Lenins Schrift »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« – die Verurteilung der künftigen Renegaten
I. Die Szene des weltgeschichtlichen Dramas im Jahre 1920
Kurz nach Lenins Tod fand auf Initiative der kommunistischen Linke eine Gedenkfeier im römischen »Volkshaus« statt. Nachdem er gezeigt hatte, wie es mit Lenins vermeintlichem taktischen »Opportunismus« in Wirklichkeit bestellt war, kommentierte der Redner ein Zitat aus dem Anfang des Klassikers »Staat und Revolution« folgendermassen:
»Lenin sagte, dass die grossen revolutionären Führer nach ihrem Tode verfälscht werden, wie es mit Marx und seinen treuesten Anhängern geschehen war. Ob Lenin diesem Schicksal entgehen wird? Gewiss nicht«[3].
Seit dieser leichten Vorhersage sind 36 Jahre vergangen. Die Bilanz dieser Jahre, die die Linke tagtäglich mit schonungsloser Kritik vollzog, beweist nur allzu gut, dass die dreckige Verfälschungswut, mit der Lenin überschüttet wurde, mindestens zehnmal ekelhafter ist als die gegen Marx entfesselte.
Die Verfälscher bedienen sich immer derselben Methode. Die wirkliche Geschichte, die der Theorie und dem Programm jener höchsten revolutionären Führer zugrunde lag, wird verdrängt und durch eine konstruierte Legende ersetzt. Zitate werden aus dem realen Zusammenhang des Kampfes, in dem die klassischen Texte entstanden, herausgerissen; sie werden zerstückelt und zusammengeschustert, um die Legende zu »untermauern«; der Sinn der Texte wird völlig auf den Kopf gestellt. Bei alledem werden die schwierigen Kampfbedingungen der revolutionären Klasse hemmungslos ausgebeutet – muss sich diese ja schon wegen ihrer Mangelexistenz in den meisten Fällen damit begnügen, ihre theoretischen Waffen aus dritter oder vierter Hand auf dem Trödelmarkt zu erhalten.
Dennoch. Eine marxistische Arbeit, die, wie es in unseren Reihen geschieht, den leeren und eitlen Dilettantismus verabscheut und auf die billig zu mietenden Parvenüs und Agenten der Korruption verzichtet, ist imstande zu beweisen, dass es im »Linksradikalismus« keine Seite und keine Zeile gibt, die nicht mit schonungsloser Treffsicherheit gerade auf die unverfrorenen Verräter und Renegaten zielt.
Dafür muss man Rhetorik und Demagogie beiseite schieben und die Tatsachen der Geschichte sprechen lassen, denn nur in ihnen, keineswegs aber in der kleinkarierten Boulevardchronik heutiger Tagesereignisse kann man erkennen, dass revolutionäre Theorie und revolutionärer Kampf, die jene Kobolde seit einem Jahrhundert gegeneinander auszuspielen versuchen, einen einzigen und leuchtenden Wegweiser bilden.
Lenins Rückkehr nach Russland und die Oktoberrevolution lagen kaum drei Jahre zurück; ein knappes Jahr war seit der Gründung der III. Internationale (März 1919) im Zuge des Vernichtungskampfes gegen den Opportunismus der im Krieg zusammengebrochenen I. Internationale vergangen.
Heftige Ausfälle und feurige Beitrittserklärungen, Verdammung und Beifall aus allen Ländern der Welt erreichten die bolschewistische Partei. In der Zeit, über die wir hier berichten, musste sich die russische Partei nach wie vor an erster Stelle dem offenen Krieg, dem Bürgerkrieg gegen die Weissen, gegen Denikin, Koltschak, Judenitsch, Wrangel, gegen die tausend Lawinen, die von deutschen, englischen, französischen und japanischen Angriffsplänen ausgelöst wurden, zu wenden. In dieser Periode, mit der wir uns in den ausführlichen Untersuchungen über den Lauf der Revolution in Russland eingehend befasst haben[4], wurde alles von diesem nicht nur politischen, sondern offen militärischen Kampf beherrscht; alles wurde dem Sieg untergeordnet.
Wäre Lenin jener Opportunist gewesen, den man aus ihm seit vierzig Jahren zu machen versucht, dann hätte er keine einzige Minute damit verloren, unter den Beifallserklärungen eine Auswahl zu treffen. Von einer Welt grausamer Feinde umgeben, hätte er ohne Vorbehalte alle Freunde akzeptiert, denn die Bourgeoisie, durch den Terror der roten Diktatur zur Weissglut gebracht, verhundertfachte ihre wilden Angriffe, und es war daher dringend, internationale Unterstützung zu finden.
Statt dessen schrieb Lenin jene Schrift für die Vorbereitung des I. Kongresses der Internationale, der für Juni 1920 einberufen worden war. Aus den Lehren der Geschichte wusste er genau – und gerade das beweist jene Schrift in erster Linie –, dass der russische Sieg möglich gewesen war, weil die Partei im Laufe ihrer Entstehung und Vorbereitung ohne Rücksicht und Erbarmen zwischen Feinden und Verbündeten unterschieden hatte. Seine erste Sorge lag darin, die revolutionäre Weltpartei auf rigorosen theoretischen, programmatischen und organisatorischen Grundlagen zu bilden, und dafür war er bereit, Scharen von ausländischen Anhängern zurückzuweisen.
Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird dieser Selektionseingriff mit den politischen Begriffen des bürgerlichen Parlamentarismus geschildert. Der Zentrismus, der Kautskysmus, viele Elemente, die zwischen der I. und der III. Internationale schwebten und in letztere gern eingedrungen wären, um sie von innen auszuhöhlen, stellten eine Gefahr von »rechts« dar. Das war klar, und auf diese Elemente hatte Lenin bereits mit aller Härte eingeschlagen. Aber noch andere Aufnahmewünsche waren aufmerksam zu überprüfen, nämlich jene, die im politischen Jargon von »links« kamen: Anarchisten verschiedener Couleur und sogenannte revolutionäre Syndikalisten aus der Schule Sorels.
