Der 40. Jahrestag der »Reichskristallnacht« lieferte in diesen Tagen den Antifaschisten der Rechten, Mitte und Linken erneut die Gelegenheit unter Beweis zu stellen, dass der Rassenhass – und hauptsächlich der Antisemitismus – ihnen als grosses Alibi dient[1]. Unter solchem Banner reiten sie am liebsten ins Feld, und es ist zugleich ihre letzte Zuflucht in der Diskussion. Wer kann dem Argument der Vernichtungslager und der Gaskammer widerstehen? Wer verstummt nicht vor den sechs Millionen ermordeten Juden? Wem schaudert es nicht vor dem Sadismus der Nazis? Und dennoch haben wir es hier mit einer der unverschämtesten Mystifikationen der Antifaschisten zu tun, die wir aufdecken müssen.
Die deutsche Bourgeoisie und Kleinbourgeoisie, angefangen mit den Staats-, Parteien-, Gewerkschafts- und Kirchenspitzen durfte wieder auf zahlreichen Kundgebungen im Westen wie im Osten den Nazismus für den Tod von fünfzig Millionen Menschen im letzten Weltkrieg, darunter sechs Millionen Juden, verantwortlich machen. Diese Einstellung, die eine typisch bürgerliche ist, entspricht dem Spruch der angeblichen Kommunisten: die Faschisten sind schuld am Krieg gewesen. Da die bürgerlichen und reformistischen Ideologen sich weigern, den Ursprung der Erschütterungen und der Krisen, die periodisch die Welt verheeren, im kapitalistischen System selbst zu erkennen, versuchen sie alles immer durch das Böse im Menschen zu erklären. Wir sehen somit, dass die faschistischen und antifaschistischen Ideologen im Grunde dasselbe behaupten: die Gedanken, die Ideen, der Wille der Menschen und Gruppen bestimmen den Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklungen. Gegen all diese Ideologien, die wir als bürgerlich bezeichnen, weil sie die Verteidigung des Kapitalismus anstreben, sowie gegen alle vergangenen, heutigen und zukünftigen »Idealisten« hat der Marxismus bewiesen, dass es gerade umgekehrt ist: die materiellen Gesellschaftsverhältnisse sind es, die die Bildung der Ideologien bestimmen. Dies ist der Grundstein des Marxismus, und daraus ist zu ersehen, dass unsere angeblichen Marxisten auch dies aufgegeben haben, indem sie alles in die Ideenwelt verschieben: letzten Endes sind für sie der Kolonialismus, der Imperialismus und der Kapitalismus selbst nur Geisteszustände.
Damit führen sie alle Leiden der Menschheit auf Bösewichte zurück, die sie für Elend, Unterdrückung und Krieg schuldig erklären. Hingegen hat der Marxismus bewiesen, dass, weit entfernt davon durch bösartige Willkür erzeugt zu werden, das Elend, die Unterdrückung, der Krieg und die Zerstörung zum »normalen« Prozess des Kapitalismus gehören. Dies gilt natürlich auch für die Kriege des imperialistischen Zeitalters. Aber da gerade die Zerstörung zu unserem Thema gehört, müssen wir diese Frage ein bisschen näher untersuchen.
Sogar wenn die Bourgeois oder die Reformisten zugeben, dass den imperialistischen Kriegen Interessenkonflikte zugrunde liegen, sind sie noch weit davon entfernt, vom Kapitalismus etwas verstanden zu haben. Man sieht es an ihrer Unfähigkeit, die Bedeutung der Zerstörungen zu erfassen. Sie alle sind der Ansicht, dass der Sieg der Zweck des Krieges ist, und erblicken in den Vernichtungen von Menschen und Sachwerten im feindlichen Lager allein ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Dies geht so weit, dass gewisse Naive vorgeschlagen haben, ganz einfach den nächsten Krieg mit Schlafmitteln zu führen! Ganz im Gegenteil hierzu behaupten wir, dass gerade die Zerstörung der Hauptzweck des Krieges ist. Die imperialistischen Rivalitäten, die den unmittelbaren Anlass zum Kriege darstellen, sind selbst nur Folgen der immer weiter ansteigenden Überproduktion. Um dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken, wird der Kapitalismus gezwungen, immer mehr und schneller zu produzieren; aus dem Widerspruch zwischen dem Zwang, immer mehr zu produzieren, und der Unmöglichkeit, für die Produkte Absatz zu finden, entsteht die Krise. Der Krieg ist die kapitalistische Lösung der Krise: durch die massive Zerstörung von Anlagen, Produktionsmitteln und Produktivkräften kann die Produktion danach wieder hochschnellen; zugleich hilft die massive Menschenvernichtung der periodischen »Überbevölkerung« ab, die durch die Überproduktion bewirkt wird. Nur ein philisterhafter Träumer kann sich einbilden, dass die imperialistischen Konflikte ebensogut durch eine Kegelpartie oder an einem runden Tisch geregelt werden könnten und dass die kolossalen Zerstörungen und der Tod von Millionen Menschen nur der Verstocktheit der einen oder der Böswilligkeit und Habgier der anderen zuzuschreiben seien.
