Bestimmte Ausdrücke können in dem einen oder anderen Sinn verwendet werden. Sie führen daher sehr oft zu Missverständnissen, wenn man sie für die Darlegung der Probleme des Kommunismus benutzt. Das geschieht zum Beispiel mit den Begriffen Demokratie und demokratisch. Der wissenschaftliche Kommunismus ist seinem Wesen nach zugleich Kritik und Negation der Demokratie, andererseits verteidigen die Kommunisten oft den demokratischen Charakter der proletarischen Organisationen (Sowjetstaat, Gewerkschaft, Partei) und befürworten die Anwendung der Demokratie in diesen Organisationen. Darin liegt selbstverständlich kein Widerspruch. Und auch gegen die Gegenüberstellung von bürgerlicher Demokratie und proletarischer Demokratie lässt sich nichts einwenden, solange man darunter den Gegensatz von bürgerlicher Demokratie und proletarischer Diktatur versteht.
Die marxistische Kritik an den Grundsätzen der bürgerlichen Demokratie beruht auf der genauen Kennzeichnung der Wesenszüge der heutigen Gesellschaft. Die bestehende Produktionsweise selbst führt zu einer Teilung der Gesellschaft in Klassen. Diese Klassenteilung lässt sich durch die politische Gleichheit nicht aufheben. Eine Auffassung, welche die materiell begründete Klassenteilung mit der politischen Gleichheit vereinbaren möchte, ist daher – wie der Marxismus nachweist – theoretisch unhaltbar und praktisch ein Betrug.
Die liberale Ideologie meint, dass das Wahlrecht die politische Freiheit und Gleichheit verwirkliche. Aber von Freiheit und Gleichheit zu reden hat nur einen Sinn, wenn man von ökonomischen Bedingungen ausgeht, die im wesentlichen für alle gleich sind. Dies ist auch der Grund, weshalb wir Kommunisten die Anwendung des Wahlrechts innerhalb der proletarischen Klassenorganisationen akzeptieren und eine demokratische Funktionsweise für die Organisationen fordern. Mit dem Begriff Demokratie verbinden sich allerdings viele Illusionen, die wir mit Mühe zu zerstören versuchen. Es wäre daher wünschenswert, einen anderen Ausdruck zu verwenden, denn damit würden wir Missverständnissen vorbeugen und eine erneute Aufwertung des Begriffs Demokratie vermeiden. Auf jeden Fall ist es aber ratsam, den eigentlichen Inhalt des demokratischen Prinzips sowohl im allgemeinen als auch in seiner besonderen Anwendung auf Organisationen, die aus Mitgliedern einer einzigen Gesellschaftsklasse bestehen, näher zu untersuchen. So können wir der Gefahr entgehen, eine bestimmte »Kategorie« – in diesem Falle die Demokratie – zu einem Prinzip absoluter Wahrheit und Gerechtigkeit hoch zu stilisieren. Gerade heute, wo wir die Waffen der Kritik auf die ganze Lüge und Willkür der »liberalen« Theorien richten, um klare Fronten zu schaffen, gerade heute müssen wir es vermeiden, selbst einem solchen Apriorismus zu verfallen, der unserer Weltanschauung vollkommen fremd wäre.
I
Geht man einem Fehler in der politischen Taktik auf den Grund, so wird man immer einen theoretischen Fehler entdecken. Der theoretische Fehler ist sozusagen eine Übersetzung des politischen Fehlers in die Sprache unseres kritischen Bewusstseins. So hängt die verheerende Politik und Taktik der Sozialdemokratie mit einem prinzipiellen Fehler zusammen: Der Sozialdemokratie zufolge übernimmt der Sozialismus einen wesentlichen Bestandteil jener Auffassungen, mit denen die liberale Ideologie die alten, in der Religion begründeten politischen Doktrinen bekämpfte. In Wirklichkeit hat der marxistische Sozialismus jedoch die Kritik des demokratischen Liberalismus an dem Adel und der absoluten Monarchie des ancien régime keineswegs übernommen, um sie nachher zu vervollständigen. Im Gegenteil, er hat sie von vornherein voll und ganz zerstört. Um keine Missverständnisse im Hinblick auf unsere Orientierung aufkommen zu lassen, möchten wir allerdings sofort hinzufügen, dass es dem marxistischen Sozialismus dabei natürlich nicht um die Verteidigung der religiösen oder idealistischen Lehren gegen den aufklärerischen Materialismus der bürgerlichen Revolutionäre ging. Der Marxismus wollte nur nachweisen, dass die politische Philosophie der Enzyklopädie keineswegs zu einer Überwindung des idealistischen Unsinns und der metaphysischen Betrachtung der gesellschaftlichen und politischen Erscheinungen geführt hatte. Die Theoretiker des bürgerlichen Materialismus machten sich diesbezüglich nur Illusionen und konnten einer konsequent realistischen Kritik der Gesellschaft und der Geschichte, Marx’s historischen Materialismus, ebensowenig wie ihre Vorgänger standhalten.
Ein anderer theoretischer Aspekt ist hier sehr wichtig. Im Laufe ihrer Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Demokratie haben die Sozialdemokraten die Theorie der proletarischen Revolution so weit entstellt, dass ihr mächtiger revolutionärer Charakter völlig verwischt wurde.
Um ihr diesen Charakter zurückzugeben, bzw. um den Graben zwischen Sozialismus und bürgerlicher Demokratie zu vertiefen, muss man aber keineswegs die Prinzipien des Sozialismus in einem idealistischen oder neo-idealistischen Sinn revidieren[1]. Es genügt ganz einfach, auf die ursprüngliche Kritik unserer Meister an den Trugschlüssen der liberalen Auffassungen und der bürgerlichen materialistischen Philosophie zurückzugreifen.
Aber bleiben wir bei unserem Thema: Die Kritik des Sozialismus an der Demokratie war im Grunde eine Kritik an der demokratischen Kritik an den alten politischen Philosophien, eine Widerlegung des scheinbaren allgemeinen Gegensatzes zwischen jenen zwei Denkschulen, der Beweis ihrer theoretischen Verwandtschaft. Dies entsprach der praktischen Tatsache, dass das Proletariat sich vom Übergang der Staatsmacht von den Händen des Feudaladels, der Monarchie und des Klerus in diejenigen der jungen Handels- und Industriebourgeoisie nicht viel zu versprechen hatte. Der Nachweis, dass die neue, bürgerliche Philosophie die alten Fehler der despotischen Ordnung keineswegs überwunden, sondern an ihre Stelle eine Konstruktion aus neuen Irrtümern gesetzt hatte, entsprach der Entstehung der revolutionären Bewegung des Proletariats. Die Entstehung dieser Bewegung war die faktische Widerlegung der bürgerlichen Einbildung, mit dem allgemeinen Wahlrecht und dem Parlamentarismus ein politisches System errichtet zu haben, das für alle Ewigkeit eine friedliche und unbegrenzt vervollkommnungsfähige Leitung der Gesellschaft gewährleisten würde.
Die alten politischen Lehren beruhten auf religiösen Auffassungen und sogar auf dem Prinzip der göttlichen Offenbarung. Ihnen zufolge wurden das Bewusstsein und der Wille der Menschen von übernatürlichen Kräften gelenkt. Wenn bestimmte Individuen, Familien und Kasten das Gemeinwesen führen und regieren, so sei das darauf zurückzuführen, dass Gott ihnen diese Aufgabe erteilt hat, dass sie dank göttlicher Investitur die »Autorität« verkörpern. Dem entgegen verkündete die demokratische Philosophie, die sich Hand in Hand mit der bürgerlichen Revolution behauptete, dass alle Bürger, ganz gleich ob Adlige, Kirchenfürsten oder Plebejer, moralisch, politisch und rechtlich gleich seien. Die demokratische Philosophie wollte die »Souveränität« aus dem engen Kreis einer Kaste oder einer Dynastie lösen und der Allgemeinheit übertragen. Durch Befragung des Volkes auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts sollte die Mehrheit der Bürger nach ihrem Willen die Staatsherrscher ernennen.
Sehr lange schien der »Rationalismus« dieser politischen Philosophie das letzte Wort in der Gesellschaftswissenschaft und in der Staatskunst zu sein. Viele vermeintliche Sozialisten fühlten sich ihr verpflichtet, während sich die Priester aller Religionen und die religiösen Philosophen sehr heftig gegen sie wandten. Doch das alles darf uns nicht dazu verleiten, in dieser Auffassung den endgültigen Sieg der Wahrheit über die Finsternis zu erblicken. Die Behauptung, der zufolge seit Errichtung der Grundlagen für eine Regierungsbildung nach dem demokratischen Mehrheitsrecht die Zeit der »Privilegien« überholt sei, kann der marxistischen Kritik nicht standhalten, weil der Marxismus ein ganz anderes Licht auf die Natur der gesellschaftlichen Erscheinungen wirft.
