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II. WELTKONGRESS DER KOMMUNISTISCHEN INTERNATIONALE



Content:[2]

Erste Sitzung des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale am 19. Juli 1920.
Redebeitrag Sinowjew
Redebeitrag Sinowjew
Redebeitrag Bucharin
Redebeitrag Sinowjew
Redebeitrag Kalinin
Redebeitrag Sinowjew
Redebeitrag Lenin
Redebeitrag Sinowjew
Redebeitrag Rosmer
An die Proletarier von Petrograd
Redebeitrag Sinowjew
Redebeitrag Serrati
An die Rote Armee und die Rote Flotte der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.
Redebeitrag Sinowjew
Redebeitrag Steinhardt
An die Proletarier aller Länder.
Redebeitrag Marchlewski
Redebeitrag Sinowjew
Redebeitrag Levi
An die Proletarier und Proletarierinnen aller Länder!
Anmerkungen
Source


Erste Sitzung des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale am 19. Juli 1920.

Sinowjew: Genossen! Im Auftrag des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale erkläre ich den zweiten Weltkongress der Kommunistischen Internationale für eröffnet. (Stürmischer, lange anhaltender Beifall, Hurrarufe. Das Orchester spielt die »Internationale«.) Genossen, unser erstes Wort – das Wort der Arbeiter der ganzen Welt, die hier versammelt sind – muss dem Andenken unserer besten Freunde und Führer gewidmet sein, die für die Sache der Kommunistischen Internationale ihr Leben geopfert haben. Ihr wisst, dass es im Laufe dieses Jahres kein Land gegeben hat, in dem nicht das Blut kommunistischer Arbeiter und der besten Führer der Arbeiterklasse geflossen ist. Es genügt, uns die Namen unserer ungarischen Freunde ins Gedächtnis zu rufen, es genügt, an die Genossen Leviné, Tibor Szamuely, Jogiches und viele andere zu denken, welche den Revolutionären gefolgt sind, die gleich zu Beginn der deutschen und russischen Revolution gefallen sind. Finnland, Estland und Ungarn sind in dieser Zeit Hunderte und Tausende der besten Söhne der Arbeiterklasse ums Leben gekommen. Zur Eröffnung des Kongresses wollen wir vor allem das Andenken unserer besten Genossen, die für die Sache der Kommunistischen Internationale gestorben sind, ehren.

Ich schlage dem Kongress vor, sich zu Ehren der gefallenen Genossen zu erheben. (Alle erheben sich. Das Orchester spielt den Trauermarsch.)

Weiter wollen wir uns heute derjenigen Genossen erinnern, die im gegenwärtigen Augenblick in den Gefängnissen verschiedener bürgerlicher Republiken schmachten. Wir wollen unserer französischen Freunde, der Genossen Loriot, Monatte und einer Reihe anderer gedenken, die kurz vor dem Kongress ins Gefängnis geworfen wurden. Wir senden den zahlreichen Kämpfern der Arbeiterrevolution, die in den deutschen, ungarischen, französischen, englischen und amerikanischen Gefängnissen schmachten, herzliche Grüsse. Wir drücken den amerikanischen kommunistischen Arbeitern, die im letzten Jahre besonders grausam verfolgt worden sind, brüderlich die Hand. Die kommunistischen Arbeiter und die Revolutionäre überhaupt werden von der amerikanischen Bourgeoisie im buchstäblichen Sinne des Wortes ausgehungert. Unsere Freunde können dort keine Arbeit finden, man hält sie hinter Schloss und Riegel. Es gibt keine Grausamkeit, die nicht von der amerikanischen Bourgeoisie gegen die Arbeiter angewandt wird, die sich in den Reihen der Kommunisten oder in den Reihen der IWW oder anderer revolutionärer Organisationen befinden, die denselben Weg verfolgen, den die Kommunistische Internationale geht.

Wir drücken unsere feste Überzeugung aus, dass die Worte sich bewahrheiten werden, die ein französischer Genosse vor kurzem, nach der Verhaftung Loriots, Monattes und anderer gesprochen hat. Er sagte: Ja, wir durchleben eine Zeit, in der die regierende Bourgeoisie. die »Demokraten« und die sogenannten »Sozialisten« die besten Führer des Kommunismus ins Gefängnis werfen; wir sind jedoch überzeugt, dass die Rollen bald vertauscht werden und die Arbeiterklasse diejenigen, die heute in den bürgerlichen Regierungen sitzen, morgen ins Gefängnis bringen und diejenigen, die heute von der Bourgeoisie ins Gefängnis geworfen werden, morgen zur Macht bringen wird. (Beifall.)

Genossen, es ist erst einundeinviertel Jahr her, seit die Kommunistische Internationale gegründet wurde. Es ist durchaus verständlich, dass sie vor allem mit der II. Internationale, mit der wir in einen unmittelbaren Kampf traten, den Degen kreuzen musste. Freunde wie Feinde müssen angesichts des heutigen Kongresses, der im buchstäblichen Sinne des Wortes zum Weltkongress geworden ist, angesichts der Tatsache, dass an diesem Kongress die Vertreter von ganz Europa und auch von Amerika teilnehmen, die Tatsache anerkennen, dass unser Kampf gegen die II. Internationale von Erfolg gekrönt ist. Heute haben wir das volle Recht zu erklären, dass die II. Internationale von der Kommunistischen Internationale aufs Haupt geschlagen ist. (Stürmischer Beifall.)

Genossen, was bedeutet diese Tatsache? Was bedeutet das: wir haben die II. Internationale besiegt? Der Kampf zwischen uns und der II. Internationale, das ist kein Kampf zweier Fraktionen einer revolutionären proletarischen Bewegung, das ist nicht ein Kampf der Schattierungen, nicht ein Kampf der Strömungen innerhalb des einheitlichen Klassenlagers, das ist tatsächlich ein Kampf der Klassen. Gewiss gibt es in den Reihen der II. Internationale viele unserer Klassenbrüder. Und dessenungeachtet ist unser Kampf gegen die II. Internationale kein Kampf von Fraktionen innerhalb einer Klasse, sondern etwas bedeutend Grösseres.

Der Zusammenbruch der II. Internationale spiegelt den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung selbst wieder. Das ist der Angelpunkt, um den sich alles dreht. Wir haben die II. Internationale besiegt, weil die »Götterdämmerung« des Kapitalismus begonnen hat. Wir haben die II. Internationale besiegt, weil die Bourgeoisie nirgends in der ganzen Welt das Vermächtnis des imperialistischen Krieges liquidieren konnte und es können wird. Wir haben die II. Internationale besiegt, weil der Völkerbund und die ganze Entente und die gesamte Bourgeoisie machtlos sind, irgend etwas Ernstes für die Wiederherstellung des wirtschaftlichen Lebens von Europa zu tun. Wir haben die II. Internationale besiegt, weil die Bourgeoisie ohnmächtig ist, mit den Aufgaben fertig zu werden, die gebieterisch vor ihr stehen und die sie lösen muss, wenn sie nicht im historischen Sinne ihren Abschied nehmen will.

Die II. Internationale hat seit dem ersten Schuss im Jahre 1914 ihr Schicksal an das Geschick der Bourgeoisie geknüpft. Die Sozialpatrioten jedes Landes unterstützten ihre »eigene« Bourgeoisie und ihr »eigenes« bürgerliches »Vaterland«.

So ging es bis zum Ende des Krieges. Nach seiner Beendigung verknüpfte die II. Internationale ihr Schicksal wiederum mit der Bourgeoisie, dieses Mal mit der Gruppe der bürgerlichen Länder, die den Sieg im imperialistischen Kriege davongetragen hatte.