Schon im Jahre 1844 warf Marx den bürgerlichen Ökonomen vor, die Habgier als dem Menschen angeboren zu betrachten, anstatt sie zu erklären, und er zeigte, warum die Habgierigen habgierig sind. Übrigens hat auch schon im selben Jahr der Marxismus die Ursache der »Überbevölkerung« aufgedeckt: »Die Nachfrage nach Menschen regelt notwendig die Produktion der Menschen wie jeder anderen Ware« – schreibt Marx. »Ist die Zufuhr viel grösser als die Nachfrage, so sinkt ein Teil der Arbeiter in den Bettelstand oder den Hungertod herab«[2]. Und Engels seinerseits: »Die Bevölkerung ist nur da zu gross, wo die Produktionskraft überhaupt zu gross ist«; die Überbevölkerung »hat uns gezeigt, wie, in letzter Instanz, das Privateigentum den Menschen zu einer Ware gemacht hat, deren Erzeugung und Vernichtung auch nur von der Nachfrage abhängt; wie das System der Konkurrenz dadurch Millionen von Menschen geschlachtet hat und täglich schlachtet«[3]. Weit entfernt, den Marxismus zu widerlegen und dessen »Erneuerung« zu rechtfertigen, hat der letzte imperialistische Krieg bestätigt, dass unsere Analyse genau zutrifft.
Wir mussten an all dies erinnern, um uns mit der Frage der Judenvernichtung beschäftigen zu können. Denn diese Vernichtung hat nicht zu einer beliebigen Zeit stattgefunden, sondern mitten in der Krise und dem imperialistischen Krieg. Wir müssen sie also innerhalb dieses riesigen Vernichtungsunternehmens erklären. Somit wird die Frage in das richtige Licht gestellt. Wir haben nicht mehr den »verheerenden Nihilismus« der Nazis zu erklären, sondern warum sich diese Vernichtung teilweise auf die Juden konzentriert hat. Hier sind Nazis und Antifaschisten auch wieder einig: der Massenmord an den Juden wurde durch den Rassenhass, den Judenhass, eine freie und wilde »Leidenschaft« verursacht! Wir Marxisten wissen aber, dass es keine freie soziale Leidenschaft gibt und dass nichts so sehr bestimmt ist, wie gerade diese grossen kollektiven Hassausbrüche. Die Untersuchung des Antisemitismus der imperialistischen Zeit wird uns dies wieder bestätigen.
Wir sprechen absichtlich von dem Antisemitismus der imperialistischen Zeit, denn, obwohl die »Idealisten« aller Art, von den Nazis bis hin zu den Theoretikern des »Judentums«, behaupten, dass der Judenhass immer und überall derselbe ist, wissen wir, dass dem nicht so ist. Der Antisemitismus der heutigen Zeit ist von dem der Feudalzeit grundverschieden. Es ist uns nicht möglich, die Geschichte der Juden, die der Marxismus genau erklärt hat, hier wieder zu entwickeln. Wir wissen, warum in der feudalen Gesellschaft die Juden sich als solche erhalten haben; wir wissen, dass die starken Bourgeoisien (Amerika, England, Frankreich), die früh imstande waren, ihre politische Revolution siegreich durchzuführen, ihre Juden fast ganz assimiliert hatten und dass die Schwachen dies nicht konnten. Es ist nicht das Überleben der Juden als solche, das wir hier zu erklären haben, sondern der Antisemitismus des imperialistischen Zeitalters. Und dies ist nicht schwer, sobald wir nicht über das »Wesen« der Juden oder der Antisemiten nachgrübeln, sondern ihre Stellung in der Gesellschaft erforschen.
