13. 7. 1923
An die Genossen Sinowjew und Bucharin,
ich habe euren Brief bekommen und kann euch nicht genug für die Freundlichkeiten danken. Es tut mir leid, dass ich euren Wünschen dennoch nicht nachkommen kann.
Für euren Vorschlag, mich »auszutauschen«, danke ich euch und den anderen Genossen, aber aus verschiedenen Gründen bin ich dagegen. Meine Lage ist überhaupt nicht beunruhigend, und es ist gut möglich, dass ich bald freigelassen werde. Meine, wie ihr richtig bemerkt, in dem Fall in gewisser Hinsicht eingeschränkte Tätigkeit wäre eine Bedingung, die ich nicht akzeptieren kann. Schliesslich würde die Sache – von der italienischen Regierung angenommen oder, wie ich eher glaube, abgelehnt – die Sowjetregierung und auch die KPI dahingehend kompromittieren, dass die Lage der anderen gefangenen Genossen erschwert würde. Ein solches Mittel sollte man sich für womöglich eintretende schwerwiegende Fälle vorbehalten: jetzt steht es nicht im Verhältnis zum Zweck.
Hinsichtlich der… »italienischen Frage« bedauere ich, meine Auffassung nicht umfassend und vollständig darlegen zu können; was aber wohl auch nicht genauer zur Kenntnis genommen werden würde als die anderen Male – und wie ihr wisst, war ich nie sehr mit der Gründlichkeit, mit der das Thema untersucht wurde, zufrieden.
Während ihr mich und meine Freunde für etwas rühmt, was ich für – ich sage nicht: ein Verschulden, aber gewiss – eine »Schlappe« ansehe, d. h. gefangen genommen worden zu sein, übt ihr weiterhin eine Kritik, deren Berechtigung ich nicht einzusehen vermag. Die Kritik schmerzt mich sicher nicht aus persönlichem Stolz – ich hoffe, ihr gesteht mir das zu –, sondern ich sehe das, was ihr zur Situation in Italien und zur Funktion der Partei sagt, in völligem Widerspruch zu der Realität, wie ich sie begreife: wenn ich falsch liege, nachdem ich mich so lange mit ihr befasst habe, ist klar, dass von mir nichts mehr zu erwarten ist.
Die Divergenz hat sich noch vertieft: ich halte mich an die Formel, und sie soll hier genügen, »dass mit der maximalistischen Partei nichts auszurichten ist«. Eine praktische Zusammenarbeit mit der Partei ist unmöglich geworden; es tut mir leid, euch sagen zu müssen, dass ich meine Ansicht hierzu den Genossen der italienischen Exekutive mitgeteilt habe.
Ihr glaubt, mit dem Beitritt der Sozialistischen Partei in die Internationale einen grossen politischen Erfolg zu erringen; ich hingegen glaube, dass auch viele weitere Kongresse und Diskussionen über die italienische »vexata quaestio« [quälende Frage] in Moskau nicht zum Erfolg führen werden, aber dafür die normale – nicht, wie ihr sagt, prächtige – Entwicklung der KPI geopfert werden wird. Auf jeden Fall aber solltet ihr sehen, dass meine Anwesenheit an der Spitze der Partei mit euren Zielen unvereinbar ist, sei es, weil sich die Sozialisten niemals damit abfinden werden, sei es, weil ihr zu voreingenommen seid und es immer normal sein wird, die Misserfolge eurer Methode uns zuzuschreiben. So als ihr sagtet, wir hätten die Verschmelzung verhindert; ihr wisst, dass auf dem Kongress in Mailand niemand dafür gestimmt hat und das Argument der »43 %« könnt ihr nicht ernst gemeint haben. Ihr habt im Gegenteil, erlaubt es mir zu sagen, die Situation auf dem Kongress in Rom verstanden, wollt sie aber nicht anerkennen…
Seit Livorno [Gründungsort der KPI 1919] hat unsere »Schule« ein unverändertes Programm gehabt und versucht, es zu erfüllen. Der Dissens mit der KI [Kommunistische Internationale] hat dies behindert, ohne es durch ein anderes zu ersetzen; die gesamte schwerwiegende politische Erfahrung ist von den Genossen der Internationale zu schlecht ausgewertet worden, als dass darauf verzichtet werden könnte, ihre wirkliche Bedeutung festzuhalten. Ich halte es für meine Pflicht, alles zu tun, um euch zu zwingen, diese Diskussion gründlich zu führen und ich werde sie, sobald möglich, beginnen. Andere mögen indes die Führung der Partei übernehmen.
Verzeiht mir, dass ich mit der üblichen Offenheit gesprochen habe. Ihr sollt auch wissen, dass, wenn irgend etwas für die Sache der Revolution zu tun ist, was andere im entscheidenden Moment vielleicht zu schwer oder zu hart finden könnten, ihr immer auf meine bescheidenen Kräfte zählen könnt, trotz meiner Neigung zu »Fehlern« und zu dem, was ihr für uneinsichtige Starrköpfigkeit halten müsst.
Ich habe keine Gewissensbisse, denn auf dem Weg, den ihr in Italien entschlossen seid zu gehen (ich kann mich hier nicht mit der allgemeinen Linie der Internationale befassen und wahrscheinlich interessieren euch meine Beurteilungen auch nicht), wäre ich nur ein Hindernis, und es würde weiterhin unter Umständen gearbeitet werden, in denen allgemeine Unzufriedenheit herrscht und nichts Produktives hervorgebracht werden kann. Zum anderen habe ich keinerlei Vertrauen, dass dieser Arbeitsweise ein revolutionärer Erfolg beschieden sein wird.
Von Herzen erwidere ich eure Grüsse und bitte euch, mir eure Freundschaft nicht aufzukündigen, auch wenn ihr in mir ein »Hindernis« seht, etwas, was nie eure Sympathie besitzen kann. Aber manchmal kann ein Hindernis auch nützlich sein.
PS: Ich erhalte gerade (15. Juli) die Liste mit den neuen Parteiämtern. Ich muss euch ehrlich sagen, dass ihr, wie im Dezember mit der Verschmelzung, erneut »auf Sand gebaut« habt. Es gibt keine andere Lösung als: »Alle Macht der Minderheit«. Mit grosser Mühe habt ihr die Aufnahme unserer Delegierten durchgesetzt, aber ihr habt nicht die Situation verändert – und der Zustand der Partei wird noch schlimmer werden. Ich weiss wohl, dass ihr mich dafür verantwortlich macht…
Ich wünschte mir, dass ihr dieselbe Mühe aufwenden würdet, um das Problem auf höhere und organische Weise zu lösen und um diese aufreibende (gewöhnlich bezeichne ich das mit einem Wort, das euch nicht gefallen wird) »marchandage« [Kuhhandel] zu beenden.