Alle diese Elemente bejahten die Anwendung der bewaffneten Gewalt im Klassenkampf und hatten sich deshalb auf die Seite Russlands geschlagen. Lenin aber wusste nur allzu gut, dass die Ekstase, in die viele Dummköpfe (als Einzelne oft typische Pantoffelhelden) angesichts von Schlägereien und Schiessereien geraten, mit der revolutionären Position absolut nichts zu tun hat. Er wusste, dass diese Elemente, die man aus einem groben Irrtum »Linke« nennt, sehr oft aus dem Proletariat stammen und trotz ihrer Fehler ernsthaft und aufrichtig sind; er wusste aber ebensogut, dass es nicht darum ging, moralische Freisprüche zu verkünden, sondern die revolutionären Kräfte zu organisieren. Und nur gegenüber solchen Abweichlern benutzte er mildere Worte als gegenüber den rechten Opportunisten, obwohl es in beiden Lagern irregeleitete Arbeiter und »intellektuelle« Möchtegernführer gab.
Die Grundgefahr dieses superfalschen Linksradikalismus besteht in der Ablehnung der wesentlichen Lehren der russischen Revolution hinsichtlich des Staates und der Partei als wichtigste Waffen während einer langen historischen Phase der Revolution. In der I. Internationale hatten Marx und Engels die Theorie und die Organisation der Anarchisten polemisch erledigt. Lenin zeigt in seiner Schrift, dass der Anarchismus, als er in Russland vorherrschend gewesen war (1870 – 1880), sich als Abweg erwiesen hatte bzw. die Möglichkeit hatte,
»seine Unrichtigkeit, seine Untauglichkeit als führende Theorie der revolutionären Klasse restlos zu offenbaren«[5].
Was die Syndikalisten à la Sorel angeht, so waren sie als typische Erscheinung der romanischen Länder Lenin weniger bekannt. Die Kritik an ihrer Theorie war bis zum Ausbruch des I. Weltkrieges fast ausnahmslos (allerdings nicht in Italien) Sache der rechten Marxisten gewesen. (Im übrigen ist bekannt, dass auch Anarchosyndikalisten und selbst Anarchisten in den Sozialchauvinismus fielen – siehe Frankreich und Italien.)
Lenin stellte den Vormarsch dieser falschen Strömung in einem sogenannten linken Flügel der deutschen Kommunisten des Spartakusbundes, die sich in KPD und KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands) gespalten hatten, und in der holländischen Gruppe um die »Tribune« von Pannekoek und Gorter, fest.
Bei KAPD und »Tribune« handelte es sich um eine Strömung, die erklärtermassen mit der Oktoberrevolution sympathisierte. Warum also Lenins Besorgnis? Gerade weil Lenin kein Opportunist war, sondern ein Verteidiger der theoretischen Folgerichtigkeit.
Der falschen Linken in Russland und Frankreich gestand Lenin gewissermassen mildernde Umstände zu, hatten diese ja von jeher ausserhalb der marxistischen Tradition gestanden. Mit seiner genialen Intuition richtete er den Blick auf diejenigen, die sich nach wie vor Marxisten nannten, so wie heute unsere Stossrichtung gegen die erklärten… »Leninisten« geht. Lenin zitiert in diesem Zusammenhang eine Perle aus einem Artikel von Karl Erler mit dem erbaulichen Titel »Die Auflösung der Partei«:
»Die Arbeiterklasse kann den bürgerlichen Staat nicht zertrümmern ohne Vernichtung der bürgerlichen Demokratie, und sie kann die bürgerliche Demokratie nicht vernichten ohne die Zertrümmerung der Parteien«[6];
Kein Wunder, dass Lenin in die Luft geht:
»Die grössten Wirrköpfe unter den romanischen Syndikalisten und Anarchisten können ›zufrieden‹ sein: Solide Deutsche, die sich offenbar für Marxisten halten (…) versteigen sich zu ganz ungereimtem Zeug«[7].
Dadurch, dass sie jene Sozialisten einreihte, die die bewaffnete Gewalt als Mittel des proletarischen Klassenkampfes befürworteten, konnte sich die Kommunistische Internationale nicht ausreichend abgrenzen. Gerade die Gruppen, die sich darauf beschränkten, riefen bei Lenin einen berechtigten Verdacht hervor. Gewiss ist dieser Verdacht nicht so gross wie gegenüber den Rechten, denn Lenin schreibt an einer Stelle:
»Auf dem IX. Kongress unserer Partei (im April 1920) gab es eine kleine Opposition, die ebenfalls gegen die ›Diktatur der Führer‹, die ›Oligarchie‹ usw. auftrat. Daher hat die ›Kinderkrankheit‹ des ›linken Kommunismus‹ der Deutschen nichts Verwunderliches, nichts Neues, nichts Schreckliches an sich. Diese Krankheit geht gefahrlos vorüber, und der Organismus wird danach sogar kräftiger«[8].
So betrachtete Lenin die bekannte Kinderkrankheit. Die Gefahr, die von den Zentristen und »Rechten« ausging, war ganz anderer Natur. Das wusste Lenin sehr gut: Es war die »senile Krankheit« des Kommunismus, die den revolutionären Organismus später in den Tod führte, und zwar mit Folgen, die bei weitem verheerender sind als die der Todeskrise der zweiten Internationale.
Auf der Welle von Kommentaren, welche die russische Revolution auslöste, schwammen auch unsere Kritiker und Verleumder. Diese hatten von der grossartigen Theorie von Marx und Lenin über die Diktatur des Proletariats absolut nichts begriffen. In einem grossen Chor, der von den rechten Bourgeois bis zu den Demokraten und Anarchisten reichte, zeterten sie hauptsächlich gegen die »Diktatoren« oder gegen den Diktator Lenin.