Ihr erinnert Euch der ersten Versuche zur Wiederherstellung der II. Internationale, als das imperialistische Blutbad aufgehört hatte. Ihr erinnert Euch der Konferenzen in Bern und Luzern, auf denen der sogenannte führende Teil der II. Internationale mit dem Völkerbunde »verwandt sein wollte«. Die Führer der »wiedererstehenden« II. Internationale hingen sich an die Rockschösse Wilsons. Ihr erinnert Euch, Genossen, dass auf dieser der Berner Konferenz der Vorsitzende bei der Eröffnung dieser Konferenz Wilson begrüsste und ihn neben Jaurès stellte eine Beleidigung des Schattens des gefallenen Tribunen der französischen Arbeiter. Die II. Internationale wünschte nach Beendigung des Krieges ihr Schicksal mit der Bourgeoisie zu vereinen, und zwar mit dem Teile, von dem die II. Internationale annahm, dass er der mächtigste sei – mit dem Völkerbunde. Das war ihr Wunsch. Daher haben die Schläge, die die Arbeiterklasse der ganzen Welt und ihre Vorhut, die Kommunistische Internationale, im Laufe dieses Jahres der Bourgeoisie versetzt hat, auch die II. Internationale getroffen. Die gelbe II. Internationale hat ihr Schicksal unlösbar an die vor unseren Augen untergehende Klasse gebunden. Eben deshalb ist unser Sieg über die II. Internationale von so grosser Bedeutung. Das ist, ich wiederhole, nicht der Sieg einer Fraktion der Arbeiterbewegung über eine andere, das ist nicht der Sieg einer Partei über eine andere. Nein, hier handelt es sich um etwas unvergleichlich Grösseres: jede Organisation, die ihr Schicksal an die bürgerliche Klasse zu knüpfen versucht, geht selbst unter. Dies ist der historische Sinn des Sieges der Kommunistischen Internationale über die II. Internationale. Die Arbeiterklasse ist als junge Klasse ein aufgehender Stern. Er erhebt sich zur Macht, während der Stern der Bourgeoisie, die sich an dem Blute der Arbeiterklasse verschluckt hat, ganz untergeht. Die Bourgeoisie ist altersschwach geworden und verfällt. Und wie ein Sterbender nach dem Lebendigen greift, so klammert sich die Bourgeoisie an die halbtote II. Internationale und würgt sie in ihren tödlichen Umarmungen. Sie gehen beide vor unseren Augen zugrunde. Die Bourgeoisie wie ihr Helfer, die gelbe Internationale, sind dem Untergange nahe (im historischen Sinne zählt ein Jahr eine Minute), beider Todesröcheln ist schon zu hören. Bald wird die Welt vom bürgerlichen Joch, von all den Organisationen, die die Arbeiterklasse in geistiger Gefangenschaft gehalten haben, befreit sein. Bald wird unsere internationale Arbeitergemeinschaft ruhig mit dem Bau der neuen Welt auf der Grundlage des Kommunismus beginnen können.

Genossen, im Laufe dieses Jahres ist die Idee der »Demokratie« vor unseren Augen verblichen und liegt jetzt in den letzten Zügen. Für das bedeutendste Dokument des Ersten Konstituierenden Kongresses der Kommunistischen Internationale, ja für das wichtigste Dokument der kommunistischen Bewegung der letzten Jahre überhaupt, halte ich die Leitsätze über die bürgerliche Demokratie, die vom ersten Kongress angenommen wurden. Diese Leitsätze sind durch die ganze Welt gegangen. Die Arbeiter der ganzen Welt, der aufgeklärte Teil der Bauern und Soldaten haben sie studiert. Und der Gang der Ereignisse im Laufe dieser 15–16 Monate hat auf Schritt und Tritt die Richtigkeit der Analyse bestätigt, die der erste Kongress der Kommunistischen Internationale in der in diesen Leitsätzen enthaltenen Bewertung der bürgerlichen Demokratie gegeben hat. Als die amerikanische Bourgeoisie vor den Augen der ganzen Welt alle ihre eigenen Gesetze, alle konstitutionellen Garantien für die Arbeiterklasse aufhob – es ist dahin gekommen, dass die nach allen Regeln der parlamentarischen Kunst auf Grund Gesetzes gewählten – Kommunisten nicht ins Parlament gelassen, sondern ins Gefängnis geworfen wurden als Amerika, dieses klassische Land der bürgerlichen Demokratie, auf Schritt und Tritt die Grundsätze der Demokratie verletzte, war dies eine anschauliche Lehre, wie sehr die Kommunistische Internationale recht hat, die in ihrem Programm und in ihren Leitsätzen auf die wirkliche historische Rolle der sogenannten Demokratie hingewiesen hat.

Genossen, wir haben den Weltkongress der Kommunistischen Internationale vor uns. Auf unserem Kongress ist die kampfbereite Vorhut der Arbeiter der ganzen Welt vertreten. Wir werden dem Weltkongress eine Reihe von Fragen stellen, die gegenwärtig im Schosse der internationalen kommunistischen Bewegung strittig sind. Wir haben zum Kongress eine ganze Reihe von Arbeiterorganisationen hinzugezogen, die noch nicht völlig kommunistisch genannt werden können, die sich noch kristallisieren. Die internationale Lage der Arbeiterklasse nach dem langen Kriege, nach der verzweifelten Krise ist derart, dass manche Arbeiterorganisationen am Scheidewege stehen; ihre Stimme bricht, wie dies bei Jünglingen der Fall ist. Sie haben noch nicht endgültig ihre Taktik festgestellt, sie haben den endgültigen Weg noch nicht gewählt. Wir haben alle die Arbeiterorganisationen zu gemeinsamer Arbeit mit uns aufgefordert, von denen wir überzeugt sind, dass sie ehrlich gegen den Kapitalismus kämpfen wollen.Wir werden mit ihnen sprechen wie mit unseren Kampf- und Leidensgefährten, wie mit unseren Klassenbrüdern, die bereit sind, mit uns zusammen ihr Leben für die Befreiung der Arbeiterklasse hinzugeben. Wir werden es nicht der II. Internationale gleichtun, die die anders gesinnten revolutionären Arbeiter nur auszulachen und zu hetzen verstand, die ein Janusgesicht zeigte: rechts – ein süssliches Lächeln, links – einen boshaft aufgerissenen Rachen. Wir sind fest überzeugt, dass das Leben schult. Der imperialistische Krieg hat die Arbeiter vieles gelehrt. Die ehrlichen revolutionären Elemente des Syndikalismus, Anarchismus, Industrialismus und der Shop Stewards werden auf die Seite des Kommunismus übergehen und tun es bereits. Unsere Sache ist es, ihnen zu helfen, dies schneller zu tun.

Andererseits nehmen an unserem Kongress die Vertreter der USPD, der Französischen Sozialistischen Partei, der Amerikanischen Sozialistischen Partei teil, die erst vor kurzem – endlich – die Reihen der II. Internationale verlassen haben. Mit den ehrlichen revolutionären Arbeitern, die sich in den Reihen dieser Parteien befinden, wollen wir gern einen kommunistischen Bund schliessen.

Genossen, Ihr wisst, dass in dem Masse, wie die Kommunistische Internationale sich verstärkt hat, gegen zehn grosse alte Parteien – ich werde ihre Namen nicht aufzählen – die Reihen der II. Internationale verlassen haben. Jetzt beginnt bereits ein neues Stadium: wir sehen, dass die alten Parteien nicht nur die II. Internationale verlassen, sondern schon unmittelbare Versuche machen, der Kommunistischen Internationale beizutreten. Eine Reihe von Vertretern dieser Parteien ist, wie ich schon gesagt habe, hier zugegen. Der kommunistische Kongress wird alle wunden Fragen vor den deutschen und französischen Arbeitern offen aufrollen. Der kommunistische Kongress wird auf keinen Fall irgend eine ideelle Unaufrichtigkeit zulassen, wird nicht im geringsten auf grundsätzliche Zugeständnisse eingehen. Die Grundfragen der proletarischen Revolution müssen scharf gestellt werden. Wir brauchen Klarheit, Klarheit und noch einmal Klarheit. Wir werden nicht zulassen, dass die Kommunistische Internationale einfach zur Mode wird. Die auf der Tagesordnung stehenden Fragen interessieren Millionen von Arbeitern. Wir werden den deutschen Arbeitern, die zur U.S.P., den französischen Arbeitern, die zur Französischen Sozialistischen Partei gehören, unsere Ansichten über alle akuten Tagesfragen vorlegen. Wir werden warten, bis die ungeheure Mehrzahl der französischen und deutschen Arbeitern die nötige Säuberung ihrer Reihen vornehmen und dann in die Reihen der Kommunistischen Internationale wird eintreten können, so dass niemand denken kann, dass das einfach Ballast für die Kommunistische Internationale ist, sondern dass sie zu uns kommen, um mit uns zusammen in gemeinsamer und einmütiger Arbeit den Kampf gegen die Bourgeoisie zu führen.

Wir haben die Absicht, dem gegenwärtigen Kongress die Statuten der Kommunistischen Internationale vorzulegen. Wir nehmen an, dass, wie die Kommunisten im eigenen Lande, um die Bourgeoisie zu besiegen, vor allem eine zentralisierte, kraftvolle, starke, aus einem Stück gegossene Partei brauchen, es auch im internationalen Masstabe an der Zeit ist, die Schaffung einer solchen Organisation in Angriff zu nehmen.

