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RÖMER THESEN


Content:

Thesen über die Taktik der Kommunistischen Partei Italiens – 1922
Vorwort
I. Organische Natur der kommunistischen Partei
II. Entwicklungsprozess der kommunistischen Partei
III. Die Beziehung zwischen der Kommunistischen Partei und der proletarischen Klasse
IV. Die Beziehungen der kommunistischen Partei zu den anderen politischen Bewegungen des Proletariats
V. Wie beeinflusst die Untersuchung der jeweiligen Situation die Taktik der Kommunistischen Partei
VI. »Indirekte« taktische Aktion der Kommunistischen Partei
VII. »Direkte« taktische Aktion der Kommunistischen Partei
Vermerk
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Thesen von Rom 1922

Thesen über die Taktik der Kommunistischen Partei Italiens

Vorwort

Die hier dargelegten Leitsätze befassen sich mit der allgemeinen Frage der Methoden und Kriterien, von denen die Kommunistische Partei ausgeht, um ihre Aktion zur Verwirklichung ihres Programms zu entfalten und um das Wesen und die Richtung ihrer Bewegung und Initiativen zu bestimmen. Die besonderen Aspekte dieser Frage, die sich aus der Betrachtung der jeweiligen Tätigkeitsbereiche der Partei ergeben (parlamentarische, Gewerkschafts-, Agrar-, Militär-, nationale und koloniale Frage usw.), werden daher hier im einzelnen nicht behandelt: sie sind Gegenstand anderer Diskussionen und Beschlüsse der internationalen und nationalen Kongresse.
Diese Leitsätze haben ihren Ausgangspunkt im Programm, das die kommunistische Partei Italiens in Livorno als Ausdruck und Ergebnis der Theorie und der kritischen Methode der Kommunistischen Internationale und der Partei angenommen hat. Dieses Programm wird hier wiederholt:

»Die Kommunistische Partei Italiens (Sektion der Kommunistischen Internationale) bildet sich auf der Grundlage folgender Prinzipien:

1. In der bestehenden, kapitalistischen Gesellschaftsordnung entwickelt sich ein immer wachsender Gegensatz zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, der die Ursache der Interessengegensätze und des Klassenkampfes zwischen Proletariat und herrschender Bourgeoisie bildet.
2. Die heutigen Produktionsverhältnisse werden vom bürgerlichen Staat geschützt und verteidigt. Dieser Staat, der auf dem Vertretungssystem der Demokratie beruht, bildet das Verteidigungsorgan der Interessen der kapitalistischen Klasse.
3. Das Proletariat kann die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, von denen seine Ausbeutung herrührt, weder verletzen noch verändern, ohne die bürgerliche Macht gewaltsam zu stürzen.
4. Das unentbehrliche Organ des revolutionären proletarischen Kampfes ist die politische Klassenpartei. Die Kommunistische Partei, die den fortgeschrittensten Teil des Proletariats in sich zusammenfasst, vereinigt die Anstrengungen der Arbeitermassen, indem sie sie von den Kämpfen um Gruppeninteressen und um unmittelbare Resultate zum allgemeinen Kampf um die revolutionäre Emanzipation des Proletariats hinleitet. Die Partei hat die Aufgabe, das revolutionäre Bewusstsein unter den Massen zu verbreiten, die materiellen Mittel der Aktion zu organisieren und das Proletariat in der Entwicklung des Kampfes zu führen.
5. Die inneren und unhaltbaren Widersprüche des kapitalistischen Systems haben den modernen Imperialismus erzeugt und den Weltkrieg verursacht. Dieser Weltkrieg eröffnete die Zersetzungskrise des Kapitalismus, in der der Klassenkampf zwangsläufig zum bewaffneten Zusammenstoss zwischen den Arbeitermassen und dem bürgerlichen Staat führt.
6. Nach dem Sturz der kapitalistischen Macht kann sich das Proletariat als herrschende Klasse nur organisieren, wenn es den alten Staatsapparat zerstört und seine eigene Diktatur errichtet, d.h. die bürgerliche Klasse von jedem politischen Recht ausschliesst und die Staatsorgane auf der produktiven Klasse gründet.
7. Die politische Vertretungsform im proletarischen Staat ist das System der Arbeiter- und Bauernräte, wie es in der russischen Revolution, die den Beginn der proletarischen Weltrevolution und die erste stabile Durchführung der proletarischen Diktatur darstellt, bereits Wirklichkeit wurde.
8. Die notwendige Verteidigung des proletarischen Staates gegen alle konterrevolutionären Versuche kann nur dadurch gesichert werden, dass einerseits der Bourgeoisie und den Parteien, die sich der Diktatur des Proletariats widersetzen, alle Mittel der politischen Agitation und Propaganda entrissen werden und andererseits bewaffnete Organisationen des Proletariats geschaffen werden, um die inneren und äusseren Angriffe zurückzuschlagen.
9. Nur der proletarische Staat wird alle sukzessiven Eingriffe in die sozialökonomischen Verhältnisse systematisch durchführen können, mit denen die Ersetzung des kapitalistischen Systems durch die kollektive Leitung der Produktion und Verteilung verwirklicht wird.
10. Aufgrund dieser wirtschaftlichen Umgestaltung und der daraus resultierenden Transformation auf allen Tätigkeitsgebieten des gesellschaftlichen Lebens verschwindet die Teilung der Gesellschaft in Klassen und damit schrittweise auch die Notwendigkeit des politischen Staates, dessen Räderwerk sich nach und nach auf eine rationale Verwaltung der menschlichen Tätigkeiten reduzieren wird.«

I. Organische Natur der kommunistischen Partei

1. Die kommunistische Partei, die politische Partei der proletarischen Klasse, zeigt sich in ihrer Aktion als eine kollektive Organisation, die nach einer einheitlichen Richtlinie handelt. Die ursprünglichen Beweggründe, die die Einzelnen und die Gruppen zur Einreihung in einen einheitlich handelnden Organismus geführt haben, liegen in der Sphäre der unmittelbaren, durch ihre wirtschaftliche Lage hervorgerufenen Interessen von Gruppen der Arbeiterklasse.

Das wesentliche Kennzeichen der Parteifunktion besteht im Einsatz der so vereinten Kräfte für die Verwirklichung von Zielen, die der gesamten Arbeiterklasse gemeinsam sind und am Ende der ganzen Kette ihrer Kämpfe liegen, und deshalb die Interessen der einzelnen Gruppen sowie die unmittelbaren Tagesforderungen der Arbeiterklasse integrieren und überwinden.

2. Die Eingliederung aller elementaren Impulse in eine einheitliche Aktion ergibt sich aus der Zusammenwirkung von zwei Hauptfaktoren: der eine ist das kritische Bewusstsein, aus dem die Partei ihr Programm ableitet; der andere ist der Willensfaktor, der sich in der disziplinierten und zentralisierten Organisation der Partei, d.h. im Instrument ihrer Aktion manifestiert. Es wäre falsch, die einzelnen Militanten als Träger dieser Faktoren (des Bewusstseins und des Willens) zu betrachten, da sie nur durch die Zusammenwirkung vieler Menschen in einem einheitlichen, kollektiven Organismus gebildet werden.

3. Die programmatischen Erklärungen der kommunistischen Internationale und ihrer Parteien enthalten die genaue Definition des theoretisch-kritischen Bewusstseins der kommunistischen Bewegung. Dieses Bewusstsein, sowie die Organisation auf nationaler und internationaler Ebene, erreicht man durch die wissenschaftliche Untersuchung der Geschichte der menschlichen Gesellschaft und ihrer Struktur im heutigen kapitalistischen Zeitalter, anhand der Tatsachen, der Erfahrungen und der aktiven Teilnahme am realen proletarischen Kampf.

4. Die programmatischen Erklärungen und ebenso die Ernennung der einzelnen Mitglieder für die verschiedenen Posten der Parteiorganisation können formal als Ergebnis einer demokratischen Abstimmung von Parteidelegierten und -kongressen erscheinen; in Wirklichkeit müssen sie aber als Ergebnis des realen Prozesses der Sammlung von Erfahrungen und der Vorbereitung und Auslese der Führer verstanden werden; eines Prozesses, in dem der programmatische Inhalt Form annimmt und die Partei ihre hierarchische Struktur bildet.