Die Liberalen vergassen die kolossalen Figuren ihrer eigenen Diktatoren, wie Cromwell, Robespierre und Garibaldi. Unter den Anarchisten gab es viele Leute, die mit dem Ausruf »Trauer oder Jubel?« auf Lenins Tod reagieren sollten. Die Linken aus Holland, Deutschland und anderen Ländern schreckten vor der »Diktatur« zurück. Lenin hat sehr richtig gezeigt, dass dies auf ihre durch und durch demokratische und kleinbürgerliche Mentalität zurückzuführen war, dieselbe, die auch der Entrüstung der Zentristen Kautsky & Co. und aller dieser Idioten zugrunde lag bzw. liegt, die seitdem unentwegt ausrufen: Sozialismus bedeutet nur Demokratie für alle, Freiheit für alle! Und wenn man bedenkt, dass heute gerade diese dreckigen Originale »im Namen Lenins« sprechen und dauernd erklären, dieser hätte den »Linksradikalismus« gegen uns echte linke Marxisten geschrieben! In Wirklichkeit beweist gerade diese Schrift, dass Lenin in der Frage der Diktatur keine Zaghaftigkeit akzeptierte, dass er keine prinzipielle Unterscheidung zwischen Diktatur des Proletariats, Diktatur der Partei und selbst Diktatur von bestimmten Personen anerkannte.
So im V. Kapitel, das die Überschrift trägt: »Der ›linke‹ Kommunismus in Deutschland – Führer – Partei – Klasse – Masse«. Lenin zitiert ausführlich eine Broschüre der linken deutschen Kommunisten, in der die bodenlose Alternative gestellt wurde:
»Ist grundsätzlich die Diktatur der Kommunistischen Partei oder die Diktatur der proletarischen Klasse anzustreben?«,
die diese »Linken« in folgendem Gegensatz auflösten: auf der einen Seite die »Führerpartei«, die »von oben« handelt, auf der anderen Seite die »Massenpartei«,
»die das Emporschlagen des revolutionären Kampfes von unten erwartet«.
Der Wesenszug der Kritik Lenins an diesem Punkt besteht in der Feststellung, dass der Verzicht auf die Parteiherrschaft, die jene Kommunisten dermassen aus der Fassung brachte, gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf die Diktatur des Proletariats und auf die Revolution schlechthin, und dass man durch die Abschaffung der »Führer« aus blosser Angst vor diesem Wort zum selben Ergebnis gelangt.
Unsere Partei ist anders als alle anderen Parteien; unser Apparat besteht aus revolutionären Militanten und ist grundverschieden von der Organisation aller anderen Bewegungen, die auf Personenkult und Werbungsmaschinen beruhen.
Lenin lieferte uns keine philosophische Bestimmung der Begriffe Masse, Klasse, Partei und Führer. Dafür sah er die Sache viel zu klar, und die Zeit drängte. Die systematische Unterscheidung erfolgte auf anderer Ebene, und desto besser verwirft seine Schrift jedes Zögern hinsichtlich der Notwendigkeit der Diktatur als Diktatur der Partei und in gewissen extremen Situationen auch als Diktatur bestimmter Parteiführer. Genau dies erfüllt seitdem jeden Spiessbürger mit einem fürchterlichen Schrecken, der ihn allerdings nicht daran hindert, sich bereitwillig vor dem erstbesten »Führer« – oder, wie wir es zu sagen pflegen, vor dem erstbesten Trottel – auf die Knie zu werfen.
Sämtliche Überlegungen Lenins stehen in einem einzigen Zusammenhang mit der Notwendigkeit der »illegalen« Organisation. Alles andere als Wahlämter und Mehrheitsentscheidungen!
»Schon allein die Fragestellung: ›Diktatur der Partei oder Diktatur der Klasse? – Diktatur (Partei) der Führer oder Diktatur (Partei) der Massen?‹ zeugt von einer ganz unglaublichen. und uferlosen Begriffsverwirrung. (…) Jedermann weiss, dass die Massen sich in Klassen teilen; dass man Massen und Klassen nur dann einander gegenüberstellen kann, wenn man die überwiegende Mehrheit schlechthin, nicht gegliedert nach der Stellung in der sozialen Ordnung der Produktion, den Kategorien gegenüberstellt, die in der sozialen Ordnung der Produktion eine besondere Stellung annehmen; dass die Klassen gewöhnlich und in den meisten Fällen, wenigstens in den modernen zivilisierten Ländern, von politischen Parteien geführt werden; dass die politischen Parteien in der Regel von mehr oder minder stabilen Gruppen der autoritativsten, einflussreichsten, erfahrensten, auf die verantwortungsvollsten Posten gestellten Personen geleitet werden, die man Führer nennt. Das alles sind Binsenwahrheiten. Das alles ist einfach und klar«[9].
Diese glasklaren Worte rufen Engels Entgegnung auf die spanischen Anarchisten ins Gedächtnis zurück: eine Revolution ist die autoritärste Sache, die es gibt; die Revolution einer Klasse ist ein Krieg, ein Bürgerkrieg; man braucht eine Armee, einen Generalstab und nach dem Sieg einen Staat, eine Regierung und Regierungsführer.
Wie Lenins Text erklärt, wurde die Begriffsverwirrung dadurch ausgelöst, dass man im Nachkriegsdeutschland nach einer langen Periode der vollen Legalität sich mit der Notwendigkeit konfrontiert sah, sich auf eine Situation der Illegalität einzustellen:
»Als man, infolge des stürmischen Verlaufs der Revolution und der Entwicklung des Bürgerkriegs, von diesem Gewohnten rasch zum Wechsel von Legalität und Illegalität, zu ihrer Kombinierung, zu ›unbequemen‹, ›undemokratischen‹ Methoden der Aussonderung oder Bildung oder Erhaltung von ›Führergruppen‹ übergehen musste – da gerieten die Leute ausser Fassung und begannen hanebüchenen Unsinn auszuhecken«[10].