Engels schrieb 1890, dass der Antisemitismus »nichts anderes ist, als eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft, die wesentlich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht«[4] Durch ihre Geschichte befinden sich die Juden heute hauptsächlich im Mittelstand. Diese Klasse ist aber durch den unaufhaltsamen Fortschritt der Kapitalkonzentration zum Tode verurteilt. Hier liegt auch die Quelle des neuen Antisemitismus. Im Deutschland der Zwischenkriegszeit spitzt sich diese Tendenz extrem zu. Wie ein Alpdruck lastet die Nachkriegskrise auf dem durch den 1. Weltkrieg und die revolutionären Ausbrüche der Jahre 1918–28 erschütterten und von den Angriffen des Proletariats noch immer bedrohten deutschen Kapitalismus. Während die siegreichen, stärkeren Bourgeoisien (USA, England, Frankreich) weniger betroffen wurden und die Umschaltung der Kriegswirtschaft auf Friedenswirtschaft relativ leicht überstanden, erlitt der deutsche Kapitalismus einen chaotischen wirtschaftlichen Einbruch. Und wie in allen Krisen, die durch die Ausschaltung eines Teils der kleinen und mittleren Unternehmen zu einer höheren Konzentration des Kapitals führen, war es nicht zuletzt der Mittelstand, der am meisten von der Krise bedroht wurde. Hier war die Lage so, dass die ruinierten, bankrotten und verschuldeten Kleinbürger gar nicht ins Proletariat hinabfallen konnten, das ja selbst schwer unter der Arbeitslosigkeit litt (7 Millionen Arbeitslose am Höhepunkt der Krise): sie fielen daher direkt in den Bettlerstand hinab und waren zum Hungertod verurteilt, sobald ihre Reserven aufgezehrt waren. Angesichts dieser schrecklichen Bedrohung, haben die Kleinbürger den Antisemitismus »entdeckt«. Sie taten dies nicht so sehr, wie die Metaphysiker es behaupten, um sich ihr Unglück zu erklären, sondern um zu versuchen, sich davor zu schützen, indem sie die Bedrohung auf eine ihrer Gruppen konzentrierten.
Unter dem ungeheuren wirtschaftlichen Druck, angesichts der Vernichtungsgefahr, die das Leben aller seiner Mitglieder unsicher machte aber noch allgemein und diffus war, hat der Mittelstand einen seiner Teile in der Hoffnung geopfert, so das Leben der anderen zu retten und zu sichern. Der Antisemitismus rührt ebensowenig von einem »machiavellischen Plan« wie von einer »inneren Pervertiertheit« her. Er ist eine direkte Konsequenz des wirtschaftlichen Zwangs. Statt die erste Ursache der Ausrottung der Juden zu sein, ist der Judenhass nur der Ausdruck des Wunsches, die Vernichtung auf sie zu konzentrieren und zu beschränken.
Manchmal geschieht es, dass sogar die Arbeiter dem Rassismus verfallen, wenn sie massenhaft durch die Arbeitslosigkeit bedroht sind und versuchen, diese auf eine Teilgruppe, Italiener, Polen, Türken oder andere »Gastarbeiter«, Araber, Neger usw. zu konzentrieren. Aber im Proletariat geschieht dies nur in Momenten schlimmster Demoralisierung und ist nicht von bleibender Dauer. Sobald das Proletariat den Kampf wiederaufnimmt, sieht es klar und konkret, wo sein Feind steckt. Das Proletariat ist eine einheitliche Klasse, die eine historische Perspektive und Mission hat.
Der Mittelstand dagegen ist eine aussichtslose und verurteilte Klasse. Damit ist er auch dazu verurteilt, nichts verstehen zu können, und ist unfähig zu kämpfen; in der Mühle, die ihn zermalmt, kann er nur blind um sich schlagen. Der Rassismus ist keine Geistesverwirrung, er ist die kleinbürgerliche Reaktion auf den Druck des Grosskapitals und wird sie auch weiter bleiben.