Wir kämpfen gegen die internationale Bourgeoisie, gegen eine Welt von Feinden, die bis an die Zähne bewaffnet sind, und wir müssen eine eiserne internationale proletarische Organisation haben, die es versteht, den Feind überall zu schlagen, die es verstehen muss, jeder beliebigen ihrer Truppen im gegebenen Augenblick die grösstmöglichste Hilfe zu gewähren, die möglichst machtvolle, biegsame, bewegliche Organisationsformen ausarbeiten muss, um dem Feinde, gegen den sie zu kämpfen hat, in voller Rüstung gegenüberzustehen. Wir führen im Entwurf des Statuts der Kommunistischen Internationale einen Satz aus dem Statut der I. Internationalen Arbeitergenossenschaft an, deren Führer Marx und Engels waren. In diesem Statut sagten Marx und Engels:

»Wenn der Kampf der Arbeiterklasse bis jetzt noch nicht von Erfolg gekrönt war, so ist das unter anderem auch deshalb der Fall, weil den Arbeitern die internationale Einigkeit, die straffe internationale Organisation, die gegenseitige Unterstützung in internationalem Masstabe fehlt«. Ja, Genossen, das ist eine einfache Wahrheit… Wir mussten aber über 50 Jahre warten, mussten die vier Jahre des Blutbades, mussten alle Schrecken, die die Menschheit in dem letzten Zeitabschnitt durchlebt hat, durchmachen, damit dieser einfache Gedanke nicht nur von einigen wenigen, nicht nur von einzelnen Gruppen erfasst wurde, sondern Millionen von Arbeitern in Fleisch und Blut überging. Wir sind fest überzeugt, dass diese Idee gegenwärtig wirklich Besitz der Massen geworden ist. Wir wissen, dass es zum Siege über die Bourgeoisie notwendig ist, endlich diese elementare einfache Idee zu verwirklichen, auf welche die I. Internationale, die Erste Internationale Arbeitergenossenschaft, hingewiesen hat, deren Überlieferungen und Grundsätze wir jetzt in vielen Fragen annehmen, um sie zu verwirklichen. Hier sind Vertreter der Petersburger Arbeiter und Arbeiterinnen anwesend, die als erste im Oktober 1917 den Aufstand begannen. Ich sage ihnen: Genossen, heute vollzieht sich in Petersburg ein grosses historisches Ereignis. Der II. Kongress der Kommunistischen Internationale ist in dem Augenblick in die Geschichte eingetreten, in dem er seine Sitzungen eröffnet hat. Behaltet diesen Tag im Gedächtnis. Wisset, dass dieser Tag die Belohnung für alle Eure Entbehrungen und für Euren tapferen und standhaften Kampf ist. Erzählt und erklärt Euren Kindern die Bedeutung des heutigen Tages! Prägt Euren Herzen die gegenwärtige feierliche Stunde ein!

Wir haben ein vollendetes, in seiner Einfachheit erhabenes Ereignis vor uns. Was kann einfacher sein? Die Arbeiter der verschiedenen Länder vereinigen sich, um sich vom Joche der Reichen zu befreien. Und was kann zugleich erhabener sein? Genossen, hört Ihr denn nicht das Flügelrauschen des Sieges? Unsere Erde wird frei. Die Lohnsklaverei wird vernichtet. Der Kommunismus wird siegen

Genossen, am Schluss meiner Rede möchte ich noch daran erinnern, dass in einigen Monaten 50 Jahre seit dem ersten grossen historischen Aufstand der europäischen Arbeiter verflossen sein werden, der uns und Euch den Weg gewiesen. Ich spreche von der Pariser Kommune. Ich spreche von dem heldenhaften Aufstand der Pariser Proletarier, die ungeachtet aller Schwächen und Fehler (wir bemühen uns, sie zu vermeiden) ein goldenes Blatt zur Geschichte der internationalen proletarischen Bewegung beigetragen und uns den Weg wiesen haben, den jetzt Millionen Werktätiger gehen.

Ich erlaube mir, die Hoffnung auszusprechen, dass wir zum fünfzigjährigen Jubiläum der Pariser Kommune in Frankreich die Sowjetrepublik haben werden. (Lauter, stürmischer Beifall.)

Genossen, in einem Artikel, der unmittelbar nach dem Gründungskongress der Kommunistischen Internationale geschrieben ist und den Titel »Die Aussichten der internationalen Revolution« trägt, habe ich mit einigem Übereifer gesagt, dass vielleicht nur ein Jahr vergehen werde, und wir schon vergessen haben werden, dass in Europa ein Kampf um die Sowjetmacht geführt worden sei, da dieser Kampf in Europa schon beendet und auf die übrigen Länder übergegangen sein werde. Ein bürgerlicher deutscher Professor hat sich an diesen Satz geklammert, und vor einigen Tagen habe ich einen Artikel gelesen, in dem er, diese Stelle anführend, schadenfroh bemerkt: Nun, bald wird der II. Kongress eröffnet. Es ist mehr als ein Jahr vergangen. In Europa ist es, wie es scheint, noch nicht zum vollen Siege der Sowjetmacht gekommen.

Darauf können wir diesem gebildeten Bourgeois ruhig erwidern: es ist wohl wirklich so; wahrscheinlich haben wir uns fortreissen lassen; wahrscheinlich wird in Wirklichkeit nicht ein Jahr, sondern werden zwei und drei Jahre nötig sein, damit ganz Europa zur Sowjetrepublik wird. Aber wenn Sie selbst so bescheiden sind und ein oder zwei Jahre Aufschub für sich für ein unerhörtes Glück betrachten, so können wir Ihnen zu dieser Bescheidenheit gratulieren; und wir können die Gewissheit ausdrücken, dass wir ein Jahr früher oder später – wir werden noch ein wenig aushalten – die internationale Sowjetrepublik haben werden, deren Führer unsere Kommunistische Internationale sein wird.

Es lebe die Arbeiterklasse der ganzen Welt! Es lebe die Kommunistische Internationale! (Lange anhaltender, stürmischer Beifall.)

Sinowjew. Der Kongress geht zur Wahl des Präsidiums über. Das Wort im Namen des Exekutivkomitees hat Genosse Bucharin.

Bucharin. Im Namen des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale werden folgende Kandidaten für das Präsidium vorgeschlagen: Levi (Deutschland), Rosmer (Frankreich), Serrati (Italien), Lenin und Sinowjew (Russland).

Sinowjew. Werden andere Vorschläge für die Zusammensetzung des Präsidiums gemacht? Nein. Das Präsidium ist in der vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale vorgeschlagenen Zusammensetzung: Levi (Deutschland), Rosmer (Frankreich), Serrati (Italien), Lenin und Sinowjew (Russland), gewählt.

Genossen, eine ganze Reihe von Organisationen wünscht unseren Kongress zu begrüssen, wir müssen jedoch mit der Zeit geizen. Im Namen des Exekutivkomitees schlage ich vor, das Wort nur dem Vertreter der Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik, die heute das grosse Glück hat, auf ihrem Territorium den Kongress zu begrüssen, dem Vorsitzenden des Allrussischen Exekutivkomitees, Genosse Kalinin, zu geben. (Beifall.)

Kalinin. Genossen! Im Namen der Arbeiter und Bauern Sowjetrusslands begrüsse ich den Weltkongress der Kommunistischen Internationale. Genossen, Mitglieder der Kommunistischen Internationale! Die Kommunistische Partei der Bolschewiki und die Arbeiterklasse Russlands sind in der Vergangenheit nicht durch Legalität und Parlamentarismus verwöhnt worden. Die letzten Jahrzehnte waren Jahre harten unmittelbaren Kampfes der Arbeiterklasse gegen den russischen Zarismus. In dieser dunklen Zeit hat die Kommunistische Partei der Bolschewiki nicht die Hoffnung verloren, dass der Augenblick nicht fern sei, in dem die Arbeiter sich unter ihrer Führung erheben und den russischen Zarismus wie die russische Bourgeoisie stürzen werden. In den letzten drei Jahren, Genossen, haben die russische Arbeiterklasse und die russische Bauernschaft unzählige Opfer gebracht, sie haben ungeheure Schwierigkeiten überwinden müssen und die Fähigkeit bewiesen, rückhaltlos für die Ideale der Menschheit zu kämpfen. Und, Genossen, dieser dreijährige Kampf hat die Arbeiterklasse und die Bauernschaft Russlands gestählt und sie gelehrt, unmittelbar für die Interessen der Arbeiterklasse einzutreten und zu kämpfen. Er hat die Möglichkeit gegeben, unsere unbesiegbare, ruhmvolle Rote Armee zu schaffen, die gegenwärtig an der polnischen Front dem Feinde harte Schläge versetzt.