Durch den Verrat, den die Sozialisten 1914 begangen hatten, wurde überhaupt das Vertrauen vieler ausgezeichneter Proletarier zu den Führern im allgemeinen erschüttert. Lenin erinnerte daran, dass die Entartung der Führer eine alte Sache war, die die Marxisten seit langem erklärt hatten, und dass man mit der Gegenüberstellung von Massen und Führern kein Problem lösen würde. Es geht nicht um gute Massen und böse Führer, sondern um Degenerationsprozesse, die sowohl die Führer als auch die Massen ergreifen.
»Die Hauptursache dieser Erscheinung haben Marx und Engels in den Jahren 1852–1892 viele Male am Beispiel Englands erläutert. Die Monopolstellung Englands hatte dazu geführt, dass sich aus der ›Masse‹ eine halb kleinbürgerliche, opportunistische ›Arbeiteraristokratie‹ absonderte. Die Führer dieser Arbeiteraristokratie gingen in einem fort auf die Seite der Bourgeoisie über und wurden – direkt oder indirekt – von ihr ausgehalten. Marx zog sich den ehrenvollen Hass dieses Gesindels dadurch zu, dass er sie offen als Verräter brandmarkte. Der moderne Imperialismus (des 20. Jahrhunderts) hat für einige fortgeschrittene Länder eine privilegierte Monopolstellung geschaffen, und auf dieser Grundlage hat sich überall in der I. Internationale der Typus der verräterischen Führer, der Opportunisten, der Sozialchauvinisten herausgebildet, die die Interessen ihrer Zunft, ihrer dünnen Schicht der Arbeiteraristokratie vertreten. Es kam zu einer Isolierung der opportunistischen Parteien von den ›Massen‹, d.h. von den breiten Schichten der Werktätigen, von ihrer Mehrheit, von den am schlechtesten entlohnten Arbeitern. Der Sieg des revolutionären Proletariats ist unmöglich ohne Kampf gegen dieses Übel, ohne Entlarvung, Brandmarkung und Vertreibung der opportunistischen, sozialverräterischen Führer. Das ist denn auch die Politik der III. Internationale«[11].
Welcher Marxist könnte je diese historisch fundierte Position mit der anarchistischen Kinderei verwechseln, derzufolge das Übel in der Partei und in den berühmten »Führern« besteht?
Es handelte sich um eine prinzipielle und programmatische Frage, keineswegs um eine Frage der unmittelbaren Taktik, geschweige denn der »nationalen« bzw. »deutschen« Taktik. Die historische Tatsache, dass es Führer und ganze Parteien gegeben hat, die trotz Berufung auf das Proletariat und auch auf den Marxismus auf die Seite des Klassenfeindes übergelaufen sind, darf keinesfalls dazu verleiten, die Waffe Partei und die Waffe – wenn wir sie so nennen wollen – »Führer« auf den Schrotthaufen zu werfen. Die marxistische Theorie hat diesbezügliche Einwände immer widerlegt: siehe das »kommunistische Manifest«, das die Organisation des Proletariats zur Klassenpartei fordert, die Statuten der I. Internationale, denen zufolge die Klassenpartei in Opposition zu allen anderen steht, die Schriften von Marx und Engels über die Revolution und Konterrevolution in Deutschland usw. usf.
Heute können wir noch etwas hinzufügen, denn inzwischen hat sich etwas ereignet, das zu Marx’ und Lenins Zeiten noch nicht geschehen war: Ein »Staat«, der aus einem proletarischen Sieg hervorgegangen war, nämlich der russische, entartete bis hin zum Überlaufen auf die Seite des Klassenfeindes in der Aussenpolitik (Kriegsbündnisse) und gleichwohl in der Innenpolitik (ökonomische und soziale Massnahmen im Sinne der Erhaltung des Kapitalismus). Daraus geht hervor – und es wäre idiotisch, dies zu verkennen –, dass der heutige Opportunismus etwas vollbracht hat, das tausendmal schrecklicher ist als die Taten seiner Vorfahren, mit denen sich Marx und Lenin zu schlagen hatten: Er hat nicht nur die Parteien und Militanten des Proletariats mit Dreck überschüttet, sondern sogar die erste proletarische Diktatur. Diese Tatsache kann man jedoch nicht einfach damit erklären, dass der Mensch korrumpierbar ist, das Proletariat korrumpierbar ist, der Sozialist und Kommunist korrumpierbar ist, die Partei ebenfalls und der proletarische Staat dito. Denn nicht weil das Fleisch schwach ist oder aus anderen moralischen Gründen, sind sie alle korrumpierbar, sondern unter dem Druck von realen, historisch gegebenen Kräfteverhältnissen. Und eben deshalb ist die Aussage grundfalsch, die Macht sei eine Scheisse, korrumpiere alle und jeden usw.
Für Marx und Lenin war eine solche theoretische Irrlehre nichts Neues, und sie haben sie auch für immer zertrümmert. Lenin konnte in den prinzipiellen Fehlern der deutschen »Linken« dieselbe irrtümliche Auffassung wiedererkennen: Verteufelung der Macht. Wir Kommunisten müssen im Gegenteil lernen, wie man mit diesen komplizierten Waffen umgeht: mit den Menschen, der Partei, dem Ruder der Staatsmacht. Das Problem liegt darin, den historischen Weg zu zeigen, durch den unsere politischen Militanten, unsere revolutionäre Partei und unser Staatsapparat grundverschieden von allen anderen, teilweise selbst von den proletarischen, die es in der Vergangenheit gegeben hat, sein werden und sich der idealtypischen Form, die unsere Theorie entwarf, annähern werden.
Lenin, der dieses Problem in unübertrefflicher Form gestellt hat, als sterblicher Mensch jedoch die praktische Verwirklichung der richtigen Lösung nicht erleben konnte, verstand sofort, dass die deutschen Linken, nachdem sie einmal die Rolle der Partei in Frage gestellt hatten, nun zwangsläufig auch die Rolle des proletarischen Staates bestreiten würden: Sie hatten ganz einfach den historischen Charakter der Diktatur, den der Marxismus ohne Für und Wider verkündet, theoretisch nicht verstanden. Warum sollte man die Partei schnellstens auflösen? Um keine Verräter mehr zu haben. Warum musste man schliesslich auch den Staat auflösen? Um die berühmten »zersetzenden Versuchungen der Macht« zu vermeiden. Eine irrtümliche, kleinbürgerliche Auffassung.