Die Auswahl der »Rasse«, d. h. der Gruppe, auf die er die Vernichtung zu konzentrieren versucht, hängt natürlich von den Umständen ab. In Deutschland erfüllten die Juden die »notwendigen Bedingungen« und waren die einzigen, die sie erfüllten. Sie waren fast alle im Mittelstand und im Mittelstand die einzig genügend identifizierbare Gruppe. Auf sie konnte die Kleinbourgeoisie die Katastrophe ableiten. Es war ja notwendig, dass diese Identifizierung keine Schwierigkeiten bot. Man musste genau bestimmen können, wer zu vernichten und wer zu verschonen war. Daher die lächerlich erbärmliche Zählerei der getauften Grosseltern, die offen der Bluts- und Rassentheorie widerspricht und schon allein genügen könnte, um ihre Haltlosigkeit zu beweisen. Aber um Logik ging es da am allerwenigsten. Der Demokrat, der bloss die Widersinnigkeit und Niederträchtigkeit des Rassismus hervorhebt, geht hier – wie gewöhnlich – an der wirklichen Frage vorbei.
Vom Kapital bedrängt, haben also die deutschen Kleinbürger die Juden den Wölfen hingeworfen, um damit ihren Schlitten zu erleichtern und sich zu retten. Wie gesagt, geschah dies nicht bewusst; aber das war der Sinn ihres Judenhasses und ihrer Befriedigung, als sie die jüdischen Geschäfte schlossen und ausraubten. Das Grosskapital rieb sich, könnte man sagen, zufrieden die Hände: der Mittelstand war damit einverstanden, einen Teil seiner selbst zu liquidieren; noch besser, die Kleinbürger waren bereit, diese Liquidierung selbst durchzuführen. Aber diese »Personifizierung« des Kapitals ist nur ein schlechtes Bild: die kapitalistische Bourgeoisie weiss genau sowenig wie die Kleinbürger, was sie wirklich tut. Das Kapital unterliegt unmittelbar dem wirtschaftlichen Zwang und geht den Weg des geringsten Widerstandes.
Das Proletariat hat seinerseits in dieser Geschichte nicht direkt mitgespielt. Das deutsche Proletariat war geschlagen worden, und selbstverständlich konnte die Ausrottung der Juden erst nach seiner Niederlage erfolgen. Aber die sozialen Kräfte, die zu dieser Vernichtung drangen, existierten schon vor der Niederlage des Proletariats. Nach ihr konnten sie sich »verwirklichen«, da nun der Kapitalismus freie Bahn hatte.
Mit der wirtschaftlichen Liquidierung der Juden hat es dann begonnen[5]: Expropriation unter allen möglichen Formen, Ausschluss aus den freien Berufen, den Verwaltungen usw. Allmählich waren die Juden jeglicher Lebensgrundlage beraubt; sie lebten von den Reserven, die sie hätten retten können. Bis zum Kriegsausbruch besteht die Politik der Nazis den Juden gegenüber in zwei Worten: Juden raus! Alles wurde getan, um die Auswanderung der Juden zu fördern (sogar mit Hilfe der illegalen Einwanderung in Palästina!). Während aber die Nazis die Juden, mit denen sie nichts anzufangen wussten, loswerden wollten, während ihrerseits die Juden nichts anderes wünschten, als aus Deutschland herauszukommen, wollte man sie nirgends hereinlassen. Und dies erklärt sich so: niemand konnte sie hereinlassen, denn kein Land war imstande, mehrere Mil1ionen von ruinierten Kleinbürgern aufzunehmen und ihnen Lebensmöglichkeiten zu bieten. Nur eine kleine Anzahl der Juden konnte auswandern. Die meisten mussten bleiben, gegen ihren Willen und gegen den Willen der Nazis. Sie schwebten sozusagen in der Luft.
Mit dem imperialistischen Krieg hat sich die Lage zugleich quantitativ und qualitativ zugespitzt. Quantitativ, da der deutsche Kapitalismus, zum Abbau des Mittelstandes genötigt, um in seinen Händen das europäische Kapital zu konzentrieren, die Liquidierung der Juden sogar auf ganz Mittel- und Osteuropa ausdehnte. Der Antisemitismus hatte sich bewährt und war im Schwung. Dies entsprach übrigens dem einheimischen Antisemitismus der mittel- und osteuropäischen Länder, obwohl dieser komplexer war (ein abscheulicher Mischmasch von feudalem und imperialistischem Antisemitismus, den wir hier nicht genauer untersuchen können). Zugleich hat sich auch die Lage qualitativ zugespitzt. Die Lebensbedingungen waren durch den Krieg viel schwieriger geworden; die Reserven der Juden schmolzen zusammen, und sie waren dem mehr oder weniger baldigen Hungertod geweiht.