II. Entwicklungsprozess der kommunistischen Partei

5. Es ist der Reifegrad der sozialen Entwicklung, der die Möglichkeit eines kollektiven, einheitlichen Bewusstseins und einer entsprechenden Aktion im Sinne der Endziele der Arbeiterklasse liefert; und damit hängt die Organisation der proletarischen Partei in ihrer Entstehung und Entwicklung zusammen. Andererseits tritt das Proletariat in der Geschichte als Klasse auf und handelt als solche erst, wenn sich die Tendenz, ein einheitliches Programm und eine gemeinsame Kampfmethode zu bilden, d.h. eine Partei zu organisieren, verwirklicht.

6. Der Entstehungs- und Entwicklungsprozess der proletarischen Partei läuft weder kontinuierlich noch gleichmässig, sondern kann im Gegenteil, national und international betrachtet, ziemlich komplizierte Phasen und auch Perioden allgemeiner Krise vorzeigen. Oft haben die proletarischen Parteien einen Entartungsprozess erlitten: anstatt ihre Aktion immer einheitlicher zu gestalten und den höchsten revolutionären Zielen anzupassen, haben sie sich in ihrem Handeln von diesem wesentlichen Charakter immer mehr entfernt oder ihn ganz verloren, um sich splitterartig der Befriedigung von Bedürfnissen beschränkter Arbeiterschichten und Teilerrungenschaften (Reformen) mit Methoden zu widmen, die notwendigerweise die Arbeit für die revolutionären Ziele und die revolutionäre Vorbereitung des Proletariats zu Grunde richteten. Auf diesem Weg sind die proletarischen Parteien oft dazu gekommen, die Grenzen ihrer Organisation auf Schichten auszudehnen, die noch nicht im Stande waren, sich auf den Boden der einheitlichen, kollektiven Aktion für die Endziele zu stellen. Diese Entwicklung wurde immer von einer verfälschenden Revision der Theorie und des Programms und von einer Lockerung der inneren Disziplin begleitet – anstatt einen Stab entschlossener und für den Kampf geeigneter Führer zu bilden, wurde die proletarische Bewegung den Händen maskierter Agenten der Bourgeoisie ausgeliefert.

7. Eine neue Lage, in der der Druck der Ereignisse die Arbeitermasse zur Aktion zwingt, sprengt einen solchen Entartungsprozess: der Teil der alten Partei, der durch den theoretischen Kampf, die Kritik der ungünstigen Kampferfahrungen, die Bildung innerhalb der Partei einer Schule und einer eigenen hierarchischen Organisation (Fraktion) das Weiterleben eines auf Klassenbewusstsein und Disziplin beruhenden, einheitlichen Organismus gewährleistet hat, spaltet sich ab und ermöglicht dadurch die Rückkehr zur Organisation einer wahren Klassenpartei. Dies war der Prozess, der im allgemeinen vom Zusammenbruch der Parteien der II. Internationale, zur Bildung der III., der Kommunistischen Internationale geführt hat.

8. Um die Untersuchung zu vereinfachen, kann man die Entwicklung der kommunistischen Partei nach der Lösung einer solchen Krise als »normal« bezeichnen, obgleich eine Veränderung der Lage eine neue kritische Phase hervorrufen kann. Durch die höchste Kontinuität in der Verteidigung des Programms und im Bestehen einer führenden Hierarchie (was mehr bedeutet als der persönliche Ersatz von untreuen oder abgenutzten Führern) erreicht die Partei auch ihre höchste Wirksamkeit in der Arbeit, um das Proletariat für den revolutionären Kampf zu gewinnen. Es handelt sich hier nicht darum, die Massen zu belehren, und noch weniger um den Versuch, eine reine und perfekte Partei vorzuzeigen, sondern darum, die beste Leistung in dem wirklichen Prozess zu erreichen, der, wie wir später ausführlich sehen werden, durch systematische Propaganda- und Bekehrungsarbeit und hauptsächlich durch aktive Teilnahme an den sozialen Kämpfen dazu führt, dass sich die Aktion von immer grösseren Arbeitermassen vom Gebiet der unmittelbaren Teilforderungen auf das Gebiet des organischen und einheitlichen Kampfes für die kommunistische Revolution verlagert. Nur wenn eine solche Kontinuität besteht, ist es möglich, das zögernde Misstrauen des Proletariats gegenüber der Partei zu überwinden und darüberhinaus die neugewonnenen Kräfte rasch und wirksam ins gemeinsame Denken und Handeln einzuführen und zu integrieren, um so jene Einheit der Bewegung zu erzeugen, die eine unerlässliche Voraussetzung der Revolution darstellt.

9. Aus all diesen Gründen ist die Fusion der Partei mit anderen Parteien oder mit Teilen anderer Parteien als gänzlich anormales Verfahren zu betrachten. Die Gruppe, die sich bis dahin durch eine andere programmatische Stellung und eine eigenständige Organisation absonderte, ist nicht en bloc mit Nutzen assimilierbar. Sie schwächt die politische Festigkeit und die innere Struktur der kommunistischen Partei, so dass die Zunahme der Mitgliederzahl in diesem Fall keineswegs zur Steigerung der Parteikraft und ihrer revolutionären Fähigkeit führt; unter Umständen könnte sie auch die Arbeit der Partei, um die Massen einzugliedern und zu führen, lähmen, anstatt sie zu fördern.

Es ist wünschenswert, dass es in der internationalen kommunistischen Organisation schnellstens erklärt wird, dass jegliche Abweichung von folgenden grundlegenden Organisationsprinzipien unzulässig ist: in jedem Land darf nur eine einzige kommunistische Partei existieren; der Kommunistischen Internationale darf man nur durch den individuellen Beitritt in die jeweilige kommunistische Partei beitreten.

III. Die Beziehung zwischen der Kommunistischen Partei und der proletarischen Klasse

10. Die Abgrenzung und Kennzeichnung der Klassenpartei als Organisation des fortgeschrittenen Teiles der proletarischen Klasse verhindern nicht, sondern erfordern im Gegenteil, dass die Partei aufs engste mit dem Rest des Proletariats verbunden sei.

11. Die Natur dieser Verhältnisse entspringt derselben dialektischen Betrachtungsweise, mit der die Frage der Entstehung des Klassenbewusstseins und der einheitlichen Parteiorganisation angegangen werden: die Hebung einer proletarischen Vorhut von der Ebene der spontanen, durch Teilinteressen hervorgerufenen Tageskämpfe auf die Ebene der allgemeinen proletarischen Aktion wird nicht durch die Negation dieser elementaren Bewegungen erreicht, sondern durch deren Vereinigung und Überwindung im realen Kampf, dadurch, dass die Partei diese Bewegungen anspornt, sie in ihrer ganzen Entwicklung aufmerksam verfolgt und daran aktiv teilnimmt.

12. Die ständige ideologische Propaganda und Rekrutierung neuer Militanten sind daher untrennbar von der realen Bewegung und der proletarischen Aktion in all ihren Erscheinungen. Es ist ein banaler Fehler, zwischen der Teilnahme an Tageskämpfen für Teilforderungen und der Vorbereitung des allgemeinen, revolutionären Endkampfes einen Widerspruch zu sehen. Es ist das Bestehen der einheitlichen Parteiorganisation mit ihrer klaren programmatischen Voraussicht und ihrer festen Organisationsdisziplin, das die Garantie liefert, dass die Teilforderungen nie als Selbstzweck bewertet werden, und dass solche Kämpfe als Mittel dienen, Erfahrung und Übung für die wirksame revolutionäre Vorbereitung zu gewinnen.

13. Die kommunistische Partei beteiligt sich daher am Leben all jener ökonomischen Organisationen des Proletariats, die den Arbeitern aller politischen Glauben offenstehen (Gewerkschaften, Betriebsräte, Konsumgenossenschaften usw.). Um ihre Arbeit wirksam entfalten zu können, vertritt die Partei die grundlegende Forderung, dass alle diese Organisationen einheitlich sein müssen, d.h. alle Arbeiter umfassen, die sich in einer bestimmten wirtschaftlichen Lage befinden. Die Teilnahme der Partei am Leben dieser Organe erfolgt durch die Organisation der ihnen angehörenden Parteigenossen in Gruppen oder Zellen, die eng mit der Parteiorganisation verbunden sind. Diese Gruppen nehmen in erster Linie an den Kämpfen der ökonomischen Organisationen teil, um dadurch jene Elemente an sich und somit an die Partei zu ziehen, die in der Entwicklung der Kämpfe dazu heranreifen. Sie streben danach, die Mehrheit der jeweiligen Organisation hinter sich zu ziehen und die Führungsposten zu erobern, um somit zum natürlichen Vehikel der Parteilosungen zu werden. Diese Arbeit beschränkt sich nicht auf Propaganda und Wahlkämpfe in den Versammlungen der Arbeitsorganisationen; es handelt sich vielmehr darum, die Arbeiter für die Partei zu gewinnen und zu organisieren, und dies geschieht hauptsächlich durch das Auftreten in den Kämpfen, das den Arbeitern hilft, aus ihnen die nützlichsten Lehren zu ziehen.