Die Gefahr, gegen die Lenin auftrat, war keineswegs der taktische Fehler, von dem im zweiten Teil dieser Arbeit die Rede sein wird, sondern ein grundlegender prinzipieller Fehler – und darum geht es uns hier. Einem derartigen Fehler kann man nicht allein mit inneren Organisationsmassnahmen in der Partei abhelfen, zumal nicht, wenn es sich wie zum damaligen geschichtlichen Zeitpunkt darum handelt, die »Gründungsmassnahmen« der neuen kommunistischen Weltpartei zu treffen. In einer solchen Phase ist in der Regel jede Begeisterung für einen wachsenden Anhängerstrom fehl am Platze, und man kann die Fehler am besten dadurch vermeiden, dass man an die Spaltungen und an die so diffamierten »Säuberungen« gründlich und ohne falsche Zurückhaltungen herangeht. Bevor wir aber diesen Teil der Arbeit abschliessen, ist es angebracht, einen grossartigen Passus aus Lenins Schrift wiederzugeben, aus dem eindeutig hervorgeht, dass die Diktatur keine Augenblickssache ist, sondern während einer langen und harten historischen Phase aufrechterhalten werden muss. Sie ist kein »Ausnahmezustand«, wie man es im heutigen Jargon sagen würde, sondern das Herz, der Sauerstoff, der Nährboden unserer Lehre und unseres Kampfes.
»Die Versuche (…), die Entbehrlichkeit und die ›Bürgerlichkeit‹ der politischen Parteien überhaupt zu proklamieren – das sind bereits solche Herkulessäulen der Absurdität, dass man nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann. Hier sieht man wahrhaftig: aus einem kleinen Fehler kann man stets einen ungeheuerlich grossen machen, wenn man auf dem Fehler beharrt, wenn man ihn… ›zu Ende führt‹.
Verneinung des Parteibegriffs und der Parteidisziplin – das ist es, was bei der Opposition herausgekommen ist. Das aber ist gleichbedeutend mit völliger Entwaffnung des Proletariats zugunsten der Bourgeoisie. Das ist gleichbedeutend eben mit jener kleinbürgerlichen Zersplitterung, Unbeständigkeit und Unfähigkeit zur Konsequenz, zur Vereinigung, zu geschlossenem Vorgehen, die unweigerlich jede proletarische Bewegung zugrunderichten wird, wenn man ihr die Zügel schiessen lässt«[12].
Die weiteren Ausführungen dieses Absatzes sind so klassisch, sie stimmen ausserdem so wortwörtlich mit den Thesen der marxistischen Linken Italiens überein (und diese Arbeit soll dem Beweis dieser Übereinstimmung dienen), wie wir sie heute vertreten, wie wir sie vertreten haben, als Lenin noch lebte, und vertreten hatten, als sich unsere italienische Bewegung noch nicht der neuen Internationale und Lenin angeschlossen hatte (der Anschluss erfolgte gerade während jener Monate des Jahres 1920, in denen sich Lenin persönlich dafür einsetzte, dass ein Delegierter der kommunistischen wahlboykottistischen Fraktion der Sozialistischen Partei, die in der »demokratisch gewählten« Delegation nicht vertreten war, nach Moskau mitkam), dass wir uns erlauben werden, öfters Hervorhebungen zu machen (Lenins eigene Hervorhebungen werden als solche gekennzeichnet).
»Den Parteibegriff unter dem Gesichtspunkt des Kommunismus verneinen, heisst einen Sprung machen von der Vorstufe des Zusammenbruchs des Kapitalismus (in Deutschland) nicht nur zur niederen und nicht zur mittleren, sondern zur höheren Phase des Kommunismus. Wir in Russland erleben (im dritten Jahr nach dem Sturz der Bourgeoisie) die ersten Schritte des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus oder zur niederen Phase des Kommunismus. Die Klassen sind bestehengeblieben und werden überall nach der Eroberung der Macht durch das Proletariat jahrelang bestehen bleiben (Hervorhebungen Lenin). Höchstens in England, wo es keine Bauern (immerhin aber Kleinbesitzer!) gibt, wird diese Frist kürzer sein. Die Klassen aufheben heisst nicht nur die Gutsbesitzer und Kapitalisten davonjagen (oder hinrichten, Anmerkung IKP) - das haben wir verhältnismässig leicht getan –, das heisst auch die kleinen Warenproduzenten beseitigen (Lenin unterstreicht), diese aber kann man nicht davonjagen (dito), man kann sie nicht unterdrücken, man muss mit ihnen zurechtkommen; man kann (und muss) sie nur durch eine sehr langwierige, langsame, vorsichtige organisatorische Arbeit ummodeln und umerziehen. Sie umgeben das Proletariat von allen Seiten mit einer kleinbürgerlichen Atmosphäre, durchtränken es damit, demoralisieren es damit, rufen beständig innerhalb des Proletariats Rückfälle in kleinbürgerliche Charakterlosigkeit, Zersplitterung, INDIVIDUALISMUS, abwechselnd Begeisterung und Mutlosigkeit hervor. Innerhalb der politischen Partei des Proletariats sind strengste Zentralisation und Disziplin notwendig, um dem zu widerstehen, um die organisatorische Rolle des Proletariats (das ist aber seine Hauptrolle) richtig erfolgreich und siegreich durchzuführen (die zwei letzten Hervorhebungen sind von Lenin und bedeuten gleichzeitig, dass die Halbproletarier während des Machtkampfes wohl behilflich sein können, danach aber zunehmend desorganisierend und dezentralisierend wirken; nächste Hervorhebungen IKP). Die Diktatur des Proletariats ist ein zäher Kampf, ein blutiger und unblutiger, gewaltsamer und friedlicher, militärischer und wirtschaftlicher, pädagogischer und administrativer Kampf gegen die Mächte und Traditionen der alten Gesellschaft. Die Macht der Gewohnheit von Millionen und aber Millionen ist die fürchterlichste Macht. Ohne eine eiserne und kampfgestählte Partei, ohne eine Partei, die das Vertrauen alles dessen geniesst, was in der gegebenen Klasse ehrlich ist (dies ist so zu verstehen, dass in der Klasse, ebenso wie in den Massen krankhafte Überbleibsel, Opfer konterrevolutionärer Einflüsse vorhanden sind, die, wenn sie nicht mit pädagogischen Mitteln behandelt werden können, im Prinzip auch ohne Gefühlsduselei repressiv zu behandeln sind), ohne eine Partei, die es versteht, die Stimmung der Massen zu verfolgen und zu beeinflussen (keineswegs erleiden! IKP), ist es unmöglich, einen solchen Kampf erfolgreich zu führen. Es ist tausendmal leichter, die zentralisierte Bourgeoisie (m.a.W. die monopolistische und faschistische Bourgeoisie, IKP) zu besiegen, als die Millionen und aber Millionen der Kleinbesitzer zu besiegen; diese aber führen durch ihre alltägliche, tagtägliche, unmerkliche, unfassbare, zersetzende Tätigkeit eben jene (Hervorhebung Lenin) Resultate herbei, welche die Bourgeoisie braucht, durch welche die Macht der Bourgeoisie restauriert (Hervorhebung Lenin) wird. Wer die eiserne Disziplin der Partei des Proletariats (besonders während seiner Diktatur) auch nur im geringsten schwächt, der hilft faktisch der Bourgeoisie gegen das Proletariat«[13].