In der Tat: Um sich von der Logik einer solchen Auffassung bestechen zu lassen, muss man davon ausgehen, dass alle Wählerstimmen, d. h. das Urteil, die Meinung, das Bewusstsein eines jeden Wählers, der die Macht für die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten delegiert, das gleiche Gewicht haben. Folgende Überlegung dürfte zunächst genügen, um zu zeigen, wie wirklichkeitsfremd und wie wenig »materialistisch« diese Auffassung ist. Sie betrachtet jeden einzelnen Menschen als vollkommene »Grundeinheit« eines Systems, das aus lauter solchen, an sich gleichen Einheiten besteht. Sie bewertet daher das Urteil des einzelnen Menschen nicht im Zusammenhang mit seinen jeweiligen Lebensbedingungen, d. h. mit seinen Beziehungen zu den anderen Menschen; stattdessen unterstellt sie, jedes Individuum bilde sein Urteil selbständig, »souverän«, und aus dieser unbegründeten Annahme folgert sie dann, das Urteil jedes Einzelnen habe die gleiche Einflusskraft. In der demokratischen Auffassung ist das Bewusstsein der Menschen also nicht die konkrete Widerspiegelung der Tatsachen und Zwänge seiner Umgebung. Sie versteht das Bewusstsein im Grunde als ein Lichtlein, das in jedem Menschen gleich brennt, im Kranken wie im Gesunden, im Geplagten wie in demjenigen, dessen Bedürfnisse harmonisch befriedigt werden. Aber wer sonst kann mit dieser Gerechtigkeit der Vorsehung in jedem Menschen ein solches Lichtlein entzündet haben, wenn nicht ein unbestimmter Lebensspender, irgendein Gott? Gott bestimmt zwar nicht mehr den Herrscher, aber stattdessen verteilt er diese Fähigkeit gleichmässig unter allen Bürgern. Die demokratische Ideologie erhebt den Anspruch des Rationalismus, in Wirklichkeit geht sie aber von Voraussetzungen aus, die von einer naiven Metaphysik gekennzeichnet werden. Darin unterscheidet sie sich kaum von der katholischen Religion, die den Menschen einen »freien Willen« unterstellt, von dessen Gebrauch Heil und Verdammung im Jenseits abhängen. Die demokratische Ideologie stellt sich also ausserhalb der Zeit und der geschichtlichen Bedingungen und ist damit dem Spiritualismus nicht minder verhaftet als die ebenso grundfalschen Philosophien, denen zufolge jede Autorität von Gott ausgeht und die Monarchien auf Gottesrecht beruhen.
Wer diesen Vergleich weiterführen möchte, müsste nur noch daran erinnern, dass die politische Doktrin der Demokratie bereits Jahrhunderte vor der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der grossen französischen Revolution von Denkern umrissen wurde, die sich ganz entschieden auf den Boden des Idealismus und der Metaphysik stellten. Im übrigen hat die französische Revolution die Altare des Christengottes im Namen der Vernunft gestürzt, konnte aber nicht umhin, aus dieser »Vernunft« selbst eine neue Gottheit zu machen.
Aber nicht nur die Auffassungen des bürgerlichen Liberalismus, sondern auch alle Verfassungslehren und alle Gesellschaftsentwürfe, die auf einem angeblich »immanenten Wert« bestimmter sozialer Verhältnisse oder Staatsformen beruhen, werden von dieser metaphysischen Prämisse gekennzeichnet, die sich mit der marxistischen Kritik absolut nicht vereinbaren lässt: Die marxistische Geschichtsauffassung zerstörte mit einem Schlag den mittelalterlichen Idealismus, den bürgerlichen Liberalismus und den utopischen Sozialismus.
II
Aber was setzte der kritische Kommunismus diesen willkürlichen Gesellschaftslehren entgegen, den aristokratischen wie den demokratischen, den autoritären wie den liberalen und auch den Vorstellungen, die sich der Anarchismus von einer Gesellschaft ohne Hierarchie und ohne Machtdelegierung macht, und die auf ähnlichen Irrtümern beruhen? Eine unvergleichlich gründlichere Untersuchung der inneren Beschaffenheit und der Wurzeln der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer komplexen Entwicklung im Laufe der Menschheitsgeschichte sowie eine genaue Untersuchung der Natur dieser Verhältnisse in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft und eine daraus abgeleitete Reihe von begründeten Hypothesen über die weitere Entwicklung, denen sich heute der grossartige theoretische und praktische Beitrag der proletarischen Revolution in Russland hinzufügt.
Es ist wohl entbehrlich, an dieser Stelle die wohlbekannten Prinzipien des ökonomischen Determinismus näher darzulegen und wieder ausführlich nachzuweisen, dass er eine begründete Erklärung für die geschichtlichen Ereignisse und den Gesellschaftsmechanismus liefert. Indem er von der Ebene der Produktion und Ökonomie und von den daraus resultierenden Klassenverhältnissen ausgeht, beseitigt der ökonomische Determinismus die konservativen und zugleich die utopistischen Apriori und ebnet den Weg für eine wissenschaftliche Erklärung der verschiedenen juristischen, politischen, militärischen, religiösen und kulturellen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens. Wie haben sich die Menschen im Laufe der Geschichte zu einer Gesellschaft zusammengeschlossen, wie sah ihre jeweilige Gesellschaftsordnung aus? Wir werden uns darauf beschränken, diese Entwicklung von Gesellschaftsformation zu Gesellschaftsformation in kurzen Zügen zu verfolgen. Es geht dabei allerdings nicht nur darum, wie sich diese Menschen zu einem Staatswesen, dieser abstrakten Darstellung einer Gemeinschaft, die alle Individuen vereinigen soll, organisierten, sondern auch um die verschiedenen Gebilde, die aus den Verhältnissen zwischen den Menschen entstehen.
Will man eine gesellschaftliche Hierarchie, ob sie nun einen engen oder breiten Rahmen hat, verstehen, so muss man von den Verhältnissen zwischen den verschiedenen Individuen ausgehen. Diese Verhältnisse beruhen ihrerseits auf Arbeitsteilung zwischen diesen Individuen.
Wir begehen keinen groben Fehler, wenn wir uns zunächst vorstellen, dass die ersten Menschen völlig ohne Organisation lebten. Sie waren nicht zahlreich und konnten deshalb unmittelbar von den Gaben der Natur leben, ohne Technik oder Arbeit auf sie anzuwenden. So konnte auch jeder leben, ohne auf seinen Nächsten angewiesen zu sein. Die einzigen vorhandenen Beziehungen waren die der Fortpflanzung, die allen Gattungen gemein sind. Doch für die Menschen (und übrigens nicht für sie allein) reichen diese Beziehungen schon aus, um ein Beziehungsgefüge und eine daraus resultierende Gliederung entstehen zu lassen: die Familie. Polygam, polyandrisch oder monogam (wir können hier auf diese verschiedenen Formen nicht näher eingehen), bildet die Familie einen Embryo organisierten gesellschaftlichen Lebens auf der Grundlage einer Aufgabenteilung. In diesem Fall erwächst die Aufgabenteilung unmittelbar aus dem physiologischen Bereich: Die Mutter pflegt die Nachkommenschaft und zieht sie gross, während der Vater der Jagd, dem Schutz vor äusseren Feinden usw. nachgeht.