14. Die ganze Arbeit der kommunistischen Gruppen zielt darauf ab, der Partei die endgültige Kontrolle über die führenden Organe der ökonomischen Organisationen zu sichern, vor allem über die nationalen Gewerkschaftszentralen, die die beste Schaltstelle bilden, um die Bewegung der nicht in der Partei organisierten Proletarier zu führen. Für die Partei ist es vom höchsten Interesse, Spaltungen der Gewerkschaften und anderer ökonomischer Organisationen zu verhindern, auch wenn andere Parteien und politische Tendenzen deren Leitung innehaben. Die Partei verfügt daher nicht, dass sich ihre Militanten in der praktischen Durchführung der von diesen Organisationen beschlossenen Aktionen den Anweisungen der jeweiligen Führungszentralen widersetzen; sie unternimmt aber die offenste Kritik der Aktion selbst und der Haltung der Führer.

15. Die Partei begnügt sich nicht damit, in der beschriebenen Form am Leben der Organisationen teilzunehmen, die durch den Druck der wirklichen ökonomischen Interessen naturwüchsig entstehen, und diese Organisationen zu verbreiten und zu stärken. Sie bemüht sich auch, in ihrer Propaganda die Fragen hervorzuheben, die wirkliche Arbeiterinteressen tangieren und in der Entwicklung der gesellschaftlichen Lage neue ökonomische Organisationen ins Leben rufen können. Mit allen diesen Mitteln und durch Ausnutzung aller Auftritts- und Eingriffsmöglichkeiten, die die sozialen Kämpfe bieten, verbreitet und verstärkt die Partei ihren Einfluss und die vielfältige Verbindung ihrer Organisationen mit dem gesamten Proletariat.

16. Es entspräche einer völlig falschen Auffassung der Parteiorganisation, von jedem einzeln betrachteten Mitglied ein perfektes kritisches Bewusstsein und einen vollkommenen Opfergeist zu verlangen; ebenso falsch wäre es, die mit der Partei verbundene Arbeiterschicht auf revolutionäre Arbeiterunionen zu beschränken, die durch Spaltung oder Austritt aus den ökonomischen Organisationen gebildet werden und in ihre Reihen nur jene Arbeiter aufnehmen, die bestimmte Kampfmethoden anerkennen, andererseits kann nicht verlangt werden, dass die Partei zu einem vorbestimmten Zeitpunkt oder am Vorabend von allgemeinen Aktionen die Mehrheit des Proletariats unter ihrer Führung oder gar in ihren Reihen eingereiht habe. Aprioristisch gestellt würde eine solche Forderung vom wirklichen dialektischen Entwicklungsprozess der Partei absehen und wäre ebenso sinnlos, wie der abstrakte Vergleich zwischen der Zahl der Proletarier, die in den disziplinierten und einheitlichen Parteireihen organisiert sind, oder diesen folgen, und der Zahl der desorganisierten und verstreuten, oder der Gefolgschaft von korporativen Organisationen, die zu keiner organischen Bindung fähig sind. Die Beziehungen zwischen der Partei und der Arbeiterklasse müssen bestimmte Bedingungen erfüllen, um bestimmte Aktionen möglich und erfolgreich zu machen, im folgenden wird versucht zu zeigen, welches diese Bedingungen sind und wie man sie schaffen kann.

IV. Die Beziehungen der kommunistischen Partei zu den anderen politischen Bewegungen des Proletariats

17. Ein grosser Teil des Proletariats widersteht der Eingliederung in die Reihen der Kommunistischen Partei (oder der Partei zu folgen),weil er in anderen politischen Parteien organisiert ist oder ihnen folgt. Alle bürgerlichen Parteien haben proletarische Mitglieder, wir kümmern uns hier aber hauptsächlich um die sozialdemokratischen Parteien und um die anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Strömungen.

18. Die Partei muss eine ständige Kritik der Programme dieser Bewegungen führen und ihre Unzulänglichkeit für die proletarische Emanzipation nachweisen. Diese theoretische Polemik wird umso wirksamer sein, je mehr die Partei nachweisen kann, dass die von ihrem Standpunkt aus von vornherein geführte Kritik dieser Bewegungen durch die proletarische Erfahrung bestätigt wird. Deshalb dürfen sich solche Polemiken nicht auf die augenblicklichen Fragen und entsprechenden Methodengegensätze beschränken, sondern müssen auch die spätere Entwicklung der proletarischen Aktion einbeziehen.

19. Diese Polemiken müssen sich auch auf der Ebene der Aktion widerspiegeln. Die Kommunisten beteiligen sich an den Kämpfen der ökonomischen Organisationen des Proletariats, die von Sozialisten, Anarcho-Syndikalisten oder Anarchisten geführt werden. Obwohl sie sich nur dann weigern, deren Aktion zu folgen, wenn sich auch breite Massen spontan dagegen auflehnen, beweisen sie, dass die falsche Methode der Führer die Aktion an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung lähmt oder utopisch macht, während die kommunistische Methode zu besseren Ergebnissen geführt hätte, die gleichzeitig günstiger für die Entwicklung der allgemeinen revolutionären Bewegung wären. In der Polemik unterscheiden die Kommunisten immer zwischen den Führern und den Massen, und schreiben den ersten mit aller Entschiedenheit die Verantwortung für die Fehler und Misserfolge zu; ebenso muss die Handlung der Führer gegeisselt werden, die, selbst wenn sie aufrichtig revolutionären Glaubens sind, eine falsche und gefährliche Taktik befürworten.

20. Eins der wichtigsten Ziele der kommunistischen Partei besteht darin, in den proletarischen Reihen an Boden zu gewinnen, indem sie auf Kosten der anderen proletarischen Parteien und politischen Strömungen ihre Mitgliederzahl und ihren Einfluss steigert. Dieses Ziel kann nur durch Teilnehme am realen Kampf des Proletariats erreicht werden, also auf einer Ebene, wo scharfe Gegensätze die gleichzeitige gemeinsame Aktion nicht ausschliessen; vorausgesetzt, dass die programmatische und organisatorische Physiognomie der Partei nie entstellt wird.

21. Um die Proletarier, die anderen politischen Bewegungen angehören, an sich zu ziehen, darf die kommunistische Partei keinesfalls die Methode anwenden, in diesen organisierte Gruppen oder Fraktionen von Kommunisten bzw. Sympathisanten zu bilden. In den Gewerkschaften ist diese Methode am Platz, da es darum geht, in sie einzudringen, ohne zu beabsichtigen, die in ihnen organisierten kommunistischen Gruppen austreten zu lassen. Aus denselben Gründen, die bereits bei der Betrachtung des Entwicklungsprozesses der kommunistischen Partei aufgeführt wurden, geht hervor, dass eine solche Methode die organische Einheit der Partei gefährden würde.

22. Die Partei muss in ihrer Propaganda und Polemik berücksichtigen, dass es in den anarcho-syndikalistischen und anarchistischen Reihen viele Arbeiter gibt, die eigentlich für die Auffassung des einheitlichen revolutionären Kampfes reif waren, sich aber auf dem Wege der Reaktion gegen die Entartung der sozialdemokratischen Parteien verirrt haben. Die Schärfe der Polemik und des Kampfes gegen die Sozialistischen Parteien gibt uns also die beste Möglichkeit, diese Arbeiter auf den revolutionären Boden zurückzubringen.

23. Es ist selbstverständlich, dass Mitglieder der kommunistischen Partei nicht gleichzeitig anderen Parteien angehören können. Dies gilt aber auch im Hinblick auf Organisationen, die, wenn sie sich auch nicht Partei nennen und nicht die straffe Organisation einer Partei besitzen, doch einen politischen Charakter haben und den Beitritt ihrer Mitglieder von der Anerkennung von politischen Thesen abhängig machen – dies gilt insbesondere für die Freimaurer.