Genossen, der russische Arbeiter und sogar der rückständige russische Bauer wird besser als durch Bücher und Reden durch den sich entfaltenden Kampf gegen die russische Bourgeoisie und das internationale Kapital aufgeklärt, an dem er sich immermehr beteiligt. Musste früher dem Arbeiter und Bauern erklärt, musste agitiert werden, dass es notwendig sei, auch die Weltbourgeoisie zu stürzen, wenn man die russische Bourgeoisie stürzen will, so ist es gegenwärtig jedem russischen Arbeiter und Bauern klar, dass wir nicht nur gegen die Bourgeoisie Russlands, nicht nur gegen die zaristischen Gutsbesitzer kämpfen – mit ihnen wären wir schon lange fertig, wir hätten schon längst Ruhe–; doch hinter ihrem Rücken steht die Gegenrevolution der ganzenWelt und unterstützt sie aufs entschiedenste. Und daher ist es durchaus natürlich, dass die russische Arbeiterklasse und die russischen Bauernmassen gegenwärtig mit der grössten Aufmerksamkeit ihren Blick auf die unterdrückten Klassen des Westens und die unterdrückten Massen des Ostens richten. Sie warten auf den Augenblick, wo diese unterdrückten Klassen sich im Verein mit den russischen Bauern und den russischen Arbeitern in den unmittelbaren Kampf um die Diktatur des Proletariats stürzen werden.

Von Herzen wünsche ich dem II. Kongress der Kommunistischen Internationale, dass seine Eröffnung der Beginn und das Unterpfand des unmittelbaren Kampfes der unterdrückten Massen des Ostens und der unterdrückten Klassen des Westens, des unmittelbaren Kampfes um die Diktatur des Proletariats werden möge. Es lebe der II. Kongress der Kommunistischen Internationale!

Sinowjew. Als erster Punkt steht der Bericht des Exekutivkomitees, als zweiter stehen die Berichte der entsprechenden Parteien auf der Tagesordnung. Das Exekutivkomitee hat beschlossen, sich bezüglich des ersten und zweiten Punktes auf die Verteilung von schriftlichen Berichten zu beschränken; die gedruckten Berichte des Exekutivkomitees sind verteilt.

Die Berichte der einzelnen Parteien sind zum Teil vorgelegt, zum Teil werden sie vorgelegt werden. Alle Delegierten werden sich auf diese Weise mit den schriftlichen Berichten bekannt machen können. Wir gehen zum dritten Punkt der Tagesordnung über der lautet: Die gegenwärtige Weltlage und die Grundaufgaben der Kommunistischen Internationale.

Das Wort zum Bericht hat Genosse Lenin. (Lauter Beifall. Alle Anwesenden erheben sich und äussern Beifall. Der Redner versucht zu reden, doch der Beifall und die Zurufe in allen Sprachen dauern fort. Die Ovation währt lange.)

Lenin. Genossen! Die Leitsätze über die Weltlage und die Grundaufgaben der Kommunistischen Internationale sind in allen Sprachen veröffentlicht und bieten besonders für die russischen Genossen) nichts wesentlich Neues, denn in der Hauptsache dehnen sie nur einige Grundzüge unseres revolutionären Versuchs und die Erfahrungen unserer revolutionären Bewegung auf eine ganze Reihe westlicher Länder, auf Westeuropa aus. Daher werde ich in meinem Bericht etwas länger, wenn auch in kurzen Zügen, bei dem ersten Teil des mir gestellten Themas, bei der Weltlage, verweilen.

Die Grundlage der internationalen Lage, wie sie sich jetzt ergeben hat, bilden die wirtschaftlichen Beziehungen des Imperialismus. Im Lauf des XX. Jahrhunderts hat sich eine neue, höchste und letzte Stufe des Kapitalismus herausgebildet. Ihr wisst selbstverständlich alle, dass der am meisten charakteristische, wesentliche Zug des Imperialismus darin besteht, dass das Kapital ungeheure Ausmasse erreicht hat. An die Stelle des freien Wettbewerbs sind riesige Monopole getreten. Eine unbedeutende Anzahl von Kapitalisten vermochte bisweilen ganze Industriezweige in ihrer Hand zu vereinigen; sie gingen in die Hände von Verbänden, Kartellen, Syndikaten, Trusts oft internationalen Massstabes über. Ganze Industriezweige nicht nur einzelner Länder, sondern der ganzen Welt gerieten so in die Hand von Monopolisten, entweder in finanzieller Beziehung oder auf Grund des Eigentumsrechts oder hinsichtlich der Produktion. Auf dieser Grundlage entwickelte sich eine noch nie dagewesene Herrschaft einer geringen Anzahl von Grossbanken, Finanzkönigen, Finanzmagnaten, die sogar die freiesten Republiken in Wirklichkeit in Finanzmonarchien verwandelten. Vor dem Kriege wurde dies z. B. ganz offen von solchen keineswegs revolutionären Schriftstellern wie Lysis in Frankreich anerkannt.

Diese Herrschaft eines Häufleins von Kapitalisten erlangte ihre volle Entfaltung, als der ganze Erdball aufgeteilt war, nicht allein in dem Sinne, dass die verschiedenen Rohstoffquellen und Produktionsmittel von den Kapitalisten ergriffen waren, sondern auch in dem Sinne, dass die vorläufige Verteilung der Kolonien beendigt war. Vor etwa 40 Jahren zählte man nicht viel mehr als eine Viertelmilliarde Kolonialbevölkerung, die sechs kapitalistischen Mächten unterworfen war. Vor dem Kriege 1914 zählte man in den Kolonien bereits etwa 600 Millionen Bevölkerung, und wenn man solche Länder hinzunimmt, die Persien, wie die Türkei und China sich in der Lage von Halbkolonien befinden, so erhalten wir in runden Ziffern eine Milliarde Menschen, die von den reichsten, zivilisiertesten und freiesten Ländern durch koloniale Abhängigkeit geknechtet waren. Und Ihr wisst, dass diese koloniale Abhängigkeit ausser der unmittelbar staatlichen, rechtlichen noch eine ganze Reihe finanzieller und wirtschaftlicher Abhängigkeiten in sich schliesst, eine ganze Reihe von Kriegen bedeutet, die man nicht für Kriege hält, weil sie oft in Gemetzel ausarten, wenn die mit den vervollkommnetsten Zerstörungswaffen versehenen europäischen und amerikanischen imperialistischen Truppen die wehr- und waffenlosen Bewohner der Kolonialländer niedermachen.

Aus dieser Teilung der ganzen Welt, aus dieser Herrschaft der kapitalistischen Monopole, aus dieser Allmacht einer geringfügigen Anzahl von Grossbanken, etwa 2 bis 5 auf je einen Staat, nicht mehr – erwuchs unvermeidlich der imperialistische Krieg 1914–1918. Der Krieg drehte sich darum, die ganze Welt neu zu verteilen. Der Krieg drehte sich darum, welche von den beiden Weltmächtegruppen – die englische oder die deutsche – die Möglichkeit und das Recht der Ausraubung, Versklavung und Ausbeutung der ganzen Welt erhalten solle; und Ihr wisst, dass der Krieg diese Frage zugunsten der englischen Gruppe entschieden hat. Als Ergebnis dieses Krieges haben wir eine unvergleichlich schärfere Zuspitzung aller kapitalistischen Gegensätze. Der Krieg. versetzte mit einem Schlag etwa eine Viertelmilliarde der Weltbevölkerung in eine Lage, die mit der von Kolonien gleichbedeutend ist, nämlich Russland, das mit 130 Millionen zu veranschlagen ist, Österreich-Ungarn, Deutschland und Bulgarien mit nicht weniger als 120 Millionen. Eine Viertelmilliarde von Menschen in Ländern, die teilweise wie Deutschland zu den vorgeschrittensten, aufgeklärtesten, kultiviertesten gehören und technisch auf der Höhe des modernen Fortschritts stehen! Der Krieg zwang ihnen durch den Versailler Vertrag solche Bedingungen auf, dass vorgeschrittene Völker in koloniale Abhängigkeit, Elend, Hunger, Ruin und Rechtlosigkeit gerieten. Sie sind durch den Vertrag auf viele Generationen hinaus gebunden und in Verhältnisse versetzt, unter denen noch nie ein zivilisiertes Volk gelebt hat. Damit habt Ihr ein Bild der Welt, das zeigt, dass nach dem Kriege auf einmal eine Bevölkerung von nicht weniger als ein und einer Viertelmilliarde dem kolonialen Joch, der Ausbeutung des brutalen Kapitalismus unterworfen ist Dieser Kapitalismus rühmte sich der Friedensliebe und hatte dazu viel leicht vor 50 Jahren einiges Recht, als die Welt noch nicht aufgeteilt war, als die Monopole noch nicht herrschten, als der Kapitalismus zu verhältnismässig friedlicher Entwicklung ohne ungeheuere Kriegskonflikte noch Raum hatte.

Jetzt, nach dieser Friedensepoche, bekamen wir eine ungeheuerliche Verschärfung des Joches. Schon sehen wir die Rückkehr zu einer noch schlimmeren kolonialen und militärischen Unterjochung als vorher. Der Versailler Vertrag hat für Deutschland und eine ganze Reihe der besiegten Länder Verhältnisse geschaffen, die eine materielle Unmöglichkeit der wirtschaftlichen Existenz bedeuten, hat sie in Bedingungen völliger Rechtlosigkeit und Erniedrigung versetzt.

