Lenins Schrift »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« – die Verurteilung der künftigen Renegaten
V. Kampf gegen die zwei antibolschewistischen Fronten: den Reformismus und den Anarchismus
Die Verleumdungen der Oktoberrevolution
Drei Jahre nach dem Sieg, in einer von heftigen Kämpfen erschütterten Welt, schlugen zwei Giftwellen gegen die Bolschewiki. Von der Antwort auf diese zwei Sturmabteilungen hing das Schicksal der Organisation der proletarischen Bewegung bei der Verfolgung eines Zieles, das damals unumstritten war, ab: Man musste vor Abschluss der Krise, die auf den 1. Weltkrieg und den Sturz des Zaren und der russischen Kapitalisten folgte, den Zusammenbruch der bürgerlichen Macht in mindestens einigen der wichtigsten Länder Europas herbeiführen.
Beide Verleumdungswellen beruhten auf denselben antimarxistischen Spekulationen: Die Bolschewiki hätten willkürlich eine Revolution gemacht, die man nicht machen durfte. Der reinen Bourgeoisie war es ganz einfach recht, an diese Schablone zu glauben. Es war aber auch unvermeidlich, dass Kleinbürger und selbst Halbproletarier (Lenins »Linksradikalismus« ist die vernichtendste Anklageschrift, die gegen diese Klassen je verfasst wurde) diesem Glauben verfielen.
Für die sozialdemokratischen Verräter, für die Sozialchauvinisten von 1914 sollte man den Krieg, den der Zar an der Seite der imperialistischen Demokratien führte, nicht stören, oder genauer, man sollte lediglich den Zaren beseitigen, um die russische Bevölkerung leichter in das Weltgemetzel zu führen. Diese Mörder am Marxismus erkannten Russland nur das Recht zu, eine liberale Revolution zu machen. Die proletarische und sozialistische Revolution war verboten, weil die ökonomische Entwicklung noch nicht die »erwünschte« Stufe erreicht hatte und man zunächst überhaupt abwarten musste, dass sich das fortgeschrittene Europa bewegte. Lauter sozialpatriotische und sozial reformistische Argumente.
Die Missachtung dieser zwei historischen Gründe käme einem Handstreich gegen die Demokratie und schliesslich sogar gegen den marxistischen Materialismus gleich, da letzterer für diese Herrschaften damals wie heute der Fussabtreter der Demokratie sein soll.
Die andere Seite wurde als »linker« Flügel bezeichnet, was in einer populären Abhandlung in Ordnung war. Wer vierzig Jahre nach Lenins Tod lebt, hat nicht das Recht, ihm wegen der mehr oder weniger glücklichen Wortwahl einen Vorwurf zu machen. Denn damals verweste die Zeit nicht in Stagnation wie heute, sondern eilte stürmisch vorwärts; 1920 war die revolutionäre Welle dem Punkt nahe, an dem sie zurückfluten würde; man spielte – um einen banalen Ausdruck zu benutzen – die letzen Runden der ungeheuren Partie. Lenin wusste, dass der Niedergang der Revolution in Europa den Niedergang der Revolution in Russland bedeuten würde. Das Auslöschen der letzten Flammen des revolutionären Feuers würde aufs selbe hinauslaufen, ob nun durch böswilligen Verrat oder wohlmeinende naive Fehler verschuldet. Man hat eilig und laut sprechen müssen; für subtile Unterscheidungen gab es keine Zeit. Aus jener Seite, die also aus Dringlichkeitsgründen als »links« bezeichnet wurde, begann ein erschreckendes Echo der bürgerlichen Argumente zu kommen: Die bolschewistische Partei hätte der Geschichte und dem freien Willen der Massen Gewalt angetan; sie hätte ihre Herrschaft, ihre Macht errichtet, um die Interessen einer Führergruppe durchzusetzen; sie hätte auf eigene Weise die Rolle des Unterdrückers übernommen; man hätte zu früh den Sieg des Proletariats gesungen, usw.
In dieser Lästerung, die noch schlimmer ist als die andere, kommt die ganze Misere des anarchistischen Kleinbürgers zum Ausdruck: Partei gleich Machthunger; dahinter steckt die Gier nach Ausbeutung des »Volkes«, und der Staat, die Regierung, die gebildet wurde, um die Revolution zu führen, ist das Mittel zu diesem Zweck – jeder Regierende ist ein Unterdrücker.