V. Wie beeinflusst die Untersuchung der jeweiligen Situation die Taktik der Kommunistischen Partei

24. Im Vorhergehenden wurden die allgemeinen, von der Natur der kommunistischen Partei abgeleiteten Kriterien festgelegt, denen die Beziehungen zwischen der kommunistischen Partei und den anderen Organisationen des Proletariats entsprechen müssen. Bevor wir auf die Fragen der Taktik im eigentlichen Sinne des Wortes kommen, müssen wir uns bei der Frage aufhalten, welche Elemente die Untersuchung der jeweiligen Situation für die Lösung jedes taktischen Problems liefert. Das Programm der kommunistischen Partei sieht eine Reihenfolge von Aktionen vor, die in Zusammenhang mit einer Reihenfolge von Situationen stehen, von deren Entwicklung man ein bestimmtes maximales Ergebnis im voraus erwartet. Es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen den programmatischen Richtlinien und den taktischen Regeln. Aufgrund ihres kritischen Bewusstseins und ihrer geschichtlichen Erfahrung hat die Partei bereits eine bestimmte Entwicklung der Situation vorausgesehen und demzufolge die taktischen Möglichkeiten abgegrenzt, die der in der jeweiligen Phase zu führenden Aktion entsprechen. Die Untersuchung der Lage dient also als Bindeglied für die Lösung der taktischen Probleme; sie dient einer Genauigkeitskontrolle der programmatischen Vorhersagen der Partei. Sollte sie eines Tages eine grundsätzliche Änderung dieser Vorhersagen erfordern, so wäre dies ein ernstes Problem, das nicht einfach mit einer taktischen Wende gelöst werden könnte – die dann notwendige Berichtigung der programmatischen Auffassungen könnte nicht ohne schwere Folgen auf die Organisation und die Kraft der Partei bleiben. Diese muss sich daher bemühen, die Entwicklung der Situation vorauszusehen, um dadurch auf sie den höchstmöglichen Einfluss ausüben zu können. Die Situationen abwarten, um unter dem Druck ihrer Andeutungen und Einflüsterungen eklektische und wechselhafte Richtlinien zu ziehen, ist eine charakteristische Methode des sozialdemokratischen Opportunismus. Sollte diese Methode den kommunistischen Parteien aufgezwungen werden, bedeutete dies den Zusammenbruch der Theorie und der militanten Organisation des Kommunismus.

25. Die kommunistische Partei organisiert in ihren Reihen jenen Teil des Proletariats, der sich eben deshalb organisiert, weil er die Tendenz, lediglich unter dem unmittelbaren Zwang der jeweiligen ökonomischen Umstände zu handeln, überwunden hat – dadurch gelingt es der Partei, ihre Einheit und ihr Streben nach Verwirklichung eines ganzen programmatischen Prozesses zu behaupten. Kritisches Bewusstsein und Willensinitiativen haben bei den einzelnen Individuen eine verschwindend kleine Schlagkraft; in der organischen Kollektivität der Partei können sie sich aber verwirklichen, ist ja der Einfluss der Situationen auf die Gesamtbewegungen der Partei nicht mehr unmittelbar und deterministisch sondern ein rationales, erkanntes und gewolltes Abhängigkeitsverhältnis, und dies umso mehr, als die kommunistische Partei als Vorläufer jener menschlichen Gesellschaftsform erscheint, die die heutige anarchische Wirtschaftsform überwindet, und daher die Fähigkeit erringt, das Spiel der Wirtschaftsfaktoren und -gesetze rational zu leiten, statt es passiv zu erleiden.

26. Die Partei kann jedoch nicht ihren Willen und ihre Initiative in eine beliebige Richtung und in einem willkürlichen Mass durchsetzen. Die Grenzen, in deren Rahmen die eine und das andere festgelegt werden, liegen einerseits in den programmatischen Richtlinien und andererseits in den Bewegungsmöglichkeiten und -gelegenheiten, die sich aus der Untersuchung der jeweiligen Lage ergeben.

27. Die Untersuchung der Lage erlaubt die Einschätzung der Kräfteverhältnisse: der Parteikräfte und der Gegnerkräfte. Vor allem muss man genau einschätzen, wie breit die Schicht des Proletariats sein wird, die der Partei folgen wird, wenn diese eine bestimmte Aktion durchführt oder zu einem bestimmten Kampf aufruft. Man muss präzise Vorstellungen über den Einfluss der Wirtschaftslage auf die Masse –, über die spontanen Impulse, die sie in diesen Massen hervorruft, über die Beeinflussbarkeit dieser Impulse durch die Parteiinitiativen und durch die Haltung der anderen Parteien haben. Der Einfluss der Wirtschaftslage auf die Kampfbereitschaft des Proletariats ist sehr komplex und wirkt sich anders aus, je nachdem, ob man eine Phase steigender Prosperität der bürgerlichen Wirtschaft durchmacht oder eine Phase der Krise und der Zuspitzung der kapitalistischen Gegensätze. Die Auswirkung dieser Phasen auf das Leben und die Tätigkeit der proletarischen Organisationen ist wiederum komplex, und um sie in Betracht zu ziehen genügt es keineswegs, die wirtschaftliche Lage in einem bestimmten Moment zu untersuchen, um daraus den Grad der proletarischen Kampfbereitschaft abzuleiten; man muss vielmehr den ganzen Ablauf der vorhergehenden Situationen mit ihren Schwankungen und Änderungen berücksichtigen. Eine blühende Wirtschaftsphase kann zum Beispiel eine mächtige Gewerkschaftsbewegung hervorrufen, die in einer darauffolgenden Periode von Krise und Elend rasch für revolutionäre Positionen gewonnen werden kann, mit dem Vorteil, den ihre breite Eingliederung der Massen für den revolutionären Erfolg darstellt. Es kann aber auch geschehen, dass eine Phase progressiver Verelendung die Gewerkschaftsbewegung derart zersetzt, dass sie sich in der nachfolgenden Aufschwungsperiode erst wieder bilden müssen und keine ausreichende Grundlage für eine revolutionäre Mobilisierung liefern.

Diese Beispiele, die ebenso gut umgedreht werden können, sollen nur beweisen, dass die Kurven der Wirtschaft und der Kampfbereitschaft des Proletariats in einer komplexen Wechselbeziehung zueinander stehen; die zweite leitet sich von der ersten ab, beide ähneln sich aber nicht in der Form. Dem Steigen (oder Fallen) der ersten kann in gegebenen Fällen sowohl das Steigen oder der Fall der zweiten entsprechen.

28. Die Faktoren dieser Untersuchung sind sehr vielfältig. Sie zielen auf die Prüfung der tatsächlichen Tendenzen zur Bildung und Entwicklung der proletarischen Organisationen ab, sowie der Reaktionen (auch der psychologischen), die sowohl die ökonomischen Bedingungen als auch die sozialen und politischen Haltungen und Handlungen der herrschenden Klasse und ihrer Parteien im Proletariat hervorrufen. Die Untersuchung der Lage ergänzt sich schliesslich auf dem Gebiet der Politik, mit der Prüfung der Einstellung und des Gewichtes der verschiedenen Klassen und Parteien gegenüber der Staatsmacht. Unter diesem Aspekt kann man die Situationen, in denen sich die kommunistische Partei befindet und handelt, und deren normaler Verlauf/Ablösung einerseits zu ihrer Stärkung und Ausbreitung, andererseits zur immer genaueren Bestimmung der Grenzen auf dem Gebiet der Taktik führt, in einige Grundphasen einteilen. Diese Phasen kann man folgendermassen bezeichnen: absolutistische Feudalherrschaft – bürgerlich-demokratische Herrschaft – sozialdemokratische Regierung – Zwischenphase von sozialem Krieg, in der die Grundlagen des Staates erschüttert sind -proletarische Herrschaft in der Rätediktatur. In einem gewissen Sinne besteht das Problem der Taktik nicht nur darin, den guten Weg für erfolgreiche Handlungen auszuwählen, sondern zu vermeiden, dass die Parteiaktion die jeweils angemessenen Grenzen überschreitet und auf Methoden zurückfällt, die überholten Situationen entsprechen, weil dies ein Stocken der Parteientwicklung und einen Rückschlag in der revolutionären Vorbereitung verursachen würde. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich hauptsächlich auf die Aktion der Partei in der zweiten und dritten der oben erwähnten Phasen.