Wie bei den nachfolgenden Entwicklungsphasen der Produktion und des Wirtschaftslebens, so hat es auch im Hinblick auf diesen Urzustand, wo man von Produktion und Wirtschaft kaum reden kann, keinen Sinn, sich bei der abstrakten Frage aufzuhalten, was nun die Einheit bilde, das Individuum oder die Gesellschaft. Biologisch stellt das Individuum zweifellos eine Einheit dar. Wenn es sich aber um eine Gesellschaftsformation handelt, dann ist es hirnverbrannte Metaphysik, vom Individuum auszugehen. Vom Standpunkt der Gesellschaft haben die Einzelnen nicht denselben Stellenwert. Die Gesellschaft selbst entsteht erst aus Beziehungen und Einreihungen, in denen Stellung und Tätigkeit jedes Einzelnen keinen individuellen, sondern einen kollektiven Charakter haben, denn sie sind eine Funktion des gesellschaftlichen Ganzen. Und selbst wenn keine organisierte Gesellschaft, ja überhaupt keine Gesellschaft vorhanden ist, wie in unserem elementaren Beispiel, selbst dann führen die physiologischen Gesetzmässigkeiten eine Organisation, die Familie, herbei. Schon diese Gesetzmässigkeiten widerlegen die unbegründete Vorstellung, das Individuum sei die unteilbare Einheit (das ist die wörtliche Bedeutung des Begriffs Individuum), bzw. die komplexeren Formen beruhten auf der Zusammensetzung von Individuen, die ihr in sich abgeschlossenes Wesen und ihren gewissermassen gleichen Stellenwert weiterhin behalten. Natürlich kann man in diesem Fall auch nicht von der Gesellschaft als einer Einheit reden. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, selbst die blosse Wahrnehmung der Existenz von Mitmenschen, sind äusserst begrenzt, sie gehen nicht über den Kreis der Familie oder des Clans hinaus. Eine Schlussfolgerung, die sich von selbst aufzwingt, können wir hier vorwegnehmen, nämlich dass die Gesellschaft noch nie eine »Einheit« war; selbst in der Zukunft wird sie es nur als »Grenzwert« sein, dem man sich durch die Aufhebung der Klassen und der Staatsgrenzen allmählich wird annähern können.
Nimmt man das Individuum als solches zum Ausgangspunkt für die Untersuchung der Gesellschaft und den Aufbau von Gesellschaftslehren, oder meinetwegen für die Negation der Gesellschaft, so geht man von einer wirklichkeitsfremden Voraussetzung aus, die auch in den modernsten theoretischen Versuchen im Grunde nichts anderes darstellt, als eine modifizierte Wiedergabe von Begriffen wie göttliche Offenbarung, Schöpfung, Unabhängigkeit des geistigen Lebens vom Bereichen der Natur und des Organischen.
In der religiös-idealistischen Auffassung soll Gott bzw. eine allmächtige Kraft, die das Schicksal der Welt lenkt, jedes Individuum mit einer Seele versehen und aus ihm dadurch ein selbständiges, abgeschlossenes, bewusstes, willensfähiges und mündiges Molekül der Gesellschaft gemacht haben. Die materiellen Bedingungen und Hindernisse sollen dabei keine Rolle spielen. So entschlossen »materialistisch« sich die ersten liberalen Bourgeois und die Anarchisten vorgewagt haben mögen: Mit dem demokratischen Liberalismus und dem anarchischen Individualismus wird diese Auffassung nur anders verkleidet. An die Stelle der Seele, des göttlichen Funkens, treten nur andere philosophische Phrasen, die im Lichte der marxistischen Kritik unter derselben infantilen Naivität leiden: die subjektive Souveränität des Wählers, bzw. die unbegrenzte Selbständigkeit des Bürgers einer gesetzlosen Gesellschaft.
Dem Begriff der Seele entspricht die gleichsam idealistische Unterstellung, die Gesellschaft sei eine vollkommene Einheit. Es handelt sich um eine Art gesellschaftlichen »Monismus« auf der Grundlage des göttlichen Willens, der das Leben unserer Gattung lenken und verwalten soll. Als wir uns weiter oben mit dem Urzustand des gemeinschaftlichen Lebens befassten und auf die Familienorganisation stiessen, mussten wir zum Ergebnis kommen, dass man bei der Untersuchung des Lebens und des Entwicklungsprozesses der Menschheit nicht fortschreiten kann, wenn man von der metaphysischen Hypothese ausgeht, dass das Individuum oder die Gesellschaft die eigentliche »Einheit« bilden. Wir können andererseits auch eine positive Behauptung aufstellen:
Wir finden ein auf einheitlicher Grundlage organisiertes Kollektiv, die Familie, vor. Heisst das, dass wir wie die Anarchisten angesichts des Individuums oder die Anhänger der absoluten Monarchie angesichts der Standesordnung die Familie als eine unveränderliche und ewige Grundform betrachten oder zum Modell des gesellschaftlichen Zusammenlebens verklären dürfen? Selbstverständlich nicht. Wir stellen lediglich die Existenz dieser Ureinheit menschlicher Organisation fest. Ihr werden andere Formen folgen, sie selbst wird sich in vielerlei Hinsicht verändern und als Bestandteil in andere Gemeinwesen eingehen. Es ist sogar anzunehmen, dass die Familie in einer höheren Gesellschaft verschwinden wird. Wir verspüren nicht das geringste Bedürfnis, aus Prinzip für oder gegen die Familie oder z. B. auch für oder gegen den Staat zu sein. Uns geht es darum, den Sinn der Entwicklung dieser Form menschlicher Organisation so gut wie möglich zu begreifen. Wenn wir uns fragen, ob sie eines Tages verschwinden wird, so tun wir das so unvoreingenommen wie es eben geht, denn es entspricht nicht unserer Denkweise, sie als heilig und unantastbar oder umgekehrt als schädlich und zerstörungswürdig zu betrachten. Das ist Sache des Konservatismus und seiner Kehrseite (d. h. der Negation jeder Form gesellschaftlicher Organisation und hierarchischer Gliederung), die beide theoretisch gleich schwach sind und in der Praxis zu keinem Ergebnis führen.
Wir lassen also die herkömmliche Gegenüberstellung der Kategorien Individuum und Gesellschaft beiseite und verfolgen die Bildung und Entwicklung anderer Einheiten, d. h. anderer organisierter Gemeinschaftsformen im Laufe der Geschichte der Menschheit. Es handelt sich um mehr oder weniger ausgedehnte Gruppierungen von Menschen auf der Grundlage einer Arbeitsteilung und einer hierarchischen Gliederung. Diese Gruppierungen treten als Träger und handelnde Faktoren des gesellschaftlichen Lebens auf. In einem bestimmten Sinne kann man sie mit den organischen Einheiten, den Lebewesen, vergleichen, in denen die Zellen verschiedene Funktionen erfüllen und jeweils einen anderen Stellenwert haben. Hier hätten wir anstelle der Zellen die einzelnen Menschen und die Grundgruppen von Menschen. Aber auch dieser Vergleich hinkt, denn das Lebewesen ist in sich genau abgegrenzt und macht eine biologische Entwicklung durch, an deren Ende es stirbt. Anders die organisierten gesellschaftlichen Einheiten. Sie werden durch keine festen Umrisse in sich abgegrenzt, sondern verflechten sich miteinander, zersetzen sich und setzen sich in einem Prozess ständiger Erneuerung gleichzeitig wieder zusammen.
Unser erstes Beispiel, die Familie, liegt auf der Hand, um das wesentliche hervorzuheben. Die Familie besteht zwar selbstverständlich aus Individuen und setzt sich von Fall zu Fall anders zusammen. Aber die Familie ist eine Einheit, die einen Ganzheitscharakter besitzt, als organisches »Ganzes« auftritt. Die Zergliederung der Familie in individuelle Einzeleinheiten ist eine leere Abstraktion, die höchstens für die Mythologie von Belang sein kann. Die Familie ist ein Element, dessen Leben einen Einheitscharakter besitzt, aber dieser Charakter wird nicht durch die jeweilige Anzahl der Einzelmenschen bestimmt, die in einer Familie zusammengefasst sind, sondern durch das Netz ihrer wechselseitigen Beziehungen. Andererseits kann man anhand eines banalen Beispiels feststellen, wie unterschiedlich der Wert einer Familie sein kann: Es genügt, eine Familie, die sich aus Oberhaupt, Frauen und einigen untauglichen Greisen zusammensetzt, mit einer anderen, die neben dem Oberhaupt noch einige junge und arbeitsfähige Söhne zählt, zu vergleichen.
Schon in dieser ersten, aus Einzelmenschen gebildeten Einheit treten Formen von Aufgabenteilung, von Hierarchie, von Autorität, von Leitung der Tätigkeit der Einzelnen und von Verwaltung auf. Im Laufe der Entwicklung durchlaufen die Menschen unzählige andere Organisationsformen, die immer breiter und komplexer sind und mit einer immer komplexeren Gliederung der gesellschaftlichen Beziehungen und Hierarchien zusammenhängen. Gehen wir der Ursache für diese zunehmende Komplexität nach, so können wir feststellen, dass sie mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung einhergeht: Grössere handwerkliche Fertigkeit und bessere Erkenntnisse erlauben die Einführung neuer Produktionssysteme und damit eine Entfaltung der Produktion (im weitesten Sinne des Wortes); die Befriedigung der Bedürfnisse von grösseren und fortgeschritteneren Gemeinschaften, der Übergang zu höheren Lebensformen, wird dadurch möglich. Die zunehmende gesellschaftliche Differenzierung ist eine direkte Folge neuer Produktionssysteme.