Wie gross ist die Zahl der Nationen, die davon profitieren?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir daran erinnern, dass die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die als einziges Land vollen Gewinn aus dem Kriege davontrugen, die aus einem mit einer Menge von Schulden belasteten Lande in ein Land, dem alle schulden, verwandelt wurden, dass ihre Bevölkerung nicht mehr als 100 Millionen beträgt. Die Bevölkerung Japans, das auch sehr viel gewonnen hat, indem es sich vom europäisch-amerikanischen Konflikt abseits hielt und das ungeheure asiatische Festland eroberte, beträgt 50 Millionen. Die Bevölkerung Englands, das nächst diesen Ländern am meisten gewonnen hat, beziffert sich auf 50 Millionen. Und wenn wir die neutralen Staaten mit ihrer sehr kleinen Bevölkerungszahl hinzufügen, die sich ebenfalls während des Krieges bereichert haben, dann erhalten wir in runden Ziffern eine Viertelmilliarde.

So bekommt Ihr in kurzen Grundstrichen ein Bild der Welt, wie es sich nach dem imperialistischen Kriege gestaltet hat. Eine und eine Viertelmilliarde geknechteter Kolonien: Länder, die man bei lebendigem Leibe aufteilt, wie Persien, die Türkei, China; besiegte und zu Kolonien gemachte Länder. Nicht mehr als eine Viertelmilliarde zählen die Länder, die sich im alten Zustand erhalten haben, aber auch sie sind in wirtschaftliche Abhängigkeit von Amerika geraten und waren während des Krieges alle militärisch von ihm abhängig. Denn der Krieg ergriff die ganze Welt, er liess keinen einzigen Staat wirklich neutral bleiben. Und wir haben endlich nicht mehr als eine Viertelmilliarde Bevölkerung in den Ländern, in denen, versteht sich, nur die Oberklasse, nur die Kapitalisten von der Teilung der Erde profitieren. Die Summe, etwa 1 ¾ Milliarden, ergibt die Gesamtbevölkerung der Erde. Ich wollte Euch an dieses Weltbild erinnern, da alle grundlegenden Gegensätze des Kapitalismus, des Imperialismus, die zur Revolution führen, alle grundlegenden Gegensätze in der Arbeiterbewegung, die zu dem erbitterten Kampf gegen die II. Internationale geführt haben, von denen der Genosse Vorsitzende sprach – da alles das mit der Teilung der Weltbevölkerung zusammenhängt.

Gewiss, nur in groben Grundstrichen illustrieren diese Ziffern das Bild der Weltwirtschaft. Und, Genossen, in Wirklichkeit ist auf dem Boden dieser Teilung der Bevölkerung der ganzen Welt die Ausbeutung durch das Finanzkapital, durch die kapitalistischen Monopole noch viel stärker gewachsen.

Nicht nur die kolonialen, besiegten Länder sind in diesen Zustand der Abhängigkeit geraten, sondern auch innerhalb jedes Siegerlandes gestalten sich alle Konflikte immer schärfer, spitzen sich alle kapitalistischen Gegensätze zu. Ich werde dies in kurzen Zügen an einigen Beispielen zeigen.

Nehmen wir die Staatsschulden. Wir wissen, dass die Schulden der wichtigsten europäischen Länder von 1914 bis 1920 nicht weniger als auf das siebenfache gewachsen sind. Ich verweise auf noch eine ökonomische Quelle, die besonders grosse Bedeutung gewinnt. Es ist dies Keynes, ein englischer Diplomat, der Verfasser des Buches »Die wirtschaftlichen Folgen des Friedens«. Keynes hat im Auftrag seiner Regierung an den Friedensverhandlungen in Versailles teilgenommen, sie unmittelbar von rein bürgerlichem Standpunkt aus beobachtet; er hat die Sache Schritt für Schritt ausführlich studiert; als Nationalökonom hat er an den Beratungen teilgenommen.

Er ist dabei zu Schlüssen gekommen, die beweiskräftiger, anschaulicher, lehrreicher sind als jede beliebige Schlussfolgerung eines revolutionären Kommunisten, weil diese Schlüsse von einem ausgesprochenen Bourgeois, einem schonungslosen Gegner des Bolschewismus gezogen werden. Diesen Bolschewismus stellt er als englischer Kleinbürger sich verzerrt, wild, brutal vor. Er ist zu der Schlussfolgerung gekommen, dass Europa und die ganze Welt durch den Versailler Frieden dem Bankerott entgegengehen. Keynes hat seinen Abschied genommen. Er hat der Regierung sein Buch ins Gesicht geschleudert und gesagt: Ihr begeht Wahnsinn. Ich werde Euch aus dem Buche von Keynes Zahlen vorlegen, die im grossen und ganzen folgendes zeigen.

Wie gestaltet sich die gegenseitige Verschuldung der Grossmächte zueinander? Ich übertrage englische Pfund Sterling in Goldrubel, indem ich 10 Goldrubel für ein Pfund Sterling rechne. Und da sehen wir, dass die Vereinigten Staaten ein Aktivum von 19 Milliarden besitzen, während das Passivum gleich Null ist. Vor dem Kriege hatten sie an England Schulden. Auf dem letzten Parteitag der KPD am 14. April 1920 wies Genosse Levi in seinem Bericht ganz richtig darauf hin, dass zwei Mächte bestehen, die jetzt selbständig in der Welt auftreten: England und Amerika. Nur Amerika ist in finanzieller Hinsicht absolut selbständig. Vor dem Kriege war es Schuldner, jetzt tritt es nur als Gläubiger auf. Alle übrigen Mächte der Welt sind Schuldner. England ist in eine solche Lage geraten, dass sein Aktivum 17 Milliarden, sein Passivum 8 Milliarden beträgt. Es ist schon zur Hälfte Schuldner geworden. Zudem stehen in diesem Aktivum etwa 6 Milliarden, die Russland schuldet. Die Kriegsvorräte, die Russland während des Krieges anschaffte, werden ihm als Schuld angerechnet. Vor kurzem, als Krassin Gelegenheit hatte, als Vertreter der russischen Sowjetregierung mit Lloyd-George über die Schuldenfrage zu sprechen, klärte er die Gelehrten und Politiker, die Führer der englischen Regierung, anschaulich darüber auf, dass sie sich im Irrtum befinden, wenn sie annehmen, etwas von dieser Schuld erhalten zu können. Und diesen Irrtum hat der englische Diplomat Keynes schon festgestellt.

Es handelt sich natürlich nicht nur darum, und sogar überhaupt nicht darum, dass die russische revolutionäre Regierung die Schulden nicht zahlen will. Keine Regierung hätte sie zahlen können, denn diese Schulden sind die Wucherzinsen für das, was schon zwanzigmal bezahlt worden ist. Und derselbe Bourgeois Keynes, der der russischen revolutionärenBewegung durchaus keine Sympathie entgegenbringt, sagt: »Es ist selbstverständlich, dass diese Schulden nicht angerechnet werden können.«

Bezüglich Frankreich führt Keynes Zahlen an, die das Aktivum mit 3 ½ Milliarden, das Passivum aber mit 9 ½ Milliarden angeben. Und das ist das Land, von dem die Franzosen selbst sagten, dass es der Wucherer der ganzen Welt sei, denn seine »Ersparnisse« waren kolossal; der koloniale und finanzielle Raub, der ihm ein Riesenkapital eingebracht hat, gab ihm die Möglichkeit, Milliarden um Milliarden zu verleihen, besonders an Russland. Dadurch wurde eine Rieseneinnahme erzielt. Und dessenungeachtet, trotz des Sieges, ist Frankreich in die Lage eines Schuldners geraten.

Eine amerikanische bürgerliche Quelle, die Genosse Braun, ein Kommunist, in seinem Buche »Wer soll die Kriegsschulden bezahlen?« (Leipzig 1920) anführt, bestimmt das Verhältnis der Schulden zum Nationalvermögen in den siegreichen Ländern wie folgt: in England und Frankreich betragen die Schulden über 50 Prozent des ganzen Nationalvermögens, in Italien wird das Verhältnis durch 60 bis 70 Prozent, in Russland durch 90 Prozent ausgedrückt. Uns aber beunruhigen diese Schulden, wie Ihr wisst, nicht, denn wir haben schon etwas früher, als das Büchlein von Keynes erschienen ist, seinen vortrefflichen Rat befolgt und alle Schulden annulliert. (Stürmischer Beifall.)