29. Der Besitz einer kritischen Methode und eines Bewusstseins, das zur Formulierung ihres Programms führt, ist eine Bedingung des organischen Lebens der kommunistischen Partei. Schon deshalb können die Partei und die Kommunistische Internationale sich nicht darauf beschränken, die Taktik höchst frei und elastisch festzulegen und ihre Anwendung nach jeweiliger Lagebeurteilung der Einschätzung der führenden Zentralorgane zu überlassen. Das Parteiprogramm hat nicht den Charakter eines blossen Zieles, das über irgendeinen Weg zu erreichen wäre, sondern den einer historischen Perspektive von zusammenhängenden Wegen und Zielen; daher muss die jeweilige Taktik in der Folge der Situationen dem Programm entsprechen; daher müssen auch die allgemeinen taktischen Regeln für die aufeinanderfolgenden Situationen innerhalb bestimmter Grenzen festgelegt sein, Grenzen, die zwar nicht steif sind, aber immer schärfer und weniger schwankend, sofern die Bewegung stärker wird und sich dem allgemeinen Sieg nähert. Nur ein solches Kriterium macht es möglich, sich in der Aktionsführung innerhalb der Parteien und der Internationale einer wachsenden und immer effektiveren Zentralisation anzunähern, so dass die zentralen Direktiven nicht nur in den kommunistischen Parteien ohne Widerstreben ausgeführt werden, sondern auch in den Massenbewegungen, deren Mobilisierung sie erzielen konnten. Man darf nicht vergessen, dass die Annahme der organischen Disziplin der Bewegung seitens der Individuen und Gruppen auch ihrer eigenen Initiative unterliegt, die vom Einfluss der Lage und ihrer Entwicklung abhängt, andererseits aber bedingt ist durch ein stetiges logisches Fortschreiten der Erfahrungen und durch die Annäherung an den Weg, dem zu folgen ist, um die wirksamste Aktion gegen die Lebensbedingungen zu gewährleisten, die das herrschende System dem Proletariat aufzwingt. Daher müssen Partei und Internationale systematisch die allgemeinen taktischen Regeln in ihrer Gesamtheit darlegen und zeigen, dass diese Regeln und Perspektiven den notwendigen Weg zum Sieg darstellen, um somit ihre Mitglieder und die um sie gruppierten proletarischen Schichten zum Kampf und zum Opfer für die Verwirklichung dieser Taktik aufrufen zu können. Was dazu führt, Inhalt und Grenzen der Parteitaktik festzulegen, ist also nicht der Wunsch, die Mannigfaltigkeit der Handlungen, die von der Partei verlangt werden können, theoretisch und schematisch zu vereinfachen, sondern ein praktisches und organisatorisches Bedürfnis: aus diesem ganz konkreten Grund muss die Partei Beschlüsse fassen, die scheinbar ihren Handlungsspielraum einengen, die aber allein die organische Einheit ihres Wirkens im proletarischen Kampf garantieren.

VI. »Indirekte« taktische Aktion der Kommunistischen Partei

30. Fehlen die Bedingungen einer taktischen Aktion, die als »direkt« bezeichnet werden kann, da sie dem Ansturm auf die bürgerliche Macht mit den Kräften, über die die kommunistische Partei verfügt, entspricht, und auf die wir später zurückkommen, beschränkt sich die Partei keinesfalls auf Propaganda und Rekrutierungsarbeit. Sie kann und muss im Gegenteil durch Einwirkung und Druck auf die anderen Parteien und auf die politischen und sozialen Bewegungen die Ereignisse beeinflussen, um eine für sie günstige Entwicklung der Lage zu fördern und das Auftreten der Zeit, wo die unmittelbar revolutionäre Lösung möglich wird, zu beschleunigen.

In einer solchen Lage bilden die Haltungen und Initiativen, die die Partei einnehmen und aufgreifen soll, ein heikles Problem, dessen Lösung von folgender Bedingung abhängt: diese Haltungen und Initiativen dürfen nicht im geringsten Widerspruch zu den künftigen Bedürfnissen des spezifischen Parteikampfes stehen, so wie er vom Programm vorgesehen wird, dessen einziger Vertreter die Partei ist und für das im entscheidenden Augenblick das Proletariat wird in den Kampf treten müssen. Die Propaganda, die ununterbrochen die Notwendigkeit, dass das Proletariat das kommunistische Programm und die kommunistischen Methoden ergreife, hervorheben muss, ist nicht bloss theoretisch, sondern entspringt vor allem den täglichen Stellungnahmen der Partei im realen proletarischen Kampf. Jede Haltung, die die vollständige Behauptung dieser Propaganda in den Schatten stellt, jede Haltung, die den Eindruck erweckt, gegebene Teilziele nicht als Mittel zum Vorwärtskommen sondern als Selbstzweck zu betrachten, führt zu einer Schwächung der Parteistruktur und ihres Einflusses auf die revolutionäre Vorbereitung der Massen.

31. In der historisch-politischen Lage, die der bürgerlich-demokratischen Herrschaft entspricht, besteht meist eine Spaltung der politischen Kräfte in zwei Richtungen oder »Blöcke«, Rechte und Linke, die sich um die Führung des Staates streiten. Die sozialdemokratischen Parteien, die aus Prinzip Koalitionsparteien sind, schliessen sich mehr oder weniger offen dem Linksblock an. Der Verlauf dieses Streites betrifft die kommunistische Partei, sei es, weil Fragen und Forderungen aufgeworfen werden, die die proletarischen Klassen interessieren oder ihre Aufmerksamkeit beanspruchen, sei es, weil der Sieg der Linken gegebenenfalls den Weg der proletarischen Revolution tatsächlich ebnen kann. Bei der Untersuchung der taktischen Opportunität einer Koalition mit politischen Kräften der Linken muss jeder falsch theoretische oder dumm sentimentale oder moralistische Apriorismus beiseite gelassen werden; es muss aber auch vor allem bedacht werden, dass die Aktionsfähigkeit der kommunistischen Partei in direktem Verhältnis von ihrer Fähigkeit abhängt, kontinuierlich ihren Organisations- und Vorbereitungsprozess zu entwickeln, der es ihr erlaubt, die Massen zu beeinflussen und zur Tat aufzurufen. Sie kann daher keine Taktik anwenden, die bloss gelegentlichen und vorübergehenden Kriterien entspricht, in der Hoffnung, daraufhin, im Augenblick, wo diese Taktik überholt scheint, plötzlich eine Wende machen, die Front wechseln und die Verbündeten von gestern zu Feinden erklären zu können. Soll ihre Verbindung zu den Massen und die Festigung dieser Verbindung nicht gerade zu dem Zeitpunkt gefährdet werden, wo sie am wichtigsten sind, so muss die Partei in allen ihren öffentlichen und offiziellen Erklärungen und Handlungen eine Kontinuität der Methoden und Absichten vorweisen, die der ununterbrochenen Propaganda und Vorbereitung auf den Endkampf strengstens entspricht.

32. Hauptaufgabe der kommunistischen Partei für die ideologische und praktische Vorbereitung des Proletariats auf den revolutionären Kampf für die Errichtung der Diktatur ist die rücksichtslose Kritik des Programms der bürgerlichen Linken, sowie jedes Programms, das die sozialen Probleme im Rahmen der demokratisch-parlamentarischen, bürgerlichen Institutionen zu lösen beabsichtigt. In den meisten Fällen wird das Proletariat lediglich durch demagogische Verfälschungen von den Gegensätzen zwischen den bürgerlichen Rechten und Linken berührt, es genügt aber natürlich nicht, diese Fälschungen durch rein theoretische Kritik aufzudecken – sie müssen in der Praxis, im Feuer des Kampfes, entlarvt werden. Die Linke strebt keineswegs danach, irgendwie vorzuschreiten, um den Fuss auf eine Stufe zu setzen, die politisch und wirtschaftlich zwischen dem kapitalistischen und dem proletarischen Regime steht. Ihre politischen Forderungen entsprechen im Gegenteil meistens den Bedingungen einer besseren Wirksamkeit und Verteidigung des modernen Kapitalismus, sowohl ihrem Inhalt nach, als auch durch die Illusion, die sie den Massen einflössen, diese könnten die bestehenden Institutionen für ihre Emanzipation benutzen. Dies gilt für die Forderung einer Verbreitung des Wahlrechts und anderer Garantien und Verbesserungen des Liberalismus, sowie für den antiklerikalen Kampf und die ganze »Freimaurer-Politik«. Dies gilt aber auch für die reformistische Gesetzgebung auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet: wenn sie überhaupt erst realisiert wird, dann nur mit der Absicht und in dem Masse, dass sie den revolutionären Drang der Massen zurückhält.