Will man den Entstehungs- und Transformationsprozess der menschlichen Organisationen und ihre Wechselbeziehungen innerhalb der Gesamtgesellschaft verstehen, so muss man die Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse, d. h. der Verhältnisse, welche die Menschen infolge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung untereinander eingehen, zum Ausgangspunkt der Untersuchung nehmen. Aufgrund einer solchen Untersuchung kann man die Entstehung und Laufbahn der Dynastien, Kasten, Armeen, Staaten, Reiche, Zünfte und Parteien verfolgen. Es ist denkbar, dass auf dem Höhepunkt dieser komplexen Entwicklung ein einheitlich organisiertes Gemeinwesen bestehen wird, das die ganze Menschheit umfasst und alle Menschen in eine rationale Aufgabenteilung einbezieht. Man kann auch die Frage erörtern, welche Bedeutung und welche Grenzen eine hierarchische Gliederung der kollektiven Verwaltung in dieser höheren Form menschlichen Zusammenlebens haben wird.
III
Wir müssen nun aber bald zur Untersuchung jener organisierten Vereinigungen übergehen, deren innere Beziehungen auf dem beruhen, was man gemeinhin das »demokratische Prinzip« nennt. Wir führen deshalb eine Vereinfachung ein und teilen die organisierten Gemeinschaften in zwei Sorten ein: solche, die ihre Hierarchie von aussen erhalten, und solche, die ihre Hierarchie von sich aus und aus ihren eigenen Reihen bilden. Für die Religion und die reine Obrigkeitslehre soll jede Gesellschaft eine Einheit bilden, die ihre Hierarchie von übernatürlichen Mächten erhält. Es ist überflüssig, die Kritik an einer solchen metaphysischen Versimpelung weiterzuführen, denn sie wird ohnehin von der ganzen menschlichen Erfahrung widerlegt. Die Hierarchie entsteht automatisch aus der Notwendigkeit einer Aufgabenteilung. Auch in der Familie war es natürlich so. Wenn diese sich zur Sippe und zum Stamm weiterbildete, musste sie sich zum Kampf gegen andere Organisationen organisieren. Die Führung wurde zweckmässigerweise denjenigen übertragen, welche die gemeinsamen Anstrengungen am besten koordinieren konnten. Daraus entstanden militärische Hierarchien. Könige, Heeresführer und Priester wurden ursprünglich gewählt: Jahrtausende vor der Entstehung des modernen demokratischen Wahlfimmels bestimmte das gemeinsame Interesse die Wahl. Dieses Kriterium für die Bildung von Hierarchien wurde später verdrängt. Die abstammungsmässige Vererbung und die Zugehörigkeit zu geschlossenen Schulen, Sekten und Kulten gewannen die Oberhand und führten zur Bildung von Kastenprivilegien. Wer aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten und Funktionen einen Posten besass, hatte in der Regel auch den grössten Einfluss auf die Bestimmung seines Nachfolgers. Wir haben, wie gesagt, nicht vor, den Entstehungsprozess der Kasten und später der Klassen in der Gesellschaft im einzelnen zu verfolgen. Die logische Notwendigkeit einer Aufgabenteilung verwandelte sich in ein Macht- und Einflussmonopol in den Händen jener Schichten von Individuen, die eine privilegierte Stellung im ökonomischen Mechanismus einnahmen. Jede herrschende Kaste bildete auf diese oder jene Weise ihre eigene Organisation und Hierarchie. Dasselbe trifft für die ökonomisch privilegierten Klassen zu. Wir beschränken uns auf ein einziges Beispiel: Der Landadel des Mittelalters verband sich, um das gemeinsame Privileg gegen die Angriffe anderer Klassen zu verteidigen. Damit entstand eine Organisationsform, die in der Monarchie ihren vollendeten Ausdruck fand. Die Monarchie fasste die ganze öffentliche Gewalt in ihren Händen zusammen, die anderen Bevölkerungsschichten hatten an dieser Gewalt keinen Anteil. Im Mittelalter war der Staat die Organisation des Feudaladels, der vom Klerus unterstützt wurde. Das wichtigste Herrschaftsinstrument dieser militärischen Hierarchien war das Heer. Damit gelangen wir zu einem Organisationstyp, dessen Hierarchie von aussen bestimmt wird. Das Heer beruht auf dem passiven Gehorsam all seiner Mitglieder, die Heeresführer werden vom König ernannt. Die Macht, eine Reihe von hierarchisch gegliederten Exekutivorganen, wie Heer, Polizei, Gerichtswesen und Bürokratie zu besetzen und zu lenken, wird in jeder Staatsform vereinheitlicht und zentralisiert. Der Staat ist eine organisierte Einheit, die sich der Tätigkeit von Individuen aller Klassen bedient. Er beruht aber auf einer einzigen oder auf wenigen privilegierten Klassen, denen die Gewalt, die verschiedenen Hierarchien aufzubauen, vorbehalten bleibt. Die anderen Klassen und im allgemeinen alle Gruppen von Individuen, denen das naheliegende klar wird, nämlich dass die vorhandene Staatsorganisation trotz gegenteiligen Anspruchs keineswegs die Interessen und Bedürfnisse aller vertritt, versuchen, eigene Organisationen zu bilden, um ihre Interessen durchzusetzen. Der Ausgangspunkt solcher Organisationen ist die einfache Feststellung der gemeinsamen Lage ihrer Mitglieder in der Produktion und im Wirtschaftsleben.
Wenn wir uns mit jenen Organisationen befassen, die ihre Hierarchien selbst bilden, können wir allerdings die Frage stellen, wie diese Hierarchie zu ernennen sei, um die gemeinsamen Interessen aller Organisationsmitglieder am besten zu wahren bzw. um die Herausbildung von privilegierten Schichten innerhalb der betreffenden Organisation zu vermeiden. Hier stossen wir wieder auf das Verfahren, das auf dem demokratischen Prinzip beruht: Alle einzelnen Mitglieder sollen befragt werden, die Posten der Hierarchie sind durch Mehrheitsentscheidung zu besetzen.
Wenn es darum geht, die ganze Gesellschaft, so wie sie heute besteht, oder bestimmte Nationen auf die Anwendung dieser Methode zu verpflichten, muss unsere Kritik viel härter ausfallen, als wenn es um deren Einführung in viel engeren Organisationen wie den proletarischen Gewerkschaften und Parteien geht.
Die erste Auffassung ist völlig aus der Luft gegriffen und damit ohne weiteres zu verwerfen. Sie berücksichtigt überhaupt nicht die Stellung der Einzelnen im Wirtschaftsleben und betrachtet das demokratische Verfahren nicht im Zusammenhang mit dem Entwicklungsprozess der jeweiligen Gesellschaft, sondern als etwas Selbständiges und an sich Vollkommenes.
Da die Gesellschaft in Klassen geteilt ist, die sich infolge von ökonomischen Privilegien krass voneinander unterscheiden, können Mehrheitsentscheidungen keine Bedeutung haben. Der demokratische und parlamentarische Staat liberaler Verfassung erhebt den Anspruch, eine Organisation aller Bürger im Interesse aller Bürger zu sein. Das ist ein Betrug. Solange Interessengegensätze und Klassenkämpfe bestehen, ist keine Organisationseinheit möglich. Obwohl ein Schein von Volkssouveränität zur Schau getragen wird, bleibt der Staat das Organ der ökonomisch herrschenden Klasse und das Instrument zum Schutz ihrer Interessen. Obwohl in der bürgerlichen Gesellschaft die politische Vertretung (die parlamentarischen Organe) demokratisch gewählt werden, betrachten wir diese Gesellschaft als einen Komplex aus verschiedenen anderen Organisationen und Vereinigungen. Viele davon werden von den privilegierten Schichten gebildet und verfolgen die Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Sie schliessen sich daher um die mächtige und zentralisierte Organisation des Staatsapparates zusammen. Andere verhalten sich neutral oder ändern von Fall zu Fall ihre Haltung gegenüber dem Staat. Andere schliesslich entstehen innerhalb der besitzlosen und ökonomisch ausgebeuteten Klassen; sie richten sich gegen den bestehenden Klassenstaat. Der Staat hat also keineswegs den Charakter einer Vereinigung aller Bürger oder der ganzen Nation. Und daran können die politische und rechtliche Gleichheit aller Bürger, die formale Anwendung des demokratischen Prinzips bzw. des Mehrheitsrechts überhaupt nichts ändern, weil eine ökonomisch bedingte Klassenteilung besteht. Die politische Demokratie gibt offiziell vor, einen Staat aller Bürger errichtet zu haben. In Wirklichkeit ist sie jedoch die Staatsform, die sich für die Herrschaft der kapitalistischen Klasse und die Aufrechterhaltung ihrer Privilegien besonders gut eignet. Sie ist die spezifische Form der bürgerlichen Diktatur im echtesten Sinne des Wortes.