Zu »normalen« Zeiten und wenn es sich um eine kleine Anzahl handelt, kann der Kapitalismus die Menschen, die er aus dem Produktionsprozess stösst, allein krepieren lassen. Aber mitten im Krieg und bei Millionen von Menschen ist dies nicht möglich: ein solches Chaos hätte alles gelähmt. Der Kapitalismus musste ihren Tod organisieren.
Allerdings hat er sie nicht sofort getötet. Zuerst hat er sie ausser Verkehr gebracht, er hat sie umgruppiert, konzentriert. Er hat sie zu schwerer Arbeit gezwungen und unterernährt, d. h. er hat sie zu Tode ausgebeutet. Es ist eine alte Methode des Kapitals, den Menschen durch die Arbeit zu morden. Schon im Jahre 1844 schrieb Marx: »Der industrielle Krieg« (im Text bedeutet Krieg industrieller Kampf, Konkurrenz. IKP), »um mit Erfolg geführt zu sein, erfordert zahlreiche Armeen, die er auf denselben Punkt aufhäufen und reichlich dezimieren kann«[6]. Solange diese Leute noch lebten, mussten sie die Kosten ihres Lebens einbringen und zugleich auch die Kosten ihres Todes. Sie mussten Mehrwert erzeugen, solange sie dazu fähig waren. Denn selbst den Mord der von ihm verurteilten Menschen kann der Kapitalismus nur dann vollstrecken, wenn er Profit einbringt. So geht es auch im Krieg im allgemeinen.
Jedoch ist der Mensch zäh. Zu reinen Skeletten geworden, krepierten diese noch nicht schnell genug. Man musste sie abschlachten: jene, die nicht mehr arbeiten konnten, und dann jene, die man nicht mehr brauchte, weil ihre Arbeitskraft durch den ungünstigen Verlauf des Krieges keine Anwendung mehr fand.
Der deutsche Kapitalismus hat sich allerdings nur ungern zum einfachen Mord entschlossen. Nicht etwa aus moralischen Bedenken, sondern weil er nichts einbrachte. So entstand der Auftrag an Joel Brand[7], den wir hier erwähnen, weil er die Verantwortung des Weltkapitalismus klar offenbart. Joel Brand war einer der Leiter der Untergrundorganisation ungarischer Juden. Durch versteckte Unterkunft, illegale Auswanderung, Bestechung von SS-Leuten und alle möglichen Mittel versuchte diese Organisation, Juden zu retten. Das SS-Judenkommando duldete derartige Organisationen aufgrund von Bestechungen und auch, weil es nach Möglichkeit versuchte, sie als Helfershelfer für Sammel- und Auswahloperationen unter den Juden zu verwenden.
Im April 1944 wurde Brand aufs SS-Judenkommando von Budapest vorgeladen: Eichmann, der Leiter der Judenabteilung der SS, wollte ihn sprechen. Und Eichmann, mit Himmlers Zustimmung, beauftragte ihn, mit den Westmächten über den Verkauf von einer Million Juden in Verhandlung zu treten. Die SS verlangte dafür 10 000 Lastwagen, war aber zu jeder Schacherei, sowohl über Art wie über Menge der Tauschware, bereit. Um den Ernst ihres Angebots hervorzuheben, schlug sie die sofortige Lieferung von 100 000 Juden gleich nach der Zustimmung vor. Es war ein ernstes Geschäft.
Das Angebot war da, es gab aber leider keine Nachfrage: nicht nur die Juden, sondern die SS selbst war der »humanitären« Propaganda der Alliierten auf den Leim gegangen! Denn die Alliierten wollten die Million Juden nicht, weder für 10 000 Lastwagen, noch für 5000, nicht einmal umsonst.