33. Eine Regierung der bürgerlichen Linken oder gar eine sozialdemokratische Regierung können wohl als Annäherung an den Endkampf für die proletarische Diktatur betrachtet werden, aber nicht in dem Sinn, dass sie dafür bessere wirtschaftliche oder politische Voraussetzungen schaffen oder gar dem Proletariat grössere Freiheit für die revolutionäre Organisation, Vorbereitung und Aktion bieten würden. Eine solche Hoffnung wäre tödlich. Aus Gründen der Theorie und der blutigen Erfahrung weiss die kommunistische Partei (und es ist ihre Pflicht, dies zu verkünden), dass solche Regierungen dem Proletariat nur so lange Handlungsfreiheit gestatten, wie es sie für seinen Vertreter hält und verteidigt, während sie einem Kampf der Massen gegen den demokratischen Staatsapparat mit der grausamsten Reaktion entgegentreten. Wenn die Errichtung solcher Regierungen nützlich sein kann, so in einem ganz anderen Sinn, nämlich insofern ihr Tun es dem Proletariat erlaubt, aus den Tatsachen selbst die praktische Lehre zu ziehen, dass nur die Errichtung seiner Diktatur zu einer wirklichen Niederlage des Kapitalismus führt. Und es ist klar, dass die kommunistische Partei ein solches Experiment nur dann gründlich und nützlich verwerten kann, wenn sie von vornherein das Versagen solcher Regierungen verkündet und gleichzeitig eine feste unabhängige Organisation aufrechterhalten hat, um die sich das Proletariat einreihen kann, wenn es gezwungen wird, sich von den Gruppen und Parteien, deren Regierungsexperiment es zum Teil unterstützte, abzuwenden.

34. Ein Bündnis der kommunistischen Partei mit linksbürgerlichen oder sozialdemokratischen Parteien würde daher der revolutionären Vorbereitung schaden und die Ausnutzung des Experiments einer Linksregierung erschweren; sogar in der Praxis würde es höchstens den Sieg der Linkskoalition verzögern. Das bürgerliche Zentrum, um dessen Unterstützung sich Linke und Rechte streiten, kippt nach links in der vollkommen richtigen Überzeugung, dass die Linke nicht weniger gegenrevolutionär und konservativ ist als die Rechte, und dass ihre Konzessionsvorschläge (die grösstenteils nur Schein und nur in einem geringen Masse echte Zugeständnisse darstellen) lediglich dazu dienen, den wachsenden revolutionären Vorstoss gegen die von Rechten und Linken gleichsam anerkannten Institutionen zu bremsen. Die Beteiligung der kommunistischen Partei an der Linkskoalition würde dieser daher besonders im Wahlkampf und im Parlament mehr Unterstützung entziehen als bringen und das Experiment in seinem Zeitablauf noch weniger kontrollierbar machen.

35. Andererseits darf die kommunistische Partei nicht übersehen, dass die Forderungen, auf der die Agitation des Linksblocks beruht, die Massen interessieren und oft sogar in ihrer Formulierung deren wirklichen Bedürfnissen entsprechen. Dies ist eine unbestreitbare Tatsache, und die kommunistische Partei darf keineswegs die oberflächliche These vertreten, dass solche Konzessionen abzulehnen sind, weil bloss die endgültige und totale revolutionäre Eroberung die Opfer der Proletarier wert sei. Eine solche Behauptung wäre sinnlos und hätte zur Folge, dass die Proletarier weiter den Demokraten und Sozialdemokraten nachlaufen und unter ihrem Einfluss bleiben würden. Die kommunistische Partei wird daher die Arbeiter auffordern, nach den Zugeständnissen der Linken zu greifen, aber als Experiment, dessen schlechten Ausgang die Partei in ihrer Propaganda klar voraussagen wird, wobei sie gleichzeitig die Notwendigkeit unterstreichen wird, dass das Proletariat, soll es ungeschlagen davonkommen, seine organisatorische und politische Unabhängigkeit nicht auf das Spiel setzt. Die kommunistische Partei wird die Massen auffordern, von den sozialdemokratischen Parteien zu verlangen, dass diese für die Erfüllung der Versprechen der bürgerlichen Linken haften und ihre eigenen Versprechen einhalten. Mit ihrer unabhängigen und unablässigen Kritik wird sich die kommunistische Partei darauf vorbereiten, aus den negativen Ergebnissen des Experiments zu profitieren: wird ja dadurch klar, dass die ganze Bourgeoisie in der Tat eine Einheitsfront gegen das revolutionäre Proletariat bildet, und dass die Parteien, die sich Arbeiterparteien nennen, aber eine· Koalition mit einem Teil der Bourgeoisie eingehen, nichts anderes als ihre Komplizen und Agenten sind.

36. Oft stellen die Linksparteien und besonders die Sozialdemokratie solche Forderungen, dass es nützlich ist, das Proletariat dazu aufzurufen, direkt für ihre Erfüllung einzutreten, da im Laufe dieses Kampfes unmittelbar klar wird, dass die Mittel, mit denen die Sozialdemokraten ein Programm von Vergünstigungen für das Proletariat durchsetzen wollen, unzulänglich sind. Die kommunistische Partei wird in solchen Fällen dieselben Forderungen aufgreifen und verschärfen, sie als Kampfparolen des ganzen Proletariats stellen, das Proletariat vorwärts drängen, um dadurch die Parteien, die bloss aus Opportunismus davon gesprochen haben, auf den Weg der Durchsetzung der Forderungen zu zwingen. Seien es nun wirtschaftliche Forderungen, oder solche, die auch einen politischen Charakter haben, wird die kommunistische Partei sie als Ziel der Gewerkschaftskoalition stellen und die Bildung von Leitungs- oder Aktionskomitees, die sich aus verschiedenen Parteien einschliesslich der kommunistischen zusammensetzen, vermeiden, damit die Aufmerksamkeit der Massen immer auf das spezifische Programm der Kommunisten gelenkt werden kann und auch damit die Partei die eigene Bewegungsfreiheit beibehält, um den Zeitpunkt zu wählen, in dem sie die Aktionsplattform erweitern und die anderen Parteien, die sich ohnmächtig zeigten und von den Massen verlassen wurden, übergehen muss. So verstanden, erlaubt die gewerkschaftliche Einheitsfront allgemeine Aktionen der ganzen Arbeiterklasse, die allein die kommunistische Methode siegreich bestehen kann, die einzige Methode, die der einheitlichen Bewegung einen Inhalt geben kann und frei ist von jeder Mitverantwortung für die Umtriebe der Parteien, die bloss aus Opportunismus und mit konterrevolutionären Absichten ihre nur wörtliche Unterstützung des proletarischen Kampfes vorgaukeln.

37. In der Situation, mit der wir uns hier befassen, kann auch ein Ansturm der bürgerlichen Rechte gegen eine demokratische oder sozialdemokratische Regierung stattfinden. Selbst in diesem Fall kann die kommunistische Partei nicht zur Solidarität mit solchen Regierungen aufrufen. Solche Regierungen bilden ein Experiment, das man hingenommen hat und mit der Absicht verfolgt, die Überzeugung des Proletariats zu beschleunigen, dass sie nicht zu seinen Gunsten, sondern für konterrevolutionäre Zwecke errichtet wurden. Man kann sie dem Proletariat daher nicht als Errungenschaft hinstellen, die es zu verteidigen hätte.