Es ist deswegen nicht notwendig, die vernichtende Kritik des Marxismus an dieser falschen Auffassung noch weiter auszuführen. Wer ist der Wähler? Ein durch körperliche Überanstrengung erschöpfter Arbeiter oder ein reicher Nichtstuer, ein gerissener Industrieunternehmer oder ein Proletarier, der tief im Elend steckt, aber die Ursachen seiner Leiden nicht kennt und keinen Ausweg erblickt? Danach fragt die Demokratie nicht. Sie geht davon aus, dass alle »Wählerstimmen« gleichermassen unabhängig und reif sind. Von Zeit zu Zeit wird man aufgefordert, die »souveräne« Funktion der Stimmabgabe zu erfüllen. Ruhe und Gehorsam sollen damit gesichert sein, auch wenn man unter den Folgen staatlicher Unterdrückung und Ausplünderung und behördlicher Willkür zu leiden hat.
IV
Wie wir gesehen haben, hat das demokratische Prinzip keinen Wert an sich. Als Prinzip ist es absolut untauglich. Es handelt sich eher um einen einfachen Organisationsmechanismus, der auf einer banalen arithmetischen Regel beruht: Die Mehrheit hat Recht und die Minderheit Unrecht. Schauen wir uns jetzt an, wie es mit der Anwendung dieses Mechanismus im zweiten Fall steht, d. h. in Organisationen, die Klassenumrisse haben und durch keine inneren ökonomischen Gegensätze zerrissen sind. Ist dieser Mechanismus hier nützlich? Reicht er aus? Wir müssen diese Organisationen in ihrem historischen Entwicklungsprozess untersuchen.
Nach dem revolutionären Sieg der unterdrückten Klassen über die bürgerliche Staatsmacht wird eine Diktatur des Proletariats errichtet. Ist der demokratische Mechanismus hier anwendbar? Werden in dieser Staatsform die politischen Vertretungen und Hierarchien so gebildet, dass man von einer »proletarischen Demokratie« reden kann? Wir müssen diese Frage ohne Vorurteile betrachten. Nehmen wir an, wir kommen zu dem Schluss, dass dieser Mechanismus, solange die geschichtliche Entwicklung selbst kein besseres Verfahren hervorbringt, doch auf eine bestimmte Art und Weise gut anwendbar sei. Es gibt dennoch keinen Grund dafür, die Souveränität der »Mehrheit« des Proletariats zum Prinzip zu erheben. Darüber muss man sich im klaren sein. Nach dem Sieg der Revolution ist das Proletariat noch keine völlig homogene Klasse. Es handelt sich nicht einmal um eine einzige Klasse. In Russland z. B. liegt die Macht in den Händen der Arbeiter und Bauern, wenn man aber die ganze Entwicklung der revolutionären Bewegung auch nur flüchtig betrachtet, dann wird man sofort feststellen, dass das Industrieproletariat, obwohl es viel weniger zahlreich als die Bauernschaft ist, eine viel wichtigere Rolle spielt. So ist es logisch, wenn in den Sowjets, im Rätesystem, eine Arbeiterstimme ein viel grösseres Gewicht als eine Bauernstimme hat. Wir werden hier die Wesenszüge der Verfassung des proletarischen Staates nicht im einzelnen untersuchen. Wir betrachten diesen Staat auf jeden Fall nicht als etwas absolutes, wie etwa die Reaktionäre die Monarchie aus göttlichem Recht, oder die Liberalen den Parlamentarismus mit allgemeinem Wahlrecht bzw. die Anarchisten die Staatslosigkeit betrachten. Der proletarische Staat ist die Organisation einer Klasse zum Kampf gegen andere Klassen, deren ökonomische Privilegien abgeschafft werden müssen. Er ist eine materielle Kraft in der Geschichte und muss sich seinen Zielen, d. h. den Notwendigkeiten, die ihn hervorriefen, anpassen. Das kann unter bestimmten Umständen durch die breiteste Massenabstimmung, unter anderen Umständen wiederum durch die Entscheidung eines sehr kleinen und mit uneingeschränkter Vollmacht versehenen Exekutivkomitees gewährleistet werden. Das wesentliche ist, dass diese proletarische Gewaltorganisation über die Mittel und Waffen zur Zerschlagung des politischen und militärischen Widerstandes der Bourgeoisie und zur Ausradierung ihrer ökonomischen Privilegien verfügen muss. Nur so kann sie die Abschaffung der Klassen einleiten und den Boden für eine immer tiefere Transformation ihrer eigenen Struktur und Funktion vorbereiten.
Die bürgerliche Demokratie verfolgt in Wirklichkeit das alleinige Ziel, jeden Einfluss der grossen proletarischen und kleinbürgerlichen Massen auf die Staatsführung auszuschliessen. Diese ist den grossen Oligarchien der Industrie, der Finanzen und des Grundbesitzes vorbehalten. Die proletarische Diktatur hingegen muss die breitesten Schichten der proletarischen und auch halbproletarischen Massen in den Kampf, den sie verkörpert, einbeziehen. Diesen Punkt muss man festhalten. Die Verwirklichung dieses Ziels ist aber nicht mit der Schaffung eines alles umfassenden Wahlsystems gleichzusetzen. Nur wer unter dem Einfluss bürgerlicher Vorurteile steht, kann eine solche Gleichung aufstellen. Ein derartiges Wahlsystem kann zuviel des Guten sein, noch öfters ist es aber zu wenig. Viele Proletarier würden sich auf die Wahlbeteiligung beschränken und jeder weiteren aktiven Teilnahme am Klassenkampf enthoben fühlen. Zum anderen verlangt die Verschärfung des Kampfes in manchen Phasen prompte Entscheidungen und Reaktionen bzw. die Zentralisierung aller Kräfte in eine einzige Stossrichtung. Um diese Bedingungen herzustellen, vollzieht der proletarische Staat einen direkten Bruch mit den Regeln der Demokratie. Dieser Bruch kommt in der gesamten Verfassung des proletarischen Staates zum Ausdruck, wie uns die lehrreichen Erfahrungen in Russland zeigen. Deshalb jammern die Anbeter der bürgerlichen Demokratie ja auch, dass dort die Freiheit vergewaltigt wird. In Wirklichkeit werden ganz einfach die spiessbürgerlichen Vorurteile und die Demagogie entlarvt, die immer nur dem Schutz der bürgerlichen Macht gedient haben. Die proletarische Diktatur fasst die beratende und die ausführende Funktion in einheitliche Staatsorgane zusammen. Wenn nicht überhaupt die ganze Masse der Stimmberechtigten, so beteiligt sich mindestens eine breite Schicht ihrer Delegierten ständig und nicht nur von Zeit zu Zeit an den Funktionen des politischen Lebens. Durch diese aktive Teilnahme wird der einheitliche Charakter der Aktion des gesamten Apparates nicht gefährdet, sondern gestärkt. Es ist bemerkenswert, dass diese Beteiligung nach Kriterien erfolgt, die denjenigen des bürgerlichen Liberalismus entgegengesetzt sind. So wurden die Direktwahlen und die proportionale Vertretung im Wesen abgeschafft, ganz abgesehen davon, dass die andere heilige Kuh, die Stimmengleichheit, auch abgeschlachtet wurde, wie wir gesehen haben.
Wenn die Wahl der politischen Vertreter nach diesen neuen Kriterien erfolgt und diese in einer Verfassung verankert sind, so will das natürlich nicht heissen, dass darin etwas Prinzipielles zu erblicken sei. Unter anderen Umständen können sich die Kriterien verändern. Auf jeden Fall möchten wir klarstellen, dass für uns diese Organisations- und Vertretungsformen keinen inhärenten Wert haben. Unsere Ausführungen kommen in einer marxistischen Grundthese sinngemäss wie folgt zum Ausdruck: »Die Revolution ist nicht eine Frage von Organisationsformen.« Die Revolution ist im Gegenteil eine Frage des Inhalts. Es geht um die Bewegung und Aktion der revolutionären Kräfte, die einen unaufhörlichen Prozess durchmachen. Der wirkliche Gang der Revolution lässt sich in keinem dieser verschiedenen Entwürfe von starren »Verfassungslehren« idealtypisch festlegen.