Keynes offenbart dabei nur eine übliche spiessbürgerliche Eigenheit; während er seinen Rat gibt, alle Schulden zu annullieren, sagt er, dass Frankreich natürlich nur gewinne, dass England natürlich nicht sehr viel verliere, denn von Russland sei sowieso nichts zu bekommen; gehörig verliert Amerika, aber Keynes rechnet auf den amerikanischen »Edelmut«. In dieser Hinsicht gehen unsere Ansichten mit denen von Keynes und den übrigen kleinbürgerlichen Pazifisten auseinander. Wir meinen, dass wir zur Annullierung der Schulden auf etwas anderes hoffen und in einer anderen Richtung arbeiten müssen als in der Richtung der Hoffnung auf den »Edelmut« der Herren Kapitalisten.

Aus diesen wenigen Zahlen ist ersichtlich, dass der imperialistische Krieg auch für die siegreichen Länder eine unmögliche Lage geschaffen hat. Darauf weist auch das ungeheuere Missverhältnis zwischen dem Arbeitslohn und dem Anwachsen der Preise hin. Der Oberste Wirtschaftsrat, ein Organ, das die bürgerliche Ordnung der ganzen Welt vor der wachsenden Revolution schützen soll, hat am 8. März d. J. einen Beschluss gefasst, der mit der Aufforderung zur Ordnung, Arbeitsamkeit und Sparsamkeit endet, natürlich unter der Bedingung, dass die Arbeiter Sklaven des Kapitals bleiben. Dieser Oberste Wirtschaftsrat, das Organ der Entente, das Organ der Kapitalisten der ganzen Welt, hat folgende Schlussrechnung gemacht.

Die Preise für Lebensmittel sind im Durchschnitt in den Vereinigten Staaten Amerikas um 120 Prozent, der Arbeitslohn nur um 100 Prozent gestiegen. In England sind die Preise für Lebensmittel um 170 Prozent gestiegen, der Arbeitslohn um 130 Prozent, in Frankreich sind die Lebensmittelpreise um 300 Prozent, der Arbeitslohn um 200 Prozent, in Japan sind die Lebensmittelpreise um 130 Prozent, der Arbeitslohn um 60 Prozent gestiegen (ich zitiere die Zahlen des Genossen Braun aus seiner oben angeführten Broschüre und die Zahlen des Obersten Wirtschaftsrats aus der »Times« vom 10. März 1920).

Es ist klar, dass bei einer solchen Sachlage das Anwachsen der Empörung unter den Arbeitern, das Anwachsen revolutionärer Stimmungen und Ideen, das Anwachsen elementarer Massenstreiks unvermeidlich ist. Denn die Lage der Arbeiter wird unerträglich. Die Arbeiter überzeugen sich durch die Erfahrung, dass die Kapitalisten sich am Kriege unmässig bereichert haben und die Ausgaben und Schulden den Arbeitern aufbürden. Unlängst berichtete uns der Telegraph, dass Amerika zu uns nach Russland noch 500 Kommunisten verschicken will, um die »schädlichen Agitatoren« loszuwerden.

Würde Amerika nicht nur 500 Kommunisten, sondern 500 000 russische, amerikanische, japanische, französische »Agitatoren« zu uns schicken, so würde das an der Sache nichts ändern, denn das Missverhältnis der Preise, gegen das sie nichts tun können, würde bleiben. Sie können aber deshalb nichts dagegen tun, weil bei ihnen das Privateigentum streng bewacht wird, weil es bei ihnen »heilig« ist. Das darf man nicht vergessen. Nur in Russland ist das Privateigentum der Ausbeuter abgeschafft. Gegen dieses Missverhältnis der Preise können die Kapitalisten nichts tun, die Arbeiter aber können mit dem alten Arbeitslohn nicht leben. Gegen dieses Elend ist mit den alten Methoden nicht anzukämpfen. Keine einzelnen Streiks, kein Parlamentskampf, keine Abstimmung können hier etwas erreichen, denn das »Privateigentum ist heilig«, und die Kapitalisten haben solche Schulden angehäuft, dass die ganze Welt in die Sklaverei von einem Häuflein Menschen geraten ist, während die Lebensbedingungen der Arbeiter immer unerträglicher werden. Es gibt keinen Ausweg ausser der Abschaffung des »Privateigentums« der Ausbeuter.

Genosse Lapinski weist in seiner Broschüre »England und die Weltrevolution«, aus der unser »Westnik« des Volkskommissariats des Auswärtigen vom Februar 1920 wertvolle Auszüge veröffentlicht hat, darauf hin, dass in England die Ausfuhrpreise für Kohle doppelt so hoch waren, als dies von den offiziellen Industriekreisen vorausgesetzt wurde.

In Lancashire kam es dazu, dass das Steigen des Aktienwerts 400 Prozent betrug. Der Reingewinn der Banken bestand in mindestens 40 bis 50 Prozent, wobei zu bemerken ist, dass bei der Feststellung des Reingewinns der Banken die Bankdirektoren den Löwenanteil des Reingewinns geheim verbuchen können in der Weise, dass sie ihn nicht als Gewinn, sondern in Form von Vergütungen, Tantiemen usw. verschwinden lassen. Also auch hier zeigen unbestreitbare ökonomische Tatsachen, dass der Reichtum eines geringen Häufleins von Menschen unglaublich gewachsen ist, ein unerhörter Luxus alle Grenzen überstiegen hat und in derselben Zeit die Not der Arbeiterklasse immer grösser wird. Als sehr wichtig ist noch der Umstand zu verzeichnen, auf den Genosse Levi in seinem Bericht besonders anschaulich hingewiesen hat, nämlich den wechselnden Wert des Geldes. Das Geld wurde überall wertlos infolge von Schulden, Ausgabe von Papiergeld usw.… Dieselbe bürgerliche Quelle, die ich schon genannt habe, die Erklärung des Obersten Wirtschaftsrats vom 8. März 1920, bringt eine Berechnung, dass das Sinken des Geldwertes in England, im Vergleich zum Dollar, beinahe ein Drittel ausmacht, in Frankreich und Italien zwei Drittel, in Deutschland aber bis zu 96 Prozent steigt.

Diese Tatsache beweist, dass der Mechanismus der kapitalistischen Weltwirtschaft vollkommen zerfällt. Die Handelsbeziehungen, auf denen unter dem Kapitalismus die Zufuhr von Rohstoffen und der Absatz von Produkten beruhen, können nicht mehr aufrecht erhalten werden. Hauptsächlich dann nicht, wenn infolge der Veränderung des Geldwerts eine ganze Reihe von Ländern einem einzigen Land unterworfen sind. Keines der reichsten Länder hat Existenz- und Handelsmöglichkeit mehr, weil es seine Produkte nicht verkaufen und keine Rohstoffe erhalten kann.

So sehen wir, dass Amerika, dieses reichste Land, dem alle Länder unterworfen sind, weder einkaufen noch verkaufen kann. Und derselbe Keynes, der Feuer und Wasser und alle Wirrsale der Versailler Verhandlungen durchwatete, ist genötigt, diese Unmöglichkeit zuzugeben, trotz seiner unbeugsamen Entschiedenheit, den Kapitalismus zu verteidigen, trotz seines Hasses gegen den Bolschewismus. Wie gesagt, ich glaube nicht, dass ein kommunistischer oder überhaupt ein revolutionärer Aufruf sich in seiner Kraft vergleichen könnte mit jenen Zeilen Keynes, in denen er Wilson und den »Wilsonismus« in der Praxis beschreibt. Wilson war der Götze der Kleinbürger und Pazifisten vom Schlage Keynes und einer Reihe der Helden der II. Internationale und auch der 2 ½ Internationale, die auf die »14 Punkte« schworen und auch »wissenschaftliche« Bücher über die »Wurzeln« der Politik Wilsons schrieben, in der Hoffnung, dass Wilson den »sozialen Frieden« rette, die Ausbeuter mit den Ausgebeuteten versöhne und die sozialen Reformen verwirkliche. Keynes hat anschaulich enthüllt, dass sich Wilson als ein Tor erwiesen hat, und dass alle diese Illusionen zu Staub geworden sind bei der ersten Auseinandersetzung mit der geschäftsmässigen, erfahrenen, kaufmännischen Politik des Kapitals in der Person von Clemenceau und Lloyd-George. Die Arbeitermassen sehen jetzt immer klarer infolge der Erfahrungen ihres Lebens, und die gelehrten Pedanten könnten nun sogar aus dem Buche von Keynes lernen, dass die »Wurzeln« der Politik Wilsons nur pfäffische, kleinbürgerliche Phrase, völliges Nichtbegreifen des Klassenkampfes waren.