38. Es kann geschehen, dass die Linksregierung die Organisationen der Rechten (die weissen Banden der Bourgeoisie) das Proletariat und seine Organisationen angreifen lässt. Hier wird keine Unterstützung durch das Proletariat beansprucht, sondern stellt sich die Regierung vielmehr auf den Standpunkt, das Proletariat hätte kein Recht, selbst den bewaffneten Widerstand zu organisieren, um diesen Angriffen zu entgegnen. In einem solchen Fall werden die Kommunisten zeigen, dass nichts anderes vorliegt, als offene Komplizenschaft und Arbeitsteilung zwischen der liberalen Regierung und den irregulären Kräften der Reaktion: die Bourgeoisie debattiert nicht mehr über die respektiven Vorteile der demokratisch-reformistischen Einschläferung und der gewaltsamen Unterdrückung, sondern gebraucht beide Methoden zugleich. In einem solchen Falle ist der liberale Flügel der wahre und gefährlichste Feind der revolutionären Vorbereitung. Er täuscht vor, er werde im Namen der Legalität die Verteidigung des Proletariats übernehmen, um an dem Tag, wo der Druck der Ereignisse das Proletariat vor die Notwendigkeit stellen wird, gegen den legalen Apparat, der seine Ausbeutung schützt, zu kämpfen, dieses Proletariat unbewaffnet und desorganisiert vor sich zu haben und es so in vollem Einverständnis mit den Weissen niederschlagen zu können.

39. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Regierung und die Linksparteien, die sie bilden, das Proletariat zur Teilnahme am bewaffneten Kampf gegen den Angriff der Rechten aufrufen. Dieser Aufruf ist nichts anderes als eine Falle. Darauf reagiert die kommunistische Partei mit dem Aufruf, dass die Bewaffnung des Proletariats die Errichtung der proletarischen Macht und des proletarischen Staates bedeuten muss, d.h. auch die Entwaffnung des überlieferten, bürokratischen und militärischen Staatsapparates, der ja nie den Befehlen einer auf legalem Weg an die Macht gekommenen Linksregierung gehorchen würde, sollte sie das Volk zum bewaffneten Kampf aufrufen und nur die proletarische Diktatur kann den Sieg über die weissen Banden sichern. Daraus folgt, dass gegenüber einer Linksregierung keine Art von »Loyalltät« verkündet oder praktiziert werden darf, im Gegenteil, man muss die Massen mit dem allergrössten Nachdruck darauf hinweisen, welche Gefahr eine Stärkung der Regierungsmacht mit Hilfe des Proletariats gegen den Angriff der Rechten oder einen Putschversuch bedeuten würde: das hiesse lediglich den Apparat befestigen helfen, der (wenn die Kontrolle der bewaffneten Staatsorganisation in den Händen der demokratischen Regierungsparteien bleibt, d.h. wenn das Proletariat die Waffen streckt ohne sie gegen alle Kräfte der bürgerlichen Klasse einzusetzen, um die bestehenden politischen und staatlichen Formen zu stürzen) dem revolutionären Ansturm, wenn sich dieser als einziger Ausweg erweist, entgegentreten wird.

VII. »Direkte« taktische Aktion der Kommunistischen Partei

40. Wir haben den Fall untersucht, wo die bürgerlichen Linken und die Sozialdemokratie, sei es als Verteidigungs- oder als Eroberungsziele Forderungen stellen, die die Massen effektiv angehen. In diesem Fall stellt die kommunistische Partei ihrerseits mit grösserer Klarheit und Energie dieselben Forderungen und kritisiert gleichzeitig die Unzulänglichkeit der Mittel, die die anderen vorschlagen, um diese Forderungen durchzusetzen. Es gibt aber auch andere Fälle, wo die Durchsetzung oder Verteidigung von unmittelbaren und dringenden Forderungen der Arbeiterklasse die bürgerlichen Linksparteien einschliesslich der Sozialdemokratie gleichgültig lassen. Wenn die kommunistische Partei wegen des Einflusses der Sozialdemokraten nicht über genügende Kräfte verfügt, um die Massen direkt zur Durchsetzung dieser Forderungen aufzurufen, wird sie es dennoch vermeiden, den Sozialdemokraten ein Bündnis anzubieten. Im Gegenteil, sie wird zeigen, dass diese sogar die unmittelbaren Tagesinteressen des Proletariats verraten; sie wird für die Bildung einer proletarischen Einheitsfront auf gewerkschaftlicher Ebene eintreten, als Instrument für die Durchsetzung jener proletarischen Kampfforderungen. An solchen Einheitsaktionen werden sich die Kommunisten, die in den Gewerkschaften kämpfen, an erster Stelle beteiligen, während die Partei ihre Bewegungsfreiheit behält und eingreifen kann, wenn der Kampf eine höhere Entwicklung erreicht, gegen die sich die Sozialdemokraten und manchmal auch die Anarcho-Syndikalisten und Anarchisten unvermeidlich stellen werden. Schlagen die anderen Arbeiterparteien die gewerkschaftliche Einheitsfront für diese Forderungen ab, so begnügt sich die kommunistische Partei nicht damit, in Kritik und Propaganda deren Einvernehmen mit der Bourgeoisie zu zeigen; um den Einfluss der anderen Parteien zu vernichten, muss sie vor allem in erster Linie in den proletarischen Teilkämpfen mitwirken. Die Situation wird solche Kämpfe gewiss hervorrufen, und zwar auf der Grundlage der Forderungen, für die die kommunistische Partei die gewerkschaftliche Einheitsfront aller lokalen Organisationen und Kategorien vorgeschlagen hat. Aus diesen Kämpfen kann die kommunistische Partei somit die konkrete Beweisführung ziehen, dass die sozialdemokratischen Führer, indem sie sich einer Ausbreitung der Aktion widersetzen, die Niederlage begünstigen. Natürlich begnügt sich die kommunistische Partei nicht damit, die anderen für die falsche Taktik verantwortlich zu machen, sondern untersucht mit höchstem Scharfsinn und strengster Disziplin, ob nicht der Zeitpunkt gekommen ist, den Widerstand der Konterrevolutionäre zu überrumpeln, d.h. ob die Entwicklung der Aktion nicht unter den Massen eine solche Stimmung erzeugte, dass diese gegen jeden Widerstand einem Kampfaufruf der kommunistischen Partei folgen würden. Ein derartiger Beschluss darf nur zentral gefasst werden und es ist unzulässig, dass er je von lokalen Organen der Partei oder von kommunistisch kontrollierten Gewerkschaften gefasst wird.

41. Der Ausdruck »direkte Taktik« bezeichnet insbesondere die Parteiaktion in einer Situation, die ihr nahelegt, von sich aus die Initiative eines Angriffs gegen die bürgerliche Macht zu ergreifen, um sie zu stürzen oder durch einen harten Schlag ernsthaft zu schwächen. Um eine solche Aktion unternehmen zu können, muss die Partei über eine feste innere Organisation verfügen, die die strengste Disziplin gegenüber den Befehlen der führenden Zentrale absolut sicherstellt. Sie muss auch dieselbe Disziplin von den von ihr geführten Gewerkschaftskräften erwarten können, so dass sie sicher sein kann, dass ein grosser Teil der Massen sich ihr anschliessen wird. Sie braucht auch eine entsprechend wirksame militärische Organisation und darüber hinaus den ganzen Apparat für die illegale Aktion, insbesondere ein Kommunikations- und Verbindungsnetz, das der bürgerlichen Kontrolle unzugänglich ist und ihr somit erlaubt, die Führung der Bewegung sicher in der Hand zu halten, wenn sie, wie zu erwarten, durch Ausnahmegesetze verboten wird. Der Beschluss einer offensiven Aktion, die eine jahrelange Vorbereitung aufs Spiel setzen kann, setzt aber vor allem voraus, dass die kommunistische Partei die Lage untersucht hat und zum sicheren Ergebnis gekommen ist, dass die von ihr direkt organisierten und geführten Kräfte sich diszipliniert verhalten werden, dass ihre Bindungen zu den Massen während des Kampfes nicht reissen werden und darüberhinaus, dass der Anschluss der Massen an die Partei und die Ausdehnung der proletarischen Teilnahme an der Bewegung im Laufe der Aktion immer mehr wachsen werden, da die Tragweite dieser Aktion die Tendenzen, die urwüchsig in den tiefen Schichten der Massen schlummern, erwecken und in Gang bringen wird.