In den Arbeiterräten finden wir überhaupt nicht mehr jene typische Regel der bürgerlichen Demokratie, derzufolge jeder Bürger durch Direktwahl seinen Abgeordneten in das oberste Vertretungsorgan, d. h. ins Parlament, wählt. Es gibt im Gegenteil verschiedene Stufen von Räten. Jede höhere Stufe erfasst eine immer grössere territoriale Einheit, bis hin zum Rätekongress. Die Orts- und Bezirkssowjets wählen ihre Delegierten für den höherstehenden Rat und zugleich ihre eigene Verwaltung, d. h. das jeweilige Exekutivorgan. An der Basis, d. h. in den untersten Räten von Stadt und Land, wird die ganze Masse befragt. Die Wahl der Delegierten für die höheren Räte und für die anderen Posten erfolgt dann aufgrund von Parteilisten, und zwar immer als Mehrheits- und nicht als Proportionalwahl. Da es sich im übrigen meistens um die Wahl eines einzigen Delegierten handelt, der die Verbindung zwischen einer unteren und einer oberen Stufe des Rätesystems bilden soll, werden zugleich zwei Dogmen des formalen Liberalismus sichtbar gestürzt, nämlich die Listenwahl und das Proportionalwahlrecht. Auf jeder Stufe sollen die Räte nicht bloss beratende, sondern auch ausführende Körperschaften darstellen, die eng mit den zentralen Ausführungsorganen verbunden sind. Parlamentarische Schwätzerbuden, wo ununterbrochen diskutiert und niemals gehandelt wird, sind deshalb verständlicherweise untragbar. Je höher das Vertretungsorgan steht, desto enger und kompakter muss es sein, um die Aktion, den politischen Kampf und den gemeinsam revolutionären Vorstoss der ganzen Masse, die auf die geschilderte Weise zusammengefasst wird, leiten zu können.
Hinzu kommt die politische Partei, die in diesem Mechanismus eine bei weitem erstrangige Rolle spielt. Die Vorzüge, die sich aus der Präsenz der politischen Partei für das Rätesystem ergeben, kann keinen Verfassungsentwurf von sich aus bringen, denn die Partei wird nicht durch die reine Organisationsform, sondern durch den Inhalt bestimmt. Die Partei verfügt über ein militantes kollektives Bewusstsein und über einen militanten kollektiven Willen. Sie kann die Arbeit daher mit Rücksicht auf die Notwendigkeiten eines langen und ständig fortschreitenden Prozesses planen. Die Partei ist dasjenige Organ, das den Wesenszügen einer einigen und einheitlichen, solidarisch handelnden Gemeinschaft am nächsten kommen kann. Sicher umfasst die Partei nur eine Minderheit aus der Masse. Vergleicht man aber die entscheidenden Merkmale der Partei mit denjenigen aller anderen, auf einer viel breiteren Basis beruhenden Organisationen, so wird man feststellen können, dass die Partei die kollektiven Interessen und die Gesamtbewegung des Proletariats am besten vertritt. Während sich das Gros der Massen darauf beschränkt, sich mit den unmittelbar auftretenden Problemen bewusst zu beschäftigen, beteiligen sich alle Mitglieder der kommunistischen Partei kontinuierlich an der Ausführung der gemeinsamen Aufgaben und an der Vorbereitung der Lösung aller Probleme des Kampfes und des ökonomischen Aufbaus. Da das Vertretungssystem des proletarischen Staates nicht auf dem demokratischen Betrug beruht, sondern auf derjenigen Klasse der Bevölkerung, die von ihren grundlegenden kollektiven Interessen zum revolutionären Kampf getrieben wird, ist es nur natürlich, dass die Massen spontan die Kandidaten wählen, die von der revolutionären Partei vorgeschlagen werden: Diese hat bewiesen, dass sie für den revolutionären Kampf gewappnet ist und sich gründlich vorbereitet hat, um die Probleme, die dieser Kampf stellt, zu lösen.
Wir werden weiter unten kurz zeigen, dass nicht einmal die Partei diese Fähigkeiten ganz einfach entfaltet, weil sie sich nach besonderen Organisationsregeln bildet. Die Partei kann ihrer Rolle von Antriebskraft der revolutionären Aktion des Proletariats gewachsen sein oder auch nicht. Natürlich reden wir hier nicht von politischen Parteien im allgemeinen, sondern von der kommunistischen Partei, die als einzige eine solche Funktion erfüllen kann. Aber selbst die kommunistische Partei ist nicht gegen die vielen Gefahren der Degenerierung und der Auflösung gefeit. Jene positiven Eigenschaften, die die Partei besitzen muss, um ihren Aufgaben gewachsen zu sein, werden weder von Statuten noch von blossen internen Organisationsmassnahmen erzeugt. Vielmehr nehmen sie im Laufe des Entwicklungsprozesses der Partei und durch ihre Beteiligung an den Kämpfen des Proletariats Gestalt an, festigen sich als gemeinsame Orientierung auf der Grundlage einer Geschichtsauffassung und eines Grundsatzprogramms und treten somit als kollektives Bewusstsein und zugleich als verlässliche Disziplin der Organisation mit scharfen Konturen zutage. Diese Auffassungen sind dem Leser aus den »Thesen über die Taktik« des II. Kongresses der Kommunistischen Partei Italiens, wo sie näher dargelegt werden, bekannt.[2]
Aber kommen wir auf die Natur des verfassungsmässigen Mechanismus der proletarischen Diktatur zurück. Wir haben gesagt, dass die Räte auf den verschiedenen Stufen zugleich legislative und exekutive Organe sind. Es sind die Funktionen und Initiativen von Exekutivorganen mit bestimmten Aufgaben im kollektiven Leben, die zur Entstehung der Räte führen und die Verhältnisse innerhalb ihres elastischen und sich ständig entwickelnden Apparates bestimmen. Wir müssen noch etwas hinzufügen, um diese Aufgabe zu verdeutlichen. Wir wollen nicht an das Problem der endgültigen Grundlage der Vertretungsorgane in einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft herangehen. Wie sich die verschiedenen Organisationen entwickeln werden, wenn wir uns dieser Gesellschaft annähern, können wir nicht im einzelnen vorhersagen, nur die grossen Züge lassen sich überblicken: Die Entwicklung wird in Richtung auf eine Verschmelzung aller politischen, administrativen und ökonomischen Organe laufen, während der Staat nach und nach jeden Charakter eines Zwangsapparates verliert, bis schliesslich das Staatswesen selbst als Herrschaftsinstrument einer Klasse im Kampf gegen die anderen, überlebenden Klassen abstirbt. Hier wollen wir uns aber nur mit der Anfangsphase der proletarischen Macht beschäftigen. Sie lässt sich mit der Lage der proletarischen Diktatur in Russland im Laufe der vergangenen 4 ½ Jahre vergleichen.
Die proletarische Diktatur hat in ihrer Anfangsphase eine äusserst schwierige und komplexe Aufgabe zu erfüllen, die man in drei Aktionsbereiche unterteilen kann: den politischen, den militärischen und den ökonomischen. Sowohl die militärische Verteidigung gegen die inneren und äusseren Angriffe der Konterrevolution, als auch der Wiederaufbau der Wirtschaft auf kollektiven Grundlagen können nur bewältigt werden, wenn alle Kräfte zusammengefasst und nach einem systematischen und rationalen Plan eingesetzt werden. Obwohl er die Energien der ganzen Masse einsetzt, oder besser gerade um diese Energien mit einem höheren Ergebnis einsetzen zu können, zielt dieser Plan auf eine strenge Zentralisierung der Gesamttätigkeit hin. Daraus folgt, dass die Organe, die an der vordersten Front des Kampfes gegen den äusseren und inneren Feind stehen (die revolutionäre Armee und auch die revolutionäre Polizei), auf einer in den Händen des proletarischen Staates zentralisierten Disziplin und Hierarchie beruhen müssen. Auch die rote Armee ist damit eine organisierte Einheit, deren Hierarchie von aussen. d. h. von der politischen Führung des proletarischen Staates bestimmt wird. Dasselbe kann man von der revolutionären Polizei und dem revolutionären Gerichtswesen sagen.