Aus alle dem ergeben sich mit eiserner Naturnotwendigkeit zwei Bedingungen, zwei grundlegende Verhältnisse: einerseits wuchs die Not, die Verelendung der Massen in unerhörter Weise, und das alles bei 1 ¼ Milliarden Menschen, d. h. 70 Prozent der ganzen Bevölkerung der Welt. Das trifft die Kolonialländer, die abhängigen Länder mit einer juridisch rechtlosen Bevölkerung zu, deren Verwaltung den Finanzräubern ein »Mandat« gegeben wurde. Und ausserdem hat der Versailler Vertrag die Versklavung der besiegten Länder verewigt, ebenso jene Russland betreffenden Geheimverträge, die allerdings die gleiche reale Kraft haben wie die Papiere, auf denen geschrieben steht, dass wir so und soviel Milliarden schuldig seien. Wir haben in der Weltgeschichte den ersten Fall einer juristischen Bekräftigung des Raubes, der Sklaverei, der Abhängigkeit, des Elends und Hungers von 14 Milliarden Menschen.

Aber andererseits gerieten in allen Ländern, die als Gläubiger auftraten, die Arbeiter in eine unerträgliche Lage. Der Krieg brachte eine unerhörte Verschärfung aller kapitalistischen Gegensätze. Das ist die Quelle der tiefen revolutionären Gärung, die stetig anwächst. Denn während des Krieges waren die Menschen unter den Zwang der militärischen Disziplin gestellt, wurden in den Tod getrieben oder mit der sofortigen militärischen Züchtigung bedroht. Die Verhältnisse während des Krieges gaben keine Möglichkeit, die wirtschaftliche Wirklichkeit zu sehen; Schriftsteller, Dichter, Geistliche, die gesamte Presse widmeten sich der Verherrlichung des Krieges, und erst jetzt, da der Krieg beendet ist, beginnen die Enthüllungen. Entlarvt ist der deutsche Imperialismus mit seinem Brester Frieden, entlarvt ist der Versailler Friede, der ein Sieg des Imperialismus sein sollte und sich als seine Niederlage erwies. Unter anderem zeigt uns das Beispiel Keynes, wie Tausende und Hunderttausende aus dem Kleinbürgertum, den Intellektuellen, einfach aus den Reihen der entwickelteren, gebildeteren Menschen in Europa und Amerika denselben Weg gehen mussten, den Keynes gegangen ist, der sein Amt niederlegte und seiner Regierung ein Buch ins Gesicht schleuderte, das ihr die Maske vom Gesicht reisst. Keynes zeigt, was im Bewusstsein von Tausenden und Hunderttausenden vorgeht und vor sich gehen wird, sobald sie verstehen, dass alle diese Reden vom »Krieg für die Freiheit« usw. ein ununterbrochener Betrug waren, dass im Endergebnis nur eine ganz kleine Zahl sich bereicherte und die übrigen ruiniert wurden und in Sklaverei verfielen. Der Bourgeois Keynes sagt ja, dass die Engländer zur Rettung ihres Lebens, zur Rettung der englischen Wirtschaft es erreichen müssen, dass zwischen Deutschland und Russland freie Handelsbeziehungen erneuert werden. Auf welche Weise kann das aber erreicht werden? Auf die Weise, dass alle Schulden annulliert werden, wie Keynes vorschlägt! Diese Idee hat nicht der gelehrte Nationalökonom Keynes allein. Zu dieser Idee kommen und gelangen Millionen. Und Millionen Menschen hören, was die bürgerlichen Volkswirtschaftler sagen, dass kein Ausweg möglich ist ausser der Annullierung der Schulden. Und deshalb »Fluch den Bolschewiki!« (welche die Schulden annullierten), und wir wenden uns an den »Edelmut« Amerikas!! Ich glaube, ein solcher Ökonom und Agitator für den Bolschewismus würde verdienen, dass ihm im Namen des Kongresses der Kommunistischen Internationale ein Dankschreiben geschickt würde.

Wenn einerseits die wirtschaftliche Lage der Massen unerträglich wird, und wenn andererseits auch unter der unbedeutenden Minderheit der allmächtigen Siegerländer der Zerfall eintritt und sich verstärkt, wie Keynes es beschreibt, dann sehen wir deutlich das Herannahen beider Voraussetzungen für die Weltrevolution.

Wir haben nun ein einigermassen vollständiges Bild der ganzen Welt vor Augen. Wir wissen, was diese Abhängigkeit von 1 ¼ Milliarden der Existenzmöglichkeit beraubter Menschen von einer Handvoll Reicher bedeutet. Aber als andererseits der Völkerbund den Völkern einen Vertrag brachte, in dem er erklärt, dass er dem Kriege ein Ende macht und von nun an niemandem erlaubt, den Frieden zu stören, als dieser Vertrag, die letzte Hoffnung der werktätigen Massen der ganzen Welt, in Kraft trat, da wurde dies zu einem der grössten Siege für uns. Solange der Vertrag noch nicht in Kraft war, sagten sie: Man darf ein Land wie Deutschland keinen Ausnahmebedingungen unterwerfen; wenn der Vertrag da ist, werdet ihr sehen, wie gut es gehen wird. Und als der Vertrag veröffentlicht wurde, mussten die wütendsten Gegner des Bolschewismus ihn verleugnen. Als der Vertrag in Wirksamkeit zu treten begann, zeigte es sich, dass eine winzige Gruppe der reichsten Länder – Clemenceau, Lloyd-George, Orlando und Wilson – sich hinsetzten, um neue Beziehungen einzufädeln. Als sie die Maschine des Vertrags in Gang setzten, kam es zum vollständigen Zerfall.

Das sahen wir an den Kriegen gegen Russland. Das schwache, ruinierte, unterdrückte Russland, das zurückgebliebene Land erwies sich, als Sieger gegen alle Nationen, gegen den Bund der reichen, mächtigen Staaten, die die ganze Welt beherrschen. Wir konnten ihnen keine auch nur im mindesten ebenbürtigen Kräfte entgegenstellen und blieben trotzdem Sieger. Warum? Weil zwischen ihnen nicht ein Schatten von Einigkeit war, weil eine Macht gegen die andere auftrat. Frankreich wollte, dass Russland seine Schulden bezahle und Deutschland bedrohe; England wollte die Aufteilung Russlands. England versuchte das Naphtha von Baku zu ergreifen und Verträge mit den Randstaaten Russlands abzuschliessen. Und unter den englischen offiziellen Dokumenten gibt es ein Buch, in dem mit ausserordentlicher Gewissenhaftigkeit alle Staaten (es sind 14) aufgezählt werden, die vor einem halben Jahre versprochen haben, im Dezember 1919 Moskau und Petersburg zu besetzen. Auf diese Staaten baute England seine Politik auf, gab Anleihen von Millionen an diese Staaten. Jetzt sind aber diese Berechnungen alle über den Haufen geworfen und alle Anleihen ins Wasser gefallen.

Das sind die Zustände, wie sie der Völkerbund geschaffen hat. Jeder Tag der Existenz dieses Vertrags ist die beste Agitation für den Bolschewismus. Denn die einflussreichsten Anhänger der kapitalistischen »Ordnung« zeigen, dass sie bei jeder Frage einander Fussangeln stellen. Wegen der Teilung der Türkei, Persiens, Mesopotamiens und Chinas tobt ein wütendes Gezänk zwischen Japan, England, Amerika und Frankreich. Die bürgerliche Presse dieser Länder ist voll von wütenden Ausfällen, erbitterten Wendungen gegen ihre Bundesgenossen, weil sie ihnen die Beute vor der Nase wegschnappen. Wir beobachten den völligen Zerfall von oben unter diesem kleinen Häuflein der reichsten Länder. Für 1 ¼ Milliarden Menschen ist es unmöglich so zu leben, wie zu leben der »vorgeschrittene« und zivilisierte Kapitalismus sie zwingen will. Und das sind 70 Prozent der Gesamtbevölkerung der Welt. Das winzige Häuflein der reichsten Länder, England, Amerika und Japan (das die Möglichkeit hatte, die östlichen, asiatischen Länder zu plündern, das aber keine selbständige finanzielle und militärische Macht ohne Unterstützung eines anderen Landes haben kann), diese zwei bis drei Länder sind nicht imstande, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Welt in Ordnung zu bringen und treiben eine Politik, die die Politik ihrer Teilhaber und Partner in dem Völkerbund untergräbt. Daraus entsteht die Weltkrise. Und diese ökonomischen Wurzeln der Krise sind die Hauptgründe der glänzenden Siege der Kommunistischen Internationale.

Genossen! Wir kommen jetzt zur Frage der revolutionären Krise als der Grundlage unseres revolutionären Handelns. Hier aber müssen wir vor allem zwei verbreitete Irrtümer erwähnen. Die bürgerlichen Ökonomen stellen einerseits diese Krise nach dem eleganten Ausdruck der Engländer als eine einfache »Beunruhigung« dar. Andererseits sind aber zuweilen Revolutionäre bemüht, zu beweisen, dass es absolut keinen Ausweg aus der Krise gibt.