Mit diesen unmissverständlichen und entschiedenen Worten wollte Lenin eine andere irrige Auffassung der linken Kommunisten aus dem Weg räumen. Diese dachten, dass die Arbeiterräte (Sowjets) ein Parteiersatz wären, und dass die Entstehung von Sowjets, die ja der proletarischen Diktatur gleichkommt, da die Bourgeois vom sowjetischen Wahlrecht ausgeschlossen sind, zur »Auflösung der politischen Partei« berechtigen würde; die Sache ging so weit, dass viele »Linken« vorschlugen, die Sowjets vor dem revolutionären Kampf zu bilden. Seit 1919 hatte die italienische Linke diese antimarxistische These entschieden bekämpft, und der I. Weltkongress der Kommunistischen Internationale hat sie auch in dem Beschluss über die Sowjets und über die Fabrikräte verurteilt – darauf kommen wir aber später zurück.
Im Laufe dieser letzten Tage hat die Presse des stalinistischen Opportunismus den vierzigsten Jahrestag der Veröffentlichung des »Linksradikalismus« »begangen«. Diese Bande denkt wohl nur an Feierlichkeiten und an den Terminkalender, in dem alle Geburtstage, Namenstage, silberne Hochzeiten und ähnliche Belanglosigkeiten zwecks rechtzeitigem Katzbuckeln eingetragen sind. Selbstverständlich interessieren am »Linksradikalismus« nur die Stellen, die seit langem und immer verdreht gegen die italienische Linke zitiert und benutzt werden, obwohl sie vor allem Lob enthalten. Mit diesem Punkt werden wir uns aber nur nebenbei beschäftigen, denn im Fahrwasser Lenins geht es uns nach wie vor darum, die internationale Methode und nicht die italienische Provinz in den Mittelpunkt zu stellen.
Man muss sich vor Augen halten, dass Lenin die Fragen der unmittelbaren oder nationalen Taktik lediglich als Beispiel nahm, an denen man prinzipielle Fragen der Bildung und der Strategie der internationalen revolutionären Bewegung klären konnte; sein Blick war unentwegt auf die Belange der Weltrevolution und der Organisation der kommunistischen Weltpartei gerichtet.
Wir werden zeigen, dass die italienische Linke ihm bei der Durchführung dieser lebenswichtigen Aufgabe zur Seite stand, dass sie besser als sonst irgendeine Strömung den Kern seiner Überlegungen verstand. Es ist seit langem ein bequemer Trick, die Positionen der italienischen Linke mit denen der deutschen und holländischen in einen Topf zu werfen[14]. Daher, und obwohl dieser Aufsatz zwangsläufig länger sein wird, werden wir zwecks einer besseren Übersichtlichkeit die taktischen Folgerungen, die, wie es allgemein bekannt ist, seinerzeit an den Deutschen und Holländern angeprangert wurden, schon jetzt kurz behandeln.
Zwei praktische Punkte kennzeichneten die deutsche Opposition. Zunächst vertrat sie die Auffassung, dass die Kommunisten die opportunistischen Gewerkschaften, die damals »reaktionär« genannt wurden, verlassen sollten. Diesbezüglich hatte sie mit den italienischen Kommunisten nichts Gemeinsames. In Italien gab es sogar linke Gewerkschaften anarchistischer Observanz, die ungefähr denen entsprachen, die die KAPD in Deutschland bilden wollte. Wir haben aber niemals die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung befürwortet und arbeiteten in der erzreformistischen CGL[15], um deren Führer fortzujagen. Also haargenau die von Lenin befürwortete Taktik. Bei dieser Frage hängt die taktische Lösung unmittelbar mit den Prinzipien zusammen. Primär sind nicht die Gewerkschaften, sondern ist die Partei der Träger der revolutionären Funktion. Um die neue, kommunistische Partei zu bilden, musste man daher die alte, sozialistische Partei spalten und nicht die rechten oder sonstigen Gewerkschaften boykottieren; man musste damals im Gegenteil die Einheitsgewerkschaft fordern. Diese ganze Linie wurde selbstredend von Lenin bestätigt.