Die Frage des ökonomischen Apparates, den das siegreiche Proletariat errichten muss, um das neue Produktions- und Verteilungssystem ins Leben zu rufen, weist komplexere Aspekte auf. Die Zentralisierung ist jedoch der Wesenszug, der diesen rationalen Verwaltungsapparat vom Chaos der kapitalistischen Privatwirtschaft unterscheidet. Alle Betriebe müssen auf der Grundlage der Ziele eines Produktions- und Verteilungsplans koordiniert und im Interesse der Gesellschaft als Ganzes geleitet werden. Mit dem allmählichen Aufbau des neuen Wirtschaftsapparates, aber auch infolge der Krisen, die mit einer solchen Umwälzungsperiode voll von politischen und militärischen Kämpfen unvermeidlich einhergehen, verändern sich andererseits ständig sowohl das Wirtschaftsgefüge als auch die jeweilige Stellung der Produzenten.
Was folgt aus diesen Betrachtungen? In der Anfangsphase der proletarischen Diktatur führen die Räte auf den verschiedenen Stufen zugleich legislative Wahlen für die höheren Stufen und exekutive Wahlen für die örtliche Verwaltung. Die absolute Verantwortung für die militärische Verteidigung und – allerdings in etwas flexiblerer Form – auch für den ökonomischen Feldzug muss jedoch in den Händen der zentralen Führung liegen. In dieser Hinsicht dienen die örtlichen Organe einer politischen Zusammenfassung der Massen, die auf deren Mitwirkung an der Durchführung jener Pläne sowie auf deren Zustimmung zum geplanten militärischen und ökonomischen Einsatz abzielt. Damit wird der Boden für eine möglichst breite und kontinuierliche politische Betätigung der Massen geschaffen, deren Energien auf den Ausbau der stark zentralisierten Organisation des proletarischen Staates kanalisiert werden.
Daraus kann man natürlich nicht folgern, den Zwischenstufen des staatlichen Apparates sei jede Bewegungsmöglichkeit und Eigeninitiative abzusprechen. Unsere Ausführungen dienen aber als Beweisgrundlage für etwas anderes, nämlich dass man kein formalistisches Schema für die Bildung dieser Organisationen stellen darf. Man kann z. B. nicht sagen: Da die Revolution militärische bzw. ökonomische Aufgaben zu erfüllen hat, müssen die proletarischen Wahlgremien nach Betrieben oder Armee-Einheiten organisiert werden, damit die Form der politischen Organisationen haargenau mit jenen Aufgaben übereinstimmt. Der Mechanismus dieser Organisationen wird nicht durch etwaige spezifische Eigenschaften eines bestimmten Schemas oder Gerüstes angetrieben. Die Einheiten, zu denen sich die Wähler an der Basis zusammenschliessen, können aufgrund von empirischen Kriterien entstehen, mehr noch, sie werden von sich aus aufgrund von empirischen Kriterien entstehen, zu denen die Gemeinsamkeit des Arbeitsplatzes wie des Wohnviertels, der Garnison wie der Truppe an der Front, oder auch anderer Bereiche des Alltagslebens gehören kann. Keines dieser Momente darf a priori ausgeschlossen oder im Gegenteil zum Modell erhoben werden. Wenn es aber um die Vertretungsorgane des proletarischen Staates geht, so beruhen sie allerdings auf einer territorialen Unterteilung, es wird nach Bezirken gewählt.
Alle diese Ausführungen haben keinen absoluten Charakter, und das führt uns zu unserer These zurück: Kein Verfassungsschema hat einen Prinzipienwert, und die im formalen und arithmetischen Sinne verstandene Mehrheitsdemokratie ist nur eine Methode unter anderen, um die internen Verhältnisse in den kollektiven Körperschaften zu ordnen. Diese Methode kann keineswegs den Anspruch erheben, an sich notwendig zu sein oder die Gerechtigkeit selbst zu verkörpern. Für uns Marxisten haben solche Begriffe ohnehin keinen Sinn, und ausserdem haben wir nicht die Absicht, das von uns kritisierte demokratische System durch den mechanistischen Entwurf eines anderen, aus seinem Wesen heraus vollkommenen Systems zu ersetzen.
V
Bisher galten unsere Ausführungen einerseits der Anwendung des demokratischen Prinzips auf den bürgerlichen Staat, d. h. auf eine Organisation, die sich einbildet, alle Gesellschaftsklassen zu vertreten, und andererseits seiner Anwendung auf eine einzige Klasse, das Proletariat, wenn es nach dem revolutionären Sieg zur sozialen Basis eines neuen Staates wird. Wir glauben, das dazu gesagte ist hier ausreichend. Jetzt müssen wir aber noch einiges über die Anwendung des demokratischen Mechanismus in der inneren Struktur der proletarischen Organisationen, die bereits vor der Machteroberung (und auch danach) bestehen, sagen. Gemeint sind die Gewerkschaften und die politische Partei.
Wir haben festgestellt, dass eine wirkliche Organisationseinheit nur möglich ist, wenn die Organisation aus Mitgliedern besteht, die einheitliche Interessen haben. Der Beitritt in die Gewerkschaften und in die Partei erfolgt aufgrund einer spontanen Entscheidung, an Aktionen einer bestimmten Natur mitzuwirken. Hier hat unsere kritische Untersuchung der Funktion des demokratischen Mechanismus und des Mehrheitsrechts zweifellos einen anderen Charakter als im Falle des bürgerlichen Staates, wo wir mit unserer Kritik zeigen wollten, dass die Demokratie absolut nicht in der Lage ist, den künstlichen Verfassungsanspruch einer Vereinigung der verschiedenen Klassen zu verwirklichen. Allerdings dürfen wir uns auch im Falle der Gewerkschaften und der Partei nicht durch die willkürliche Auffassung von der »Heiligkeit« der Mehrheitsentscheidungen irreführen lassen. Vergleicht man die Gewerkschaft mit der Partei, so stellt man fest, dass erstere durch eine vollständigere Identität der materiellen und unmittelbar gegebenen Interessen gekennzeichnet wird. In den Grenzen der jeweiligen Berufszweige erreicht ihre Mitgliederschaft einen sehr hohen Grad der Homogenität, die Gewerkschaft kann sich sogar tendenziell von einer freiwilligen Organisation in eine Zwangsorganisation verwandeln, der alle Arbeiter eines bestimmten Berufs- oder Industriezweiges automatisch angehören müssen, was übrigens auch in einer gewissen Entwicklungsphase des proletarischen Staates geschehen kann. Dass bei diesen Organisationen die Zahl die entscheidende Rolle spielt und der Mehrheitsspruch einen grossen Wert hat, steht ausser Frage. Eine solche schematische Betrachtung reicht allerdings nicht aus. Man muss auch die anderen Faktoren, die in der Gewerkschaftsorganisation eine Rolle spielen, berücksichtigen, nämlich einerseits die Funktionäre, die eine bürokratische Hierarchie bilden, und unter deren Kontrolle die Gewerkschaften gelähmt werden, und andererseits die Avantgardegruppen, die die revolutionäre politische Partei in der Gewerkschaft bilden, um sie auf den Boden der revolutionären Aktion zu führen. Im Laufe dieses Kampfes zeigen die Kommunisten sehr oft an, wie die Funktionäre der Gewerkschaftsbürokratie die demokratischen Regeln verletzen und auf den Mehrheitswillen pfeifen. Das ist richtig, denn diese rechten Gewerkschaftsführer tragen eine demokratische Gesinnung zur Schau, und man kann somit ihre Widersprüche entlarven. Ähnliches tun wir auch angesichts der bürgerlichen Liberalen, wenn diese die Wahlergebnisse verfälschen oder erpressen, allerdings ohne je die Illusion zu erwecken, freie Wahlen könnten die Probleme des Proletariats lösen. Der Einfluss der Gewerkschaftsfunktionäre ist ein ausserproletarischer Einfluss. Wenn auch nicht offiziell, so doch im Wesen rührt er von Klassen und Kräften her, die der Gewerkschaftsorganisation fremd sind. Jene Anprangerung der Funktionäre ist richtig und am Platze, weil es in den Augenblicken, in denen die grossen Massen durch die ökonomische Lage zum Kampf getrieben werden, möglich ist, ihren Einfluss zurückzudrängen und den Einfluss der revolutionären Gruppen zu steigern[3]. Man darf sich aber dabei von keiner Anbetung der Statuten leiten lassen. Wenn die Kommunisten sicher sind, dass die Massen sie verstehen, wenn sie in der Lage sind, den Massen zu zeigen, dass sie im Sinne ihrer wirklichen Interessen handeln, dann dürfen und müssen die Kommunisten sich sehr flexibel verhalten gegenüber den Regeln der Gewerkschaftsdemokratie. Nehmen wir zwei taktische Haltungen als Beispiel. Solange die Satzung es erlaubt, können wir in den Führungsorganen der Gewerkschaften als Minderheit vertreten sein. Sobald wir aber die Führungsorgane erobern, können wir eine Satzungsänderung befürworten, um die Minderheitsvertretung in den Exektivorganen abzuschaffen und somit die Handlungsfähigkeit dieser Organe zu steigern. Darin liegt kein Widerspruch, denn unsere Leitlinie in dieser Frage ist die genaue Einschätzung des Entwicklungsprozesses, den die Gewerkschaften in der heutigen Phase durchmachen: Man muss ihre Verwandlung von Organen der konterrevolutionären Beeinflussung des Proletariats in Organe des revolutionären Kampfes beschleunigen. Die Organisationsstatuten haben keinen Wert an sich, sondern nur in dem Masse, wie sie diesem Ziel dienen.
