Vorwort zum Artikel:
Lenins Schrift »Der ‹linke Radikalismus›, die Kinderkrankheit im Kommunismus« – die Verurteilung der künftigen Renegaten
Der Text, den wir hier in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen beginnen, erschien zum ersten Mal 1960–61 in mehreren Folgen in unserer italienischen Zeitung »il programma comunista«.
Für die opportunistische Prominenz grösseren oder kleineren Kalibers war das Jahr 1960 Anlass für die üblichen Festschriften zum 40. Jahrestag von Lenins Broschüre über den »Linksradikalismus« gewesen. Dabei stand der Beweihräucherungseifer durchweg in direktem Verhältnis zum Umfang des Verrats an den darin enthaltenen Prinzipien; denn diesen Leuten zufolge soll gerade Lenin aus der inflexiblen historischen Linie des Marxismus ein Bündel vieler Alternativen und meanderhafter Wege gemacht haben. Ausgerechnet auf Lenin soll die Auffassung zurückgehen, dass, vorausgesetzt, man taktiert geschickt, alle Wege zum Sozialismus führen können. Aber wirklich alle? Keineswegs! Denn trotz ihrer Ansprüche, konkret, flexibel und anpassungsfähig zu sein, zeigt diese Clique eine grosse Prinzipienfestigkeit: einzig und allein die demokratischen, friedlichen und nationalen Wege führen zum Sozialismus. Und dies gilt wohlgemerkt nicht minder für die Maoisten und Trotzkisten, selbst wenn man ihnen natürlich keinerlei Prinzipienfestigkeit attestieren kann. Befürworten die Maoisten die nicht friedlichen, aber nationalen Wege zum Sozialismus, so die Trotzkisten die »internationalen«, aber demokratischen, durch »Arbeiterregierungen« und Mehrparteiensysteme gekennzeichneten Wege zum Sozialismus. Und dies alles im Namen Lenins!
Würde man diesen Leuten Glauben schenken, so soll Lenins Broschüre in der Tat eine Verurteilung unserer marxistischen Standhaftigkeit enthalten und zugleich den Weg für ihr taktisches Hin und Her und ihre Abweichlerei freigegeben haben. Ein Ziel unserer Arbeit lag gerade darin, diesen Verrätern und Pseudoleninisten mit jenen Ausführungen zu Leibe zu rücken, die Lenin selbst von einem halben Jahrhundert gegen ihre Vorläufer, die Sozialverräter und Henker des Proletariats, vor allem aber gegen die Pseudomarxisten à la Kautsky, gerichtet hatte. Allerdings sind die Stalino-Reformisten und ihre Trabanten nicht die einzigen, die in Lenin die Quelle und die Rechtfertigung der Abweichung von den revolutionären Positionen erblicken; denn wie sie machen die »Linksradikalen« aus Lenin den »Vater des Leninismus«, des Stalinismus, der Entartung der Oktoberrevolution und der Zersetzung der kommunistischen Internationale. Opfer desselben und beabsichtigten Missverständnisses, verurteilen sie, was die anderen verherrlichen, und verwechseln unsere klaren marxistischen Positionen mit ihrem eigenen Standpunkt, den Lenin bekämpft hat. Ein weiteres Ziel unserer Arbeit bestand also darin, allen Schattierungen des anarchoiden »Linksradikalismus« die unerbittliche Kritik Lenins entgegenzuhalten.
Beide Aspekte lassen sich nicht voneinander trennen. Sie ergeben sich aus einer zentralen These, die der aufmerksame Leser aus den folgenden Seiten entnehmen wird: Einen »Leninismus« gibt es ebensowenig wie einen »Bordigismus«. Das ganze theoretische wie praktische Werk Lenins befindet sich ganz einfach auf der historischen Linie des Marxismus, die keine Abzweigungen kennt und von der wir behaupten, sie als einzige fortzusetzen. Lenin selbst im »Linksradikalismus« wie in allen seinen anderen Schriften und Interventionen im Laufe des Klassenkrieges versteht sich als Marxist, nicht mehr und nicht weniger. Sein grosses und bleibendes Werk war gerade die Wiederherstellung und Verteidigung der Marx’schen Lehre. Auf dieselbe Weise implizierte unsere freilich unvergleichlich bescheidenere Arbeit der letzten Jahrzehnte die Wiederherstellung und Verteidigung des leninschen Werkes: weil sie alle – Marx, Lenin und in einem bescheideneren Rahmen wir selber – nichts anderes taten und tun, als die einzige und unveränderliche Lehre der proletarischen Revolution zum Ausdruck zu bringen.
Es ist klar, dass die Schrift von Lenin wie auch die unsrige nichts an Aktualität eingebüsst hat. Wir erleben in der Tat ein erneutes Emporwuchern des »linken Radikalismus«. KAPD, Gramsci usw. stehen so hoch im Kurs wie selten zuvor. Die Grundlage hierfür ist die spontane und von der kleinbürgerlichen Intelligentsia ausgebeutete Reaktion auf die zunehmende und zwangsläufige Verquickung des opportunistischen Reformismus mit der Bourgeoisie und ihrem Staat. Es handelt sich bei diesem spontaneistischen Linksradikalismus um eine klassische Erscheinung in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie nimmt heute zugespitzte Formen an, weil infolge der beispiellosen Niederlage, die wir zwischen den zwei Weltkriegen erlitten, die Kontinuität der revolutionären Bewegung gebrochen und ihre Traditionen aus dem Gedächtnis der Arbeiter getilgt wurden.
Aus diesem Grunde gehört zu unserem permanenten Kampf gegen Reformismus und Anarchismus, die beide in allen Schattierungen zwei Seiten ein und desselben Opportunismus sind, auch die Beweisführung der Unveränderlichkeit und der Kontinuität dieses Kampfes, den die kommunistische Bewegung seit über einem Jahrhundert führt.
Gerade dies versuchte unser Text mit aller Deutlichkeit aufzuzeigen.
Wir glauben selbstverständlich nicht, den Opportunismus mit Veröffentlichungen erledigen zu können: der Klassenkampf selbst wird ihn ausrotten müssen. Aber die klare und feste Behauptung der marxistischen Positionen gegen alle verlogenen Perspektiven des Reformismus und des Revoluzzertums wird allein erlauben, die Kräfte, die der Klassenkampf hervorbringen wird, zusammenzufassen und zu organisieren. Sie ist unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung der kompakten, entschlossenen Klassenkraft, die fähig ist, den Feind ins Herz zu treffen.
Lenin zeigte, dass der Zusammenstoss zwischen Parteien und Fraktionen am Anfang des Jahrhunderts eine Vorwegnahme und Vorbereitung des Klassenzusammenstosses im Laufe der Revolution von 1917 gewesen war. Auf dieselbe Weise ist unser heutiger Kampf kein »Kampf auf dem Papier«. Er kennzeichnet die Positionen, auf deren Grundlage sich morgen Millionen Menschen mit der Waffe in der Hand schlagen werden. Er ist Vorwegnahme und Vorbereitung der revolutionären Einreihung des Proletariats.
In dieser Nr. von »Kommunistisches Programm« veröffentlichen wir die drei ersten Kapitel der oben eingeleiteten Schrift. Die vier weiteren Kapitel sollen in der nächsten Nr. erscheinen[1]. Lenins Schrift wurde nach der Einzelausgabe des Dietz Verlages, Berlin 1974, zitiert, auf die sich die Seitenangaben beziehen[2].
Notes:
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Die vier letzten Kapitel erschienen in »Kommunistisches Programm«, Nr. 20. (sinistra.net, Mai 2001). [⤒]
Zur besseren Orientierung haben wir hier die Ausgabe der Lenin Werke hinzugefügt. Bei den Zitaten verweisen wir somit auf beide Texte, Lenins Werksausgabe, Dietz, Berlin (Ost), 8. Auflage 1983 (als »LW«) und die Dietzsche Einzelausgabe, Berlin (Ost) 1974, (als »EA«).
Die Fussnoten und Zitate wurden durchnumeriert und teilweise ergänzt oder berichtigt (sinistra.net, Mai 2001). [⤒]