Das ist ein Irrtum. Absolut aussichtslose Lagen gibt es nicht. Die Bourgeoisie benimmt sich wie ein frecher Räuber, der den Kopf verloren hat, sie macht eine Dummheit nach der andern, verschärft dadurch die Lage und beschleunigt ihren Untergang. Dies verhält sich alles so, aber man kann nicht »beweisen«, dass es für die Bourgeoisie absolut keine Möglichkeit gibt, irgendeine Minderheit von Ausgebeuteten mittels irgend welcher kleiner Zugeständnisse einzuschläfern, die Bewegung oder den Aufstand irgend eines Teiles der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu unterdrücken. Der Versuch, von vornherein die »absolute« Aussichtslosigkeit zu »beweisen«, ist leere Kleinigkeitskrämerei oder Spiel mit Begriffen und Worten. Einen wirklichen »Beweis« dieser oder ähnlicher Fragen kann nur die Erfahrung bringen. Die bürgerliche Ordnung macht jetzt in der ganzen Welt eine ausserordentliche revolutionäre Krise durch. Wir müssen jetzt durch die Praxis der revolutionären Parteien »beweisen«, dass sie genügend selbstbewusst sind, Organisation, Verbindung mit den ausgebeuteten Massen, Entschlossenheit und Verständnis besitzen, um diese Krise für die erfolgreiche, für die siegreiche Revolution auszunutzen.

Für die Vorbereitung dieses »Beweises« haben wir uns hauptsächlich auf dem gegenwärtigen Kongress der Kommunistischen Internationale versammelt.

Als Beispiel dafür, wie stark noch der Opportunismus in den Parteien, welche der Kommunistischen Internationale beitreten wollen, herrscht, wie weit noch die Arbeit mancher Parteien entfernt ist von der Vorbereitung der revolutionären Klasse zur Ausnutzung der revolutionären Krise, führe ich den Führer der englischen »Unabhängigen Arbeiterpartei«, Ramsey MacDonald, an. In seinem Buche »Parlament und Revolution«, das dieselben Grundfragen behandelt, mit denen auch wir uns gegenwärtig beschäftigen, beschreibt MacDonald die Lage der Dinge ungefähr im Geiste der bürgerlichen Pazifisten. Er erkennt an, dass die revolutionäre Krise besteht, dass die revolutionäre Stimmung wächst, dass die Arbeitermassen mit der Sowjetmacht und der Diktatur des Proletariats sympathisieren (merkt Euch, er spricht von England), dass die Diktatur des Proletariats besser ist als die gegenwärtige Diktatur der englischen Bourgeoisie.

Aber MacDonald bleibt durch und durch bürgerlicher Pazifist und Kompromissler, ein Kleinbürger, der von einer klassenlosen Regierung träumt. MacDonald erkennt gleich allen Lügnern, Sophisten und Pedanten der Bourgeoisie den Klassenkampf nur als eine Tatsache an, über die man schreibt. MacDonald verschweigt die Erfahrungen Kerenskis, der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre in Russland, die gleichartige Erfahrung Ungarns, Deutschlands usw., die Erfahrung der Bildung einer »demokratischen« und angeblich klassenlosen Regierung. MacDonald schläfert seine Partei und die Arbeiter, die das Unglück haben, diesen Bürger für einen Sozialisten und diesen Philister für einen Führer zu halten, mit folgenden Worten ein: »Wir wissen, dass dies (d. h. die revolutionäre Krise, die revolutionäre Gärung)vorübergehen, sich legen wird.« Der Krieg rief die Krise unausbleiblich hervor, aber nach dem Kriege wird sich alles, wenn auch nicht auf einmal, »legen«.

Und so schreibt ein Mensch, der Führer einer Partei ist, die der Kommunistischen Internationale beitreten will. Wir haben hier, was Offenherzigkeit anbetrifft, eine seltene und deshalb um so wertvollere Enthüllung dessen, was man nicht weniger oft in den Oberschichten der Französischen Sozialistischen Partei und der USPD beobachten kann, und zwar: dass es nicht allein Unverstand, sondern auch Unlust ist, die revolutionäre Krise im revolutionären Sinne auszunutzen, oder mit anderen Worten: es ist Unverstand und Unlust, tatsächlich eine revolutionäre Vorbereitung der Partei und Klasse zur Diktatur des Proletariats durchzuführen.

Dies ist das Grundübel sehr vieler Parteien, die jetzt aus der II. Internationale ausgetreten sind. Und namentlich deshalb verweile ich länger bei den Leitsätzen, die ich dem Kongress vorgelegt habe, um die Aufgabe der Vorbereitung für die Diktatur des Proletariats wo möglich noch konkreter und genauer zu bestimmen.

Noch ein Beispiel. Unlängst wurde ein neues Buch gegen den Bolschewismus veröffentlicht. Derartige Bücher erscheinen jetzt in Europa und Amerika in ungewöhnlicher Anzahl, aber je mehr Bücher gegen den Bolschewismus erscheinen, desto stärker und rascher wächst in den Massen die Sympathie für ihn. Ich habe dabei das Buch Otto Bauers »Bolschewismus oder Sozialdemokratie« im Auge. Hier wird den Deutschen anschaulich gezeigt, was eigentlich die Menschewiki sind, deren schmähliche Rolle in der russischen Revolution den Arbeitern aller Länder genügend bekannt ist. Otto Bauer hat ein durchaus menschewistisches Pamphlet geliefert, obwohl er sein Mitgefühl für den Menschewismus zu verschleiern sucht. Es ist jetzt notwendig, in Europa und Amerika ein genaues Wissen über den Menschewismus zu verbreiten, denn er ist der Stammbegriff für alle angeblichen sozialistischen, sozialdemokratischen und anderen Richtungen, die dem Bolschewismus feindlich gegenüberstehen. Es für uns Russen langweilig, den Europäern zu beschreiben, was Menschewismus ist. Otto Bauer hat dies in seinem Buche tatsächlich gezeigt, und wir danken im voraus allen bürgerlichen und opportunistischen Verlegern, die es herausgeben und in verschiedene Sprachen übersetzen lassen werden. Das Buch Bauers ist eine nützliche, wenn auch eigenartige Ergänzung zu den Lehrbüchern des Kommunismus. Nehmt einen beliebigen Paragraphen, eine beliebige Abhandlung von Otto Bauer, und Ihr seht, wie darin der Menschewismus aussieht, wie es dieselben grundlegenden Gesichtspunkte sind, die die Vertreter des Sozialismus, die Freunde Kerenskis, Scheidemanns usw. in die Tat umsetzen. Das wird eine Aufgabe sein, die man mit Nutzen und Erfolg bei »Examinas« stellen kann, um zu prüfen, ob jemand den Kommunismus sich zu eigen gemacht hat. Wenn Ihr diese Aufgaben nicht lösen könnt, dann seid Ihr noch keine Kommunisten, und es ist besser, Ihr tretet noch nicht in die kommunistische Partei ein. (Beifall.)

Otto Bauer hat in ausgezeichneter Weise den wesentlichen Inhalt der Ansichten des Weltopportunismus in einer einzigen Phrase ausgedrückt, wofür wir ihm, wenn wir in Wien frei verfügen könnten, noch bei Lebzeiten ein Denkmal setzen würden. Die »Anwendung von Gewalt im Klassenkampfe der heutigen Demokratie« – sagt Bauer – wäre »eine Vergewaltigung der sozialen Kräftefaktoren«.

Wahrscheinlich werdet Ihr finden, dass dies seltsam und unbegreiflich klingt? Hier habt Ihr ein Beispiel, wohin der Marxismus führt, bis zu welcher Abgeschmacktheit und zu welchem Schutz der Ausbeuter man die revolutionärste Theorie führen kann. Es bedarf der deutschen Abart des Kleinbürgertums, und Ihr habt die »Theorie«, dass die »sozialen Kräftefaktoren« Zahl, Organisiertheit, Ort im Produktions- und Verteilungsprozess, Aktivität, Bildung sind. Wenn der Tagelöhner im Dorfe, der Arbeiter in der Stadt eine revolutionäre Gewalttat gegen den Grundherrn und Kapitalisten begeht, so ist das durchaus nicht Diktatur des Proletariats, durchaus nicht Gewalttat gegen die Ausbeuter und Unterdrücker des Volkes. Nichts dergleichen. Das ist eine »Vergewaltigung der sozialen Kräftefaktoren«.

Es ist möglich, dass mein Beispiel etwas humoristisch ist. Aber es liegt schon in der Natur des heutigen Opportunismus, dass sein Kampf gegen den Bolschewismus sich in Humor verwandelt. Die Arbeiterklasse und alles