Der zweite Fehler der deutschen Linken war der Boykott der Parlamentswahlen. So ist es, schreit der Philister: bei dieser Frage musste Lenin Deutsche und Italiener gleichermassen bekämpfen. Lenin aber wusste – und hierfür steht seine ganze Arbeit der politischen Erziehung des Proletariats gerade –, dass es sich um zwei verschiedene Positionen handelte.
Der gewöhnliche Trottel kann nur schwer verstehen, dass es eine Sache ist, wenn man die primäre Rolle der kommunistischen Partei im revolutionären Kampf und im Staat negiert, um sie anderen, spontanen proletarischen Organisationen, wie Gewerkschaften, Räten aller Art und Sowjets zu übertragen (darin liegt der Spontaneismus, unser Hauptgegner), und von dieser Negation des politischen Kampfes dann auch die Negation des parlamentarischen Kampfes ableitet, und eine völlig andere Sache, wenn man sagt, dass in bestimmten geschichtlichen Wenden legalistische und revolutionäre Politik im Gegensatz zueinander stehen. Über diesen Punkt haben wir uns mit Lenin auseinandergesetzt und keine Einigung erzielen können; wir haben aber seine Lösung aus Disziplin angenommen.
Nichts leichteres, als zum Schluss dieser Arbeit oder in einer anderen Arbeit über den Parlamentarismus zu beweisen, dass Lenin und wir von denselben Prinzipien ausgingen und lediglich eine taktische Meinungsverschiedenheit miteinander hatten, während die heutigen Verräter auch in der Frage des Parlamentarismus Prinzipien vertreten, die denen Lenins bzw. unseren diametral entgegengesetzt sind. Worum ging es bei dieser Diskussion des I. Weltkongresses? Um den besten Weg, den Parlamentarismus zu vernichten. Lenin und die Mehrheit des Kongresses vertraten die Auffassung, dass diese Zerstörung nicht nur von aussen, sondern auch von innen vor sich gehen sollte. Man ist in die Parlamente reingegangen und sie stehen immer noch da – aber die Hofnarren, die sich als Leninisten ausgeben, schwören auf die Ewigkeit des Parlaments und sind immer bereit, sich in dessen Verteidigung zu schlagen. Sie werden dabei von den Massen gefolgt, die hinsichtlich dieses Punktes nicht weniger irregeleitet wurden und im sozialdemokratischen Glauben, einen »Weg zum Sozialismus« zu beschreiten, den Urnengang vollziehen.
Zwar sind die heutigen Zitatenpfuscher blosse Lehrlinge im Vergleich zu den stalinistischen Fälschermeistern. Um jedoch die ganze Entfernung zwischen unserer und ihrer Methode zu zeigen, werden wir die Broschüre von Lenin über den »Linksradikalismus« Kapitel nach Kapitel in geordneter Reihenfolge untersuchen und die programmatischen und prinzipiellen Positionen hervorheben.
Zunächst aber noch einige geschichtliche Tatsachen und die Inhaltsangabe. In den Leitsätzen des II. Kongresses über die Grundaufgaben der Kommunistischen Internationale wird unter Punkt 18 erklärt, dass die Ansichten einer Reihe von Bewegungen über die Beziehungen zwischen Partei, Klasse und Masse als unrichtig anzusehen sind: Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) und teilweise »Kommunistische Partei der Schweiz«, die ungarische Zeitschrift »Der Kommunismus« (die trotz ihres schönen Kampfes für die russische Revolution unter idealistischen Fehlern litt), holländische Genossen, die englische »Sozialistische Arbeiterföderation«, die »Industriearbeiter der Welt« (IWW) in Amerika, die »Shop Stewards Commitees« (Betriebsrätebewegung) in Schottland – soweit überhaupt nennenswert, wurden also alle diese Bewegungen namentlich zitiert. Es ist wahr, dass hier der Boykott der Gewerkschaften zusammen mit dem Boykott der Parlamente verurteilt wurde, es handelte sich aber voll und ganz um eine Stellungnahme orthodoxer Marxisten gegen den »Spontaneismus« den wir nach wie vor, auch in antistalinistischen Gruppen, bekämpfen.
Eine andere Einzelheit. In einer Versammlung vor dem Kongress wurde in Leningrad besprochen, ob diese Bewegungen zum Kongress als Sektionen oder nur als Zuhörer zugelassen werden sollten. Zu einer gewissen Verwunderung selbst der Russen meinte der Delegierte der italienischen Linke, sie sollten ausgeschlossen werden, denn es handelte sich ja um den Kongress der Internationale der politischen Parteien, und diese könnte nur kommunistische Parteien aufnehmen. Diese Frage wurde dann in den Aufnahmebedingungen der Internationale, in den berühmten »21 Punkten« grundlegend geklärt.
Wir wollen also Lenins Buch über den »Linksradikalismus« anwenden? Gut. Man muss das Buch lesen, richtig lesen. Den allgemeinen geschichtlichen Rahmen haben wir gezeichnet. Der Inhalt ist folgender:
»1. In welchem Sinne kann man von der internationalen Bedeutung der russischen Revolution sprechen?
2. Eine der Grundbedingungen des Erfolgs der Bolschewiki.
3. Die Hauptetappen in der Geschichte des Bolschewismus.
4. Im Kampf mit welchen Feinden innerhalb der Arbeiterbewegung hat sich der Bolschewismus entwickelt, gekräftigt und gestählt?