Auf die Einzelheiten von Brands Misserfolgen können wir hier nicht eingehen. Er fuhr über die Türkei in den Nahen Osten, ging von einem englischen Gefängnis ins andere. Die Alliierten wollten die Sache nicht ernst nehmen und machten alles, um Brand in Verruf zu bringen und ihm das Wort abzuschneiden. Schliesslich traf Brand in Kairo den britischen Staatsminister für den Nahen Osten, Lord Moyne. Er flehte ihn an, ihm wenigstens ein schriftliches Einvernehmen zu übergeben, selbst mit der Absicht, es nicht einzuhalten: das würde doch 100 000 Menschenleben retten!
»Und wieviel sollen es insgesamt sein?«
»Eichmann sprach von einer Million.«
»Wie stellen Sie sich das bloss vor, Mister Brand ? Was soll ich mit dieser Million Juden tun? Wohin soll ich sie bringen? Wer wird die Leute nehmen ?« (…)
»Wenn der Planet keinen Platz für uns hat…«
- sagte Brand verzweifelt –,
»dann bleibt unseren Leuten nichts anderes übrig, als ins Gas zu gehen«.
Die SS hat das nicht gleich verstanden, so sehr glaubte sie an den »Idealismus« des Westens! Nach Brands Misserfolg und mitten im Massenmord hat sie noch versucht, dem Joint (Joint American Jews Comitee) Juden zu verkaufen, indem sie sogar einen »Vorschuss« von 1700 Juden in der Schweiz ablieferte. Aber ausser ihr hatte niemand es eilig, dieses Geschäft abzuschliessen.
Joel Brand selbst hatte begriffen, oder fast. Er sah, wie die Dinge standen, aber nicht warum. Es war nicht der Planet, der keinen Platz mehr hatte, sondern die kapitalistische Gesellschaft.
Und es gab keinen Platz für die Juden, nicht weil sie Juden, sondern weil sie aus dem Produktionsprozess ausgestossen, für die Produktion unnütz waren.
Lord Moyne wurde von zwei jüdischen Terroristen getötet, und Brand erfuhr später, dass er oft Mitleid für das tragische Schicksal der Juden gezeigt hatte: »Die Politik, die er führen musste, (war) ihm von einer seelenlosen Administration in London diktiert worden«, sagte Brand. Aber Brand hat nicht verstanden, dass diese Administration nur die des Kapitals ist und dass eben das Kapital das Unmenschliche ist. Das Kapital wusste mit diesen Leuten nichts anzufangen. Selbst mit den wenigen Überlebenden, jenen »Displaced Persons«, für die man keinen neuen Platz fand, wusste es nichts anzufangen.
Den überlebenden Juden ist es schliesslich gelungen, sich einen Platz zu schaffen. Mit Gewalt und dank der internationalen Konjunktur wurde der Staat Israel gegründet. Sogar das erforderte aber, dass andere Bevölkerungen »deplaciert« wurden: seitdem fristen Hunderttausende von Palästinensern ihr für das Kapital hinderliches Dasein in den Flüchtlingslagern.
Wir haben gesehen, wie der Kapitalismus Millionen von Menschen zu Tode verurteilte, indem er sie aus dem Produktionsprozess ausstiess. Wir haben gesehen, wie er sie umgebracht und ihnen dabei allen nur möglichen Mehrwert abgepresst hat. Wir müssen jetzt noch sehen, wie er sie sogar nach ihrem Tode weiter ausnutzt, wie er sogar ihren Tod selbst ausnutzt.
Zuerst haben die Imperialisten des alliierten Lagers sie benutzt, um ihren Krieg zu rechtfertigen und nach ihrem Sieg die gemeine Behandlung des Besiegten. Man hat sich auf die Lager und die Leichen gestürzt! Überall hat man die Greuelbilder herumgezeigt und gerufen: »Seht ihr, was für Schufte die Nazis waren! Wie Recht wir hatten, sie zu bekämpfen! Und wie Recht haben wir jetzt, ihnen das Leben sauer zu machen!«
Man denke an die unzähligen Verbrechen des Imperialismus; man denke z. B. daran, dass gerade am 8. Mai 1945, als in Frankreich Thorez, der ehemalige KPF-Führer, den Sieg über den Faschismus auskrähte, 145 000 Algerier, die die Avantgarde der antikolonialen Bewegung gegen den Imperialismus darstellten, unter dem Vorwand, faschistische Provokateure zu sein, niedergemetzelt wurden; man denke an die Verantwortung des Weltkapitalismus für alle diese Massaker – da packt einen der Ekel vor dem gemeinen Zynismus und der heuchlerischen Selbstzufriedenheit des siegreichen imperialistischen Blocks!