Die Untersuchung der Parteiorganisation steht noch aus. Die Wesenszüge der Partei kamen allerdings bereits zur Sprache, als wir uns mit dem proletarischen Staatsapparat beschäftigten. Die Partei beruht nicht auf einer so vollständigen Identität der ökonomischen Interessen wie die Gewerkschaft. Dafür hat der einheitliche Charakter ihrer Organisation ein viel breiteres Fundament als der Berufszweig, nämlich die Klasse. Die proletarische Klasse als Ganzes liefert das Fundament, auf dem sich die Partei nicht nur im Raum ausdehnt, bis sie zu einer internationalen Partei wird, sondern auch in der Zeit, was soviel heisst, als dass die Partei genau das Organ ist, dessen Bewusstsein und Aktion die Erfolgsbedingungen im Laufe des ganzen Weges zur revolutionären Befreiung des Proletariats widerspiegeln. Diese Sachen sind bekannt, sie stellen aber auch den Rahmen für die Untersuchung der Fragen der Struktur und inneren Organisation der Partei, deren ganzen Entstehungs- und Lebensprozess wir uns im Lichte der komplexen revolutionären Aufgaben vor Augen halten müssen. Wir werden diese ohnehin schon lange Abhandlung bald abschliessen und können deshalb nicht im einzelnen darauf eingehen, wie der Mechanismus der Rekrutierung, der Befragung der Masse, der Militanten und der Ernennung der Verantwortlichen auf den verschiedenen Ebenen beschaffen sein sollte. Ohne Zweifel ist immer noch das Beste, sich an das Mehrheitskriterium möglichst zu halten. Wir wiederholen aber nachdrücklich, dass man diese Anwendung des demokratischen Mechanismus nicht zum Prinzip erheben darf. Die Partei hat nicht nur eine beratende Aufgabe, die sich mit der legislativen Aufgabe der Staatsapparate vergleichen liesse. Die Partei hat auch eine exekutive Aufgabe. In den Entscheidungsphasen des Kampfes entspricht diese Aufgabe derjenigen einer Armee und setzt ein Höchstmass an Disziplin gegenüber der Führung voraus. Wie entsteht aber diese Führung? Betrachtet man die komplexe Entwicklung, die zur Bildung der kommunistischen Parteien führte, so wird man feststellen, dass die Führungen eine lange Kampftradition verkörpern. Sie sind ein reales und dialektisches Ergebnis jener ganzen Entwicklung, in deren Verlauf die Partei ihre Erfahrungen gesammelt und ihre Organisation geprüft hat. Man darf die Parteimehrheit nicht wie einen unfehlbaren und übernatürlichen Richter betrachten, der per se nur eine glückliche Wahl treffen kann. Dass die Führer des Gemeinwesens durch derartige Instanzen ernannt werden, gehört zum Glauben jener Leute, die die Teilnahme des Heiligen Geistes an den Konklaven für bare Münze halten. Sicherlich ist die Zusammensetzung der Partei als Ganzes bereits das Ergebnis einer Selektion, denn der Beitritt erfolgt spontan und freiwillig und die Rekrutierung untersteht einer Kontrolle. Aber selbst in einer solchen Organisation darf man nicht davon ausgehen, der Wahlspruch der Mehrheit sei grundsätzlich der Wahrheit letzter Spruch. Die Mehrheitsentscheidung, die zu einer besseren Leistung der Exekutivorgane der Partei beiträgt, ist ein Produkt der Übereinstimmung auf der Grundlage kollektiver und richtig orientierter Arbeit. Soll nun das demokratische Verfahren durch ein anderes ersetzt werden, und zwar durch welches? Wir wollen hier diesen Vorschlag weder unterbreiten noch im einzelnen untersuchen.
Es ist allerdings anzunehmen, dass eine solche Organisation wie die Partei sich immer mehr von den Konventionen demokratischer Observanz befreien kann. Eine innere Abneigung gegen eine solche Entwicklung wäre unbegründet, denn die Geschichte kann andere Verfahren für die Entscheidungen, Ernennungen und Problemlösungen hervorbringen, die sich als geeigneter erweisen und den wirklichen Erfordernissen der Entwicklung der Partei und ihrer Aktion besser entsprechen.
Das demokratische Kriterium ist keineswegs eine unerlässliche Plattform der Partei. Wir betrachten es lediglich als ein herkömmliches Verfahren, dessen wir uns beim Aufbau unserer inneren Organisation und bei der Formulierung der Parteistatuten nebensächlich bedienen. Deshalb werden wir die bekannte Organisationsformel des »demokratischen Zentralismus« nicht zum Prinzip erheben. Der Zentralismus ist für uns ausser Frage ein Prinzip, denn die Parteiorganisation muss im wesentlichen durch eine Einheit der Struktur und der Aktion geprägt werden. Die Demokratie kann aber für uns kein Prinzip sein. Um die bruchlose Organisationseinheit der Partei im Raum auszudrücken, genügt der Begriff Zentralismus. Es wäre noch ein Begriff für die Kontinuität in der Zeit einzuführen, d. h. für die geschichtliche Kontinuität der Partei, die über die aufeinanderfolgenden Hindernisse hinweg immer mit derselben Zielrichtung voranschreitet. Wir möchten diese beiden wesentlichen Begriffe vereinen und den Vorschlag machen, die Organisationsgrundlage der kommunistischen Partei als »organischen Zentralismus« zu bezeichnen. So würden wir zwar aus jenem nebensächlichen demokratischen Mechanismus all das behalten, was uns dienlich sein kann, wir würden aber einen Begriff nicht mehr verwenden, den die schlimmsten Demagogen so gerne im Munde führen: die »Demokratie«, diese wahre Verhöhnung aller Ausgebeuteten, Unterdrückten und Betrogenen. Diesen Begriff sollten wir getrost den Bourgeois und den freilich versumpften, dennoch nach wie vor extremistischen Posen hin und wieder verfallenden Meistern des Liberalismus zum ausschliesslichen Gebrauch überlassen.
Notes:
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Dieser Versuch, auf eine rechtsopportunistische Entartung der Arbeiterbewegung mit einer idealistischen Begründung des Sozialismus zu antworten, kennzeichnete z. B. den Anarcho-Syndikalismus von Sorel, die Theorien von Gorter und Pannekoek und nicht zuletzt die Gruppe um Gramsci, die in Italien nach dem ersten Weltkrieg diesen Anspruch zunächst offen verkündete. Auf spätere Beispiele – vor allem auf die infolge der »Studentenbewegung« massenhaften produzierten »Theorien« – sei hier verzichtet: Es handelt sich dabei um die Karikatur der oben erwähnten. [⤒]
Eine deutsche Übersetzung dieser Thesen vom März 1922 (»Thesen von Rom«) findet der Leser in »Kommunistisches Programm« Nr. 13, Januar 1977. [⤒]
Wie der Leser festgestellt haben wird, beziehen sich die Ausführungen des Textes auf Arbeitergewerkschaften, nicht aber auf Staatsgewerkschaften oder mit dem Staat verschmolzenen Gewerkschaften, die von Kommunisten nicht erobert werden können.
Zu dieser Frage siehe unsere Broschüre »Was heisst es, den Marxismus zu verteidigen?«, vor allem S. 90 ff. [⤒]