Keine andere Bewegung hat sich wie gerade die marxistische Linke Italiens so eng mit Lenin verbunden, um den Kampf gegen dieses besinnungslose Geschwätz zu führen. Mit denselben Überlegungen führen wir diesen Kampf heute weiter, und unsere Verurteilung des Stalinismus und des Chruschtschowismus (der den stalinistischen Verrat noch weiter führt) hat nichts zu tun mit den wahrhaft infantilen Jeremiaden der Art: »Die Machtgier treibt sie zu ihren Verbrechen«.
1920 breitete sich diese Krankheit jedoch in fast allen linken Parteien Europas und Amerikas aus. Es stimmt, dass ein »linker« Doktrinarismus solcher Observanz sich noch verheerender auswirken kann als der rechte Doktrinarismus, und Lenin, der allerdings immer wieder zwischen beiden Gefahren unterscheidet, musste ihn unerbittlich brandmarken. Wir haben anhand seiner Schrift gesehen, dass die kleinbürgerliche Mentalität vor wie nach der Revolution schwieriger zu zerschlagen ist als die Macht der Grossbourgeoisie. Die harte Erfahrung der späteren Jahrzehnte bestätigte diese tiefe Einsicht Lenins. Kleinbürgerliche Zersetzung hat die Revolution erwürgt und das Proletariat gelähmt, während andererseits die Bourgeoisie ihren Sieg nicht den Rechten (dem Faschismus), sondern den »Linken« (der demokratischen und libertären Zersetzung der Arbeiterklasse) verdankt.
Die Verleumdungen der Oktoberrevolution wurden durch die These gekrönt, derzufolge sie durch die soziale Rückständigkeit, durch das Fehlen einer demokratischen Tradition, durch die Unwissenheit der barbarischen, asiatischen, primitiven russischen Bevölkerung bestimmt worden wäre, d. h. infolge der »nationalen« Charakteristika einen bestimmten »Weg« eingeschlagen hätte, den Weg der Gewalt, des Aufstands, der Zerschlagung des alten Staates, den Weg der Diktatur der proletarischen Partei, des revolutionären Terrors, der Ausrottung der feindlichen Parteien. Doch gerade diesen Weg zeichneten und zeichnen wir für alle Länder.
Reformisten und Anarchisten sind grosse Verehrer der bürgerlichen Zivilisation. Hier müssen wir ein Zitat von Lenin einschieben):
»Der durch die Schrecken des Kapitalismus ›wild gewordene‹ Kleinbürger ist eine soziale Erscheinung, die ebenso wie der Anarchismus allen kapitalistischen Ländern eigen ist. Die Unbeständigkeit dieses Revolutionarismus, seine Unfruchtbarkeit, seine Eigenschaft, schnell in Unterwürfigkeit, Apathie und Phantasterei umzuschlagen, ja sich von dieser oder jener bürgerlichen ›Mode‹-Strömung«
(hier möchten wir anmerken: wie heute (1960) die »Science-fiction«, die Technik, der Fetisch des »wissenschaftlichen Fortschritts«)
»bis zur ›Tollheit‹ fortreissen zu lassen – all das ist allgemein bekannt«[68])
Nun gut, laut diesen beiden Flügeln der Verleumdungskampagne gegen die russische Revolution würden die oben aufgezählten Grausamkeiten in den zivilisierten Ländern nicht nötig sein, da hier das Volk gebildet sei, d. h. in Wirklichkeit durch die Schule der herrschenden Klasse und die Ehrfurcht vor einer angeblich universellen »Kultur« (die heute in der Tat überall die gleiche ist) noch weiter in den Stumpfsinn getrieben wurde. In diesen Ländern sollen die Überredung, der friedliche und demokratische Weg es erlauben, jene Schrecken des Oktober zu vermeiden. Frage: Was sind die Scharlatane der heutigen Moskauer Konklaven, wenn nicht gerade die Nachfolger zugleich des rechten und linken antibolschewistischen Doktrinarismus des Jahres 1920? Wer verdient heute die Peitschenhiebe, mit denen Lenin die damaligen Opportunisten traf, wenn nicht gerade die Pfaffen der Sakristei des Kreml?
Wenn man sich also nicht auf den »Linksradikalismus« gegen uns, die Vertreter des vollständigen revolutionären Marxismus, berufen kann, so kann man es um so besser gegen die Moskauer Kurie und deren Handlanger tun, denn, wie wir glauben, ausführlich genug gezeigt zu haben, zerschlägt der Leninsche »Aufsatz« schon von seinem Ansatz her die idiotische stalinistische Theorie vom »Sozialismus in einem Land«.