Gleichzeitig haben sich alle braven antifaschistischen Demokraten auf die Leichen der Juden gestürzt. Und sie schwenken diese Bilder vor den Augen des Proletariats. Selbstverständlich tun sie es nicht, um die Abscheulichkeit des Kapitalismus zu zeigen! Im Gegenteil, sie versuchen zu zeigen, wie schön die wahre Demokratie und der wahre Fortschritt des anderen Lagers ist, wie wohl es sich lebt in der renovierten kapitalistischen Gesellschaft! Vor dem Greuel des kapitalistischen Todes soll das Proletariat die Greuel des kapitalistischen Lebens vergessen und dass beide unzertrennlich miteinander verbunden sind. Vor den Experimenten der SS-Ärzte soll vergessen werden, dass der Kapitalismus im grossen Massstab mit Alkohol, mit krebserregenden Produkten, mit den Strahlungen der »demokratischen« Atombomben usw. experimentiert. Man zeigt die Lampenschirme aus Menschenhaut, damit vergessen wird, dass der Kapitalismus aus dem lebendigen Menschen, seiner Arbeitskraft, einen Lampenschirm macht. Vor den Bergen von Haaren, Goldzähnen, vor dem zur Ware gewordenen Körper des toten Menschen soll man vergessen, dass der Kapitalismus das Leben der Menschen selbst, die Arbeit, zur Ware gemacht hat. Hier ist die Quelle allen Unglücks. Dies hinter den Leichen der Opfer des Kapitals verstecken zu wollen, diese Leichen zum Schutz des Kapitals zu verwenden, das ist wirklich die abscheulichste Art, sie bis zu Ende auszunutzen.
Anmerkungen:
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Der Artikel erschien ursprünglich 1960 in »Programme Communiste«, unserem theoretischen Organ in französischer Sprache. Unmittelbarer Anlass war damals eine grossangelegte Kampagne der französischen Demokraten gegen den Antisemitismus. Für die jetzige Veröffentlichung der deutschen Übersetzung haben wir lediglich die einleitenden Sätze, die sich auf den damaligen Anlass bezogen, geändert, um sie unserem heutigen unmittelbaren Anlass, der abscheulichen Reue- und zugleich Selbstbeweihräucherungskundgebung der deutschen Bourgeoisie in diesem Herbst, anzupassen. [⤒]
Karl Marx, »Ökonomisch-philosophische Manuskripte«, »Marx und Engels Studienausgabe«, Fischer Taschenbuch Verlag (Bd. II, S. 38) bzw. MEW, Bd. 40, S. 471.[⤒]
Engels, »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie«, MEW Bd. 1, S. 519 ff [⤒]
Engels, »Über den Antisemitismus«, 1890, MEW Bd. 22, S. 50. [⤒]
Für Einzelheiten über die soziale Lage der Juden und deren wirtschaftliche Liquidierung siehe die inzwischen erschienenen bürgerlichen Untersuchungen:
Helmut Genschel, »Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich«, Göttingen 1966, und:
Dieter Swadek, »Unternehmenskonzentration als Ergebnis und Mittel nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik«, Berlin 1972, vor allem S. 88 ff. [⤒]Marx, op. cit., S. 49 bzw. MEW Bd. 40, S. 483.
Das Zitat ist auch nicht von Marx selbst, sondern Marx zitiert lediglich aus Eugène Buret’s Werk «La misère des classes laborieuses en France et en Angleterre» von 1841. Es lautet im Original:
«La guerre industrielle exige, pour être conduite avec succès, des armées nombreuses qu’elle puisse entasser dans le même lieu et décimer largement.» (sinistra.net)[⤒]Alex Weissberg, »Die Geschichte von Joel Brand«, 1956. Wörtliche Zitate aus Seite 215–216. Der Auftrag an Brand war Bestandteil einer Reihe von sich über Jahre erstreckenden Versuchen.[⤒]