5. Der ›linke‹ Kommunismus in Deutschland. Führer – Partei – Klasse – Masse.
6. Sollen Revolutionäre in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten?
7. Soll man sich an den bürgerlichen Parlamenten beteiligen?
8. Keinerlei Kompromisse?
9. Der ›linke‹ Kommunismus in England
10. Einige Schlussfolgerungen.
Nachtrag:
1. Die Spaltung der deutschen Kommunisten.
2. Die Kommunisten und die Unabhängigen in Deutschland.
3. Turati und Co. in Italien.
4. Falsche Schlüsse aus richtigen Voraussetzungen«.
Fassen wir noch einmal das Gesagte zusammen, Lenin sah sich in einer bestimmten, bereits umrissenen geschichtlichen Lage veranlasst, dieses Buch zu schreiben; die ausserordentliche Bedeutung des Buches geht weit über die damalige Zeit hinaus, weil darin Thesen aufgestellt werden, die allgemeingültig sind (und die die selbsternannten Leninisten unserer Tage dauernd mit Füssen treten); wir haben uns bei dem 5. Kapitel aufgehalten, um Lenins wichtigste Zielscheibe zu zeigen, nämlich die Gefahr einer Unterschätzung der grundlegenden, primären Rolle der Partei sowie der Vorbehalte gegenüber der Parteidiktatur; Lenin lieferte dabei eine wahrhaft klassische Kritik der missbrauchten spontaneistischen und ouvrieristischen »Ablehnung der Politik«, die der orthodoxe Marxismus seit eh und je bekämpft.
In der Folge werden wir auf die anderen Punkte eingehen. Zur Frage des Parlamentarismus werden wir zeigen, wie Lenins Taktik jeweils Boykott und Beteiligung vorsieht; wir werden in diesem Zusammenhang an die Geschichte der italienischen Partei erinnern, insbesondere an die lächerliche Phase des »Aventin«[16], in der die zentristische Parteiführung das Parlament zusammen mit allen möglichen Verrätern und Bourgeois verliess, während die aus der Parteiführung bereits verdrängte Linke sie zur Rückkehr in das Parlament zwang. Es wird auch von einer Stelle die Rede sein, in der Lenin erklärt, dass die italienischen Wahlboykottisten vielleicht doch richtig gehandelt hätten, wenn sie sich bereits im Oktober 1919 auf dem Kongress von Bologna von der überwiegenden Parteimehrheit gespalten hätten, denn dieser ging es nicht so sehr um die Wahlbeteiligung an sich, sondern vielmehr um die Wahlbeteiligung mit Turati.
Zur Theorie des Kompromisses werden wir darauf hinweisen müssen, dass es sich um die Ablehnung des Friedens von Brest-Litowsk seitens der »Linken« handelte, während die italienische Linke, die zum gegebenen Zeitpunkt noch keine Verbindung zu den Bolschewiki hatte, von sich aus dieselbe These von der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit den deutschen Banditen und nicht die des revolutionären Krieges bis zur Selbstvernichtung vertrat[17].
Was die Frage der Gewerkschaften und der Betriebsräte angeht, wird man leicht zeigen können, dass die Internationale die These bekämpfte, die in Italien von Gramsci und seiner »Ordine Nuovo«-Gruppe, deren Orthodoxiebemühungen schon immer verdächtig waren, vertreten wurde.
Wir geben zu, dass unsere Art und Weise, Marx und Lenin zu lesen, keine leichte Kost ist. Anders kann man sich aber gegen die alles ansteckende opportunistische Pest nicht wehren.
Wer auf Effekthascherei aus ist und an Gemeinplätzen und Zitatmogelei seine Freude findet, der kann sich auf dem Misthaufen einen bequemen Platz suchen.
Notes:
[prev.] [content] [end]
Siehe den Vortrag »Lenin nel cammino della rivoluzione« (24. Februar 1924), Neudruck in der italienischen Broschürenausgabe der hier veröffentlichten Schrift, Edizioni »Il Programma Comunista«, Milano 1973. [⤒]
Siehe, zum Beispiel, die in deutscher Übersetzung erschienenen Texte »Bilanz einer Revolution« oder »Warum Russland nicht sozialistisch ist«. [⤒]
LW, Band 31, S. 17; EA, Dietz, S.18. [⤒]
Lenin zitiert hier in einer Anmerkung den Artikel »Die Auflösung der Partei« aus der »Kommunistischen Arbeiterzeitung« (Nr. 32, Hamburg, 7. Februar 1920). Er schliesst die Anmerkung mit dem Satz:
»Die blosse Anerkennung des Marxismus befreit noch nicht von Fehlern. Das wissen die Russen besonders gut, denn bei uns war der Marxismus besonders oft ›Mode‹.« (LW, Band 31, S.28; EA, Dietz, S.30). [⤒]LW, Band 31, S.28; EA, Dietz, S.30. [⤒]
LW, Band 31, S.30; EA, Dietz, S.32. [⤒]
LW, Band 31, S.26; EA, Dietz, S.28. [⤒]
LW, Band 31, S.26/27; EA, Dietz, S.29. [⤒]
LW, Band 31, S.27; EA, Dietz, S.29/30; (Hervorhebung IKP). [⤒]
LW, Band 31, S.28; EA, Dietz, S. 30. [⤒]
LW, Band 31, S.29/30; EA, Dietz, S.31/32. [⤒]
Ein Trick, den auch aufs trefflichste die sogenannte IKS (»Internationale Kommunistische Strömung«) beherrscht, die ihre Wurzeln auf die Italienische Linke zurückkonstruiert, dabei aber ein Amalgam der schlimmsten Abweichungen der deutschen, holländischen und russischen Linken bewerkstelligt, in dem all das beinhaltet ist, was Lenin in seiner Schrift über die »Kinderkrankheiten« zurecht zurückweist. Das von der IKS vertretene Konstrukt eines »europäischen Linkskommunismus« dient lediglich dazu, sämtliche kleinbürgerlichen Vorurteile in den revolutionären Kommunismus hineintragen zu wollen (sinistra.net). [⤒]
CGL = »Confederazione Generale di Lavoro« (»Allgemeiner Arbeiterverband«). [⤒]
Nach der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti (August 1924) durch die machthabenden Faschisten schloss sich die KPI den demokratischen bürgerlichen Parteien an, die das Parlament aus Protest verliessen, um sich – wie man damals in Anlehnung an die plebejische Protestdemonstration auf dem Aventin-Hügel im alten Rom sagte – »auf das Aventin« zurückzuziehen. [⤒]
Hierzu siehe »Storia della Sinistra Comunista«, Edizione »Il Programma Comunista«, Mailand 1964, Bd. 1, S.342 ff. [⤒]