Der Ausgangspunkt dieser klassischen Verteidigung der russischen Revolution gegen alle Verleumder ist die Erklärung der internationalen Tragweite der Erfahrungen der Oktoberrevolution. Wir teilen voll und ganz Lenins Schlussfolgerung: Man muss sich sowohl vor dem rechten wie auch vor dem »linken« Doktrinarismus hüten; der erste führt zum Sturz in den reinen bürgerlichen Liberalismus und in die Zusammenarbeit mit dem Kapital im Kriege wie im Frieden; der zweite lässt die geknechtete Klasse beiseite, um sich durch leere Neinsagerei eine idiotische individualistische und moralische Reinheit zu erkaufen, also die einzelne, sich auflehnende Person zu »befreien«.
Diese Gefahren drohen in allen Ländern; für sie gilt also die Forderung. Und die Bolschewiki, die gesiegt haben, zeigen durch ihre Parteigeschichte, dass sie sich rechtzeitig davor schützen konnten.
Bevor er die Frage der »Taktik« behandelt, die für so viele historische Diskussionen Anlass gab, liefert uns Lenin einen festen Stützpunkt, indem er zeigt, welche Schritte und Züge der Oktoberrevolution internationale Bedeutung »im engsten Sinne« haben. Wir haben diese Stellen bereits zitiert und beschränken uns hier auf einen Satz aus dem dritten Kapitel:
»Die Erfahrung hat bewiesen, dass in einigen sehr wesentlichen Fragen der proletarischen Revolution alle Länder unvermeidlich dasselbe werden durchmachen müssen, was Russland durchgemacht hat«[69].
Ausgangspunkt der Beweisführung ist die internationale Ausdehnung der Diktatur des Proletariats. Lenin behauptet, dass man in Westeuropa zur Diktatur gelangen muss und dass es hierfür einen einzigen »Weg« gibt, dessen Züge er mehrmals wiederholt. Dies allein ist ausreichend, um den Theorien Stalins, des XX. Kongresses (des Kongresses der Spiegelfechtereien mit Stalins Schatten) und der heutigen Russen gerecht zu werden: Der erste vertrat die Theorie vom »Aufbau der sozialistischen Ökonomie in Russland allein«, der XX. Kongress prägte die Formel, dass »jedes Land seinen nationalen Weg zum Sozialismus hat«, und heute vertritt Moskau die These, derzufolge man nunmehr in der ganzen Welt auf friedlichem Wege zum Sozialismus gelangen wird[70].
Was für Lenin obligatorisch war, wird zunächst unverbindlich und schliesslich faktisch verboten – im Namen des »Marxismus-Leninismus« versteht sich!
Wir werden noch zwei oder drei Stellen aus dem zehnten Kapitel, dessen Überschrift »Einige Schlussfolgerungen« lautet, zitieren. Lenin geht hier ohne Rücksicht vor in der Bestrebung, die linke Kinderkrankheit zu heilen. Er stellt ihre Symptome in ein dramatisches Licht, macht jedoch eine optimistische Prognose. Die Prognose über die Entwicklung der senilen Krankheit, die wir damals machten, war allerdings ziemlich schwarz. Deshalb waren wir in erster Linie bestrebt, diese Krankheit zu heilen. Nach vierzig Jahren ist es billig zu sagen, wir hätten recht gehabt. Wäre es bloss nicht so gewesen!
Doch selbst in dieser leidenschaftlichen »Tirade« (dieser Ausdruck hat hier einen ebensowenig abwertenden Sinn wie die Aussage des Autors selbst, er biete nicht mehr »als flüchtige Notizen eines Publizisten«) scheint der Verfasser »flüchtige Notizen« zu bieten… über die Schanden, die wir erst 1928, 1956 und 1960 erleben sollten.
»Und in knapp zwei Jahren offenbarte sich der internationale Charakter der Sowjets, die Ausbreitung dieser Kampf- und Organisationsform auf die Arbeiterbewegung der ganzen Welt, die geschichtliche Mission der Sowjets, Totengräber, Erbe, Nachfolger des bürgerlichen Parlamentarismus und der bürgerlichen Demokratie überhaupt zu sein«[71].
Lenin stellt sich die Frage, die der XX. Kongress auch scheinbar stellen sollte: Gibt es in der Welt noch nationale Besonderheiten? Er antwortete darauf: Ja. Man muss das national Besondere, das national Spezifische erforschen, studieren, herausfinden, erraten, erfassen. Aber beim Herangehen jedes Landes an welche Aufgaben, an die Durchsetzung welcher Ziele?
»… an die Lösung der einheitlichen internationalen Aufgabe, an den Sieg über den (rechten, IKP) Opportunismus und den linken Doktrinarismus innerhalb der Arbeiterbewegung, an den Sturz der Bourgeoisie, an die Errichtung der Sowjetrepublik und der proletarischen Diktatur…«[72].