42. Eine allgemeine Bewegung, mit der die kommunistische Partei beabsichtigt, die bürgerliche Macht zu stürzen, kann nicht immer von vornherein offen dieses Ziel zugeben. Nur in Ausnahmefällen ist dies möglich, bei besonders rascher Beschleunigung der revolutionären Situation und entsprechendem Aufruhr im Proletariat. Meistens wird sich aber der Aufruf zum Kampf auf Forderungen berufen, die noch nicht die proletarische Machteroberung darstellen, die aber teilweise nur durch diesen höchsten Sieg erfüllbar sind, obwohl die Massen sie bloss als unmittelbare Lebensbedürfnisse betrachten. Da diese Forderungen auch in begrenztem Mass von einer linken Regierung (also ohne Vernichtung des bürgerlichen Staates und Errichtung der proletarischen Diktatur) erfüllt werden können, lassen sie die Möglichkeit offen, die Aktion an einem bestimmten Punkt zu bremsen, und dennoch den Organisationsgrad und die Kampfbereitschaft der Massen aufrechtzuerhalten, wenn es nicht möglich ist, sie bis zum Endziel fortzusetzen, ohne dadurch nicht nur den Erfolg, sondern auch die Bedingungen einer folgenden wirksameren Wiederaufnahme des Kampfes zu gefährden.

43. Die kommunistische Partei kann es auch zweckmässig finden, zu einer Aktion aufzurufen, von der sie weiss, dass sie nicht bis zur Machteroberung gesteigert werden kann, sondern einen Zusammenstoss darstellt, aus dem das Ansehen und die Organisation des Feindes erschüttert und das Proletariat materiell und moralisch gestärkt hervorgehen sollen. In diesem Fall ruft die Partei die Massen zum Kampf für Ziele auf, die entweder die effektiv zu erreichenden Ziele sind, oder beschränkter als die Ziele, die die Partei bei günstiger Entwicklung des Kampfes zu erreichen beabsichtigt. Vor allem im Aktionsplan der Partei müssen diese Ziele nach und nach gestellt werden, so dass jede einzelne Errungenschaft die Plattform für eine Stärkung und für eine Pause vor weiteren Kämpfen bietet. Die Partei muss mit allen Anstrengungen die verzweifelte Taktik vermeiden, die darin besteht, sich unter solchen Bedingungen in den Kampf zu stürzen, dass nur der Endsieg der Revolution ein günstiges Ergebnis darstellen kann, und sonst die Niederlage und die Auflösung der proletarischen Kräfte für eine unabsehbare Zeit sicher sind. Teilziele sind daher unentbehrlIch, um die Aktion sicher unter Kontrolle zu halten. Sie aufzustellen, bildet keinen Widerspruch zur Kritik ihres ökonomischen und sozialen Inhaltes; vielmehr muss man verhindern, dass die Massen sie als Selbstzweck ansehen, auf denen man ruhen kann, wenn sie einmal erreicht sind, um sie im Gegenteil als Kampfgelegenheit, um den Endsieg näherzubringen, durchzusetzen. Das Festlegen solcher Teilziele ist selbstverständlich ein heikles und ungeheures Problem, und nur durch die Fruchtbarmachung ihrer Erfahrung und die Selektion ihrer Führer kann sich die Partei zu dieser äussersten Verantwortung befähigen.

44. Die Partei darf weder die Illusion verbreiten, noch ihr selbst verfallen, dass es in einer Situation der Senkung der proletarischen Kampflust möglich wäre, lediglich durch das Beispiel einer tapferen Gruppe, die sich in den Kampf stürzt und Handstreiche gegen die bürgerlichen Institutionen unternimmt, die Massen zum Kampf zu erwecken. Die Beweggründe, die das Proletariat aus der Erschlaffung aufrütteln können, sind in der tatsächlichen Entwicklung der wirtschaftlichen Lage zu suchen; die Taktik der Partei kann und muss zu diesem Prozess beitragen, aber durch eine viel gründlichere und kontinuierlichere Arbeit als die theatralische Geste einer stürmenden Vorhut.

45. Nichtsdestoweniger wird die Partei ihre Kräfte und ihre Organisation für gut geplante und in der Ausführung gut kontrollierbare Aktionen einsetzen, die, von bewaffneten Gruppen, Arbeitsorganisationen und Menschenmengen unternommen, einen demonstrativen und Verteidigungswert haben und den Massen den konkreten Beweis liefern, dass man mit Organisationen und Vorbereitung bestimmten Widerständen und Gegenoffensiven der herrschenden Klasse entgegentreten kann, ob es sich nun um terroristische Angriffe von bewaffneten reaktionären Gruppen oder um Polizeiverfolgungen gegen proletarische Organisationen und Tätigkeiten handelt. Damit zielt die Partei nicht darauf ab, eine allgemeine Aktion hervorzurufen, sondern den niedergeschlagenen und entmutigten Massen durch eine Reihe von Aktionen, die eng mit dem Wiedererwachen ihrer Kampfgefühle und Vergeltungsbedürfnisse verbunden sind, eine hochgradige Kampfbereitschaft einzuflössen.

46. Auf jeden Fall wird die Partei vermeiden, dass ihre Gewerkschaftsgruppen und Gewerkschaftsmitglieder bei solchen lokalen Aktionen die innere Disziplin der Gewerkschaftsorganisationen brechen. Diese Aktionen sollen nicht zum Bruch mit den zentralen Nationalorganen, die von anderen Parteien geführt werden, führen, sondern, wie bereits gesagt, die Grundlage für die Eroberung dieser Organe durch die Partei bilden. Die kommunistische Partei und ihre Mitglieder werden jedoch die Massen aktiv begleiten und ihnen ihre ganze Unterstützung geben, wenn sie in einer spontanen Entgegnung auf die bürgerlichen Provokationen die Grenzen der Disziplin gegenüber der Passivität der reformistischen und opportunistischen Gewerkschaftsführer überschreiten.

47. Ist die Lage durch die Erschütterung der Staatsmacht, die dem Sturz nahe ist, gekennzeichnet, und durch eine volle Entfaltung der kommunistischen Kräfte und der Agitation, um die Massen unter dem Banner der höchsten strategischen Parteiziele zu scharen, so darf die kommunistische Partei keine Gelegenheit verpassen, auf die labilen Gleichgewichtsmomente der Situation einzuwirken; dafür wird sie alle Kräfte ausnutzen, die für eine Weile in die gleiche Richtung ihrer unabhängigen Aktion laufen. Wenn sie vollkommen sicher ist, die Kontrolle der Bewegung zu gewinnen, sobald die bürgerliche Staatsorganisation gebrochen ist, kann sie auch zeitweilige und beschränkte Vereinbarungen mit anderen Bewegungen schliessen, die über Kräfte auf dem Kampfgebiet verfügen. Solche Bündnisse werden aber nicht zum Gegenstand der Propaganda oder der Losungen, die die Partei den Massen gibt, gemacht. Der Erfolg allein liefert den Massstab für die Opportunität solcher Kontakte; er allein bestimmt, ob die Partei die Folgen richtig berechnet hat. Die ganze Taktik der kommunistischen Partei wird weder von theoretischen Vorurteilen noch von moralischen oder ästhetischen Überlegungen diktiert; ihr Kriterium besteht einzig und allein in der tatsächlichen Anpassung der Mittel an das Ziel, in einer dialektischen Synthese von Theorie und Aktion, die das Vermögen einer Bewegung darstellt, die zum Träger der breitesten gesellschaftlichen Erneuerung und zum Führer des grössten revolutionären Kriegs bestimmt ist.

Vermerk

Die »Römer Thesen« enthalten ein VIII. Kapitel, das sich mit der italienischen Lage befasst und die konkrete Anwendung der Thesen aus Kapitel I. – VII. darstellt. Da sich die Thesen aber vor allem als Grundlage eines taktischen Plans für die ganze Internationale verstanden und seitdem von allen Niederlagen der Arbeiterbewegung tragischerweise bestätigt wurden, d.h. da die spätere Entwicklung nicht nur die Richtigkeit des vorgelegten taktischen Schemas sondern die Notwendigkeit eines solchen einheitlichen taktischen Planes für die kommunistische Bewegung aller Länder in ein grelles Licht geworfen hat, verzichtet man heute bei der Veröffentlichung der Thesen auf diesen spezifischen italienischen Teil, um den allgemeinen Ansatz und die internationale Gültigkeit der Arbeit noch besser hervorzuheben.


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr. 13, Januar 1977
Die Rechtschreibung wurde stillschweigend korrigiert. sinistra.net 5/2021

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