf diese Weise Hunderte und Tausende Werst weit verschlagen. Der fortgeschrittene Kapitalismus zieht sie gewaltsam in seinen Kreislauf hinein, reisst sie aus ihrem Krähwinkel heraus, macht sie zu Teilnehmern an einer weltgeschichtlichen Bewegung, stellt sie der mächtigen, vereinigten, internationalen Klasse der Industriellen von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Es besteht kein Zweifel, dass nur äusserstes Elend die Menschen veranlasst, die Heimat zu verlassen, und dass die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschliessen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den grossen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands usw. miteinander vereinigt.

Amerika steht an der Spitze der Länder, die Arbeiter importieren. Hier die Angaben über die Zahl der nach Amerika Auswandernden:

Im Jahrzehnt 1821–1830 99 000 Auswanderer
1831–1840 496 000
1841–1850 1 597 000
1851–1860 2 453 000
1861–1870 2 064 000
1871–1880 2 262 000
1881–1890 4 722 000
1891–1900 3 703 000
in den neun Jahren 1901–1909 7 210 000

Der Umfang der Auswanderung hat gewaltig zugenommen und verstärkt sich ständig. In den fünf Jahren von 1905 bis 1909 sind durchschnittlich über eine Million Menschen im Jahr nach Amerika (es handelt sich hier nur um die Vereinigten Staaten) übergesiedelt.

Interessant ist dabei die Veränderung in der Zusammensetzung der Einwanderer (der Immigranten, d. h. sich in Amerika Ansiedelnden). Bis zum Jahre 1880 überwog die sogenannte alte Immigration, aus den alten Kulturländern England, Deutschland, zum Teil Schweden. Sogar bis 1890 haben England und Deutschland zusammen mehr als die Hälfte aller Immigranten gestellt.

Mit dem Jahre 1880 beginnt eine unglaublich rasche Zunahme der sogenannten neuen Immigration, aus dem östlichen und südlichen Europa, aus Österreich, Italien und Russland. Aus diesen drei Ländern kamen Immigranten nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika:

Im Jahrzehnt 1871–1880 201 000
1881–1890 927 000
1891–1900 1 847 000
in den neun Jahren 1901–1909 5 127 000

So wird den zurückgebliebensten Ländern der Alten Welt, die in ihrer ganzen Lebensordnung die meisten Überreste der Leibeigenschaft bewahrt haben, sozusagen gewaltsam Zivilisation beigebracht. Der amerikanische Kapitalismus entreisst Millionen von Arbeitern des zurückgebliebenen Osteuropa (und darunter Russlands, das 594 000 Immigranten in den Jahren 1891–1900 und 1 410 000 in den Jahren 1900–1909 stellte), ihren halb mittelalterlichen Verhältnissen und stellt sie in die Reihen der fortgeschrittenen, internationalen Armee des Proletariats.

Eine interessante Beobachtung macht Hourwich[2], der Verfasser des höchst lehrreichen, im vorigen Jahr in englischer Sprache erschienenen Buches »Einwanderung und Arbeit«[3]. Nach der Revolution von 1905 stieg die Zahl der Auswanderer nach Amerika besonders stark (1905 – 1 Mill., 1906 – 1,2 Mill., 1907 – 1,4 Mill., 1908–1909 – je 1,9 Millionen). Die Arbeiter, die in Russland zahlreiche Streiks mitgemacht hatten, haben den Geist kühnerer, offensiver Massenstreiks auch nach Amerika getragen. Russland bleibt immer mehr zurück und gibt einen Teil seiner besten Arbeiter ans Ausland ab; Amerika schreitet immer rascher vorwärts und nimmt der ganzen Welt die energischste, arbeitsfähigste Arbeiterbevölkerung weg.[4]

Deutschland, das mit Amerika mehr oder weniger Schritt hält, verwandelt sich aus einem Land, das Arbeiter abgegeben hat, in ein Land, das fremde Arbeiter heranzieht. Die Zahl der deutschen Immigranten in Amerika, die in dem Jahrzehnt von 1881 bis 1890 auf 1 453 000 angestiegen war, fiel in den neun Jahren von 1901 bis 1909 auf 310 000. Dagegen betrug die Zahl der ausländischen Arbeiter in Deutschland in den Jahren 1910/1911 695 000 und in den Jahren 1911/1912 729 000. Betrachten wir die Verteilung dieser Arbeiter nach Beschäftigungsarten und Herkunftsländern, so ergibt sich folgendes Bild:

In den Jahren 1911/1912 in Deutschland beschäftigte ausländische Arbeiter (in 1000)
  In der Landwirtschaft In der Industrie Insgesamt
aus Russland 274 34 308
aus Österreich 101 162 263
aus den übrigen Ländern 22 135 157
Insgesamt 397 331 728

Je zurückgebliebener ein Land, desto mehr ungelernte, landwirtschaftliche Arbeiter liefert es. Die fortgeschrittenen Nationen reissen sozusagen die besten Verdienstmöglichkeiten an sich und überlassen die schlechteren den wenig zivilisierten Ländern. Europa im allgemeinen (die »übrigen Länder«) liefert Deutschland 157000 Arbeiter, davon über 810 (135 000 von 157 000) Industriearbeiter. Das rückständige Österreich liefert nur 610 (162 000 von 263 000) Industriearbeiter, das am meisten zurückgebliebene Russland nur 110 Industriearbeiter (34 000 von 308 000).

Russland muss also überall und in jeder Hinsicht für seine Rückständigkeit büssen. Doch die Arbeiter Russlands befreien sich, verglichen mit der übrigen Bevölkerung, immer mehr aus dieser Rückständigkeit und Kulturlosigkeit, sie leisten diesen »lieblichen« Zügen ihrer Heimat am meisten Widerstand, schliessen sich am engsten mit den Arbeitern aller Länder zu einer weltumspannenden, befreienden Kraft zusammen. Die Bourgeoisie hetzt die Arbeiter der einen Nation gegen die der andern auf und sucht sie zu trennen. Die klassenbewussten Arbeiter, die begreifen, dass die Zerstörung aller nationalen Schranken durch den Kapitalismus unumgänglich und fortschrittlich ist, bemühen sich, die Aufklärung und Organisierung ihrer Genossen aus den zurückgebliebenen Ländern zu unterstützen.

W. I.

»Sa Prawdu«, № 22 vom 29. Oktober 1913.

Notes:
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  1. Nach dem Text der Petersburger »Sa Prawdu«. In: Lenin, »Werke«, Bd. 19, S. 447–450. [⤒]

  2. Isaak Aaronowitsch Gurwitsch (amerikanisiert: Isaac Aronovich Hourwich, russisch: Исаак Аронович Гурвич) wurde 1860 in Wilna geboren und verstarb 1924 in New York. Er hatte in St. Petersburg Mathematik studiert. Nachdem er sich in der revolutionären Arbeiterbewegung im russischen Zarenreich engagiert hatte, im Gefängnis und in der sibirischen Verbannung war, emigrierte er, um weitere Haftstrafen zu vermeiden, 1890 nach den USA. Mit Hilfe eines Stipendiums konnte er dort weiter studieren und promovierte mit einer Dissertation über die ökonomische Lage des russischen Dorfes. Sie erschien 1892 in New York in englischer Sprache in Buchform; in russischer Sprache 1896. Das Buch enthält wertvolles statistisches Material und wurde von Lenin hoch geschätzt und des öfteren zitiert.
    Um 1900 trat Gurwitsch in den US-Staatsdienst ein und war dort vor allem mit Statistik beschäftigt. 1906 kehrte er nach Russland zurück und versuchte dort einen Sitz in der Duma auf der Liste der Partei der Konstitutionellen Demokraten Miljukows – der ebenfalls aus der amerikanischen Emigration zurückgekehrt war, aber nicht kandidieren durfte – zu ergattern. Gurwitsch hatte seinen Sitz in der Duma zwar gewonnen doch die zaristische Regierung annullierte die Wahlen. Er kehrte in die USA und zu seiner alten Arbeit zurück. Politisch hatte er sich mehr und mehr von der Arbeiterbewegung entfernt und versuchte 1913 mit Roosevelt’s Fortschrittspartei einen Sitz im US-Kongress zu erringen, was fehlschlug. Während des 1. Weltkrieges trat er in die Sozialistische Partei Amerikas ein, möglicherweise nicht aus Überzeugung sondern weil dort sein Sohn Nikolai Gurwitsch aktiv war, der später in die Sowjetunion übersiedelte und dort als aktives Mitglied der bolschewistischen Partei 1934 verstarb. 1917 unterstützte Isaak A. Gurwitsch auch zionistische Organisationen und half den American Jewish Congress (AJC) zu organisieren. 1919 publizierte er eine jiddische Übersetzung des 1. Bandes des »Kapitals« von Marx.
    1919 wurde Gurwitsch als Rechtsberater für die halboffizielle Vertretung Sowjetrusslands in Amerika, das Russian Soviet Government Bureau, tätig. 1922 reiste Gurwitsch kurz nach Sowjetrussland, war jedoch von dieser Erfahrung zutiefst enttäuscht und wurde zum Kritiker der Taktik der bolschewistischen Partei. Er starb am 9. Juli 1924 an einer Lungenentzündung. Als er starb war er 64 Jahre alt.[⤒]

  3. Gemeint ist das Buch von Isaac A. Hourwich, »Immigration and Labor. The Economic aspects of European Immigration to the United States«. New York and London 1912 [»Einwanderung und Arbeit. Die ökonomischen Aspekte der europäischen Immigration in die Vereinigten Staaten«].
    Eine jiddische Übersetzung des Textes findet sich im 1. Band von Isaac A. Hourwich »Imigratsye« in »Oysgevehlṭe shrifṭen 1860–1924«, Nyu-Yorḳ, Yitsḥaḳ Ayziḳ Hurviṭsh’s Publiḳatsyons Ḳomiṭeṭ. [⤒]

  4. [originale Anmerkung Lenins] Ausser den Vereinigten Staaten schreiten auch die anderen amerikanischen Staaten rasch vorwärts. Im letzten Jahr betrug die Zahl der Auswanderer nach den USA etwa 250 000, nach Brasilien etwa 170 000, nach Kanada über 200 000, insgesamt 620 000 in einem Jahr.[⤒]


Source: Lenin, »Werke«, Bd. 19, S. 447–450.

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