Und er fährt fort:
»Für die Gewinnung der Avantgarde der Arbeiterklasse, für ihren Übergang auf die Seite der Sowjetmacht gegen den Parlamentarismus, auf die Seite der Diktatur des Proletariats gegen die bürgerliche Demokratie ist das wichtigste – natürlich bei weitem noch nicht alles, aber doch das wichtigste – bereits getan«[73].
Man sollte alles zitieren, es dürfte aber klar sein, dass alles, was Lenin für bereits getan hielt, inzwischen von der Trottelmeute wieder vernichtet wurde, die das Proletariat dazu auffordert, für den Frieden, die Demokratie, die nationale Freiheit und manchmal auch in floskelhaften Tönen… für den Sozialismus zu kämpfen. Aber wohlgemerkt für einen Sozialismus, der durch den »Wettstreit der Systeme« entstehen soll, für einen Sozialismus, der ohne Zwang, ohne »Diktat« und vor allem ohne Waffengewalt errichtet werden soll!
Wir lesen jetzt den Schluss des Kapitels:
»Die Kommunisten müssen alle Kräfte anspannen, um die Arbeiterbewegung und die gesellschaftliche Entwicklung überhaupt auf dem geradesten und raschesten Wege zum Sieg der Sowjetmacht und zur Diktatur des Proletariats in der ganzen Welt zu führen. (…)
Die Weltrevolution ist durch die Schrecken, Gemeinheiten und Scheusslichkeiten des imperialistischen Weltkriegs, durch die Ausweglosigkeit der von ihm geschaffenen Lage so mächtig vorwärts getrieben und beschleunigt worden, diese Revolution entwickelt sich mit einer so grossartigen Schnelligkeit, mit einem so wunderbaren Reichtum an wechselnden Formen in die Breite und Tiefe, sie widerlegt in der Praxis so lehrreich jedweden Doktrinarismus, dass wir allen Grund haben, auf eine rasche und vollständige Heilung der internationalen kommunistischen Bewegung von der Kinderkrankheit des ›linken‹ Kommunismus zu hoffen«[74].
Das Wort »linke« steht, wie immer in den Texten von 1920, in Anführungsstrichen.
Mit seinem optimistischen Schwung – und jeder Revolutionär ist zum Optimismus verpflichtet – sieht Lenin die Revolution ausserhalb Russlands hervorbrechen und auf sie richtet er alle seine Gedanken, wobei er unter dem »wunderbaren Reichtum an wechselnden Formen« selbstverständlich nicht meinen wollte, dass man die eigentlichen internationalen Züge der Revolution, die Diktatur des Proletariats und die Zerschlagung der Demokratie, preisgeben müsste, um sich vor dem Doktrinarismus zu retten. Wenn er diese Gefahr vor sich sah, dann hat er nicht mehr von Krankheit, sondern von Tod gesprochen.
Jene, die sich rühmen, in uns die linke Kinderkrankheit bekämpft zu haben, konnten keinen, der unter dieser Krankheit wirklich litt, heilen – nicht einmal sich selbst. Sie starben aber an der rechten Krankheit, nachdem sie zeitlebens Lenin abgeschworen hatten. An ihren Leichen waren die widerlichen schwarzblauen Beulen der opportunistischen Pest zu beobachten.
Notes:
[prev.] [content] [end]
LW, Band 31, S. 16/17; EA, Dietz, S. 18. [⤒]
LW, Band 31, S. 15; EA, Dietz, S. 16; (Hervorhebung von Lenin). [⤒]
Inzwischen, 2001, ist dieser »friedliche Weg zum Sozialismus« bei der Anpassung an das westliche Modell des Kapitalismus angelangt, und aus Moskau hört man nur noch die Parole »Vom Westen lernen heisst siegen lernen«, so wie es von unserer Partei vorausgesehen wurde (siehe dazu auch die Artikel »Der Drang nach Osten«, erschienen in »Internationale Revolution«, Nr. 4, November 1970, und »Drang nach Osten – Drang nach Westen« aus »Kommunistisches Programm«, Nr. 17 vom Februar 1978) (sinistra.net). [⤒]
LW, Band 31, S. 77; EA, Dietz, S. 85. [⤒]
LW, Band 31, S. 79; EA, Dietz, S. 87; (Hervorhebung von Lenin). [⤒]
LW, Band 31, S. 79; EA, Dietz, S. 87; (Hervorhebung IKP). [⤒]
LW, Band 31, S. 91; EA, Dietz, S. 100/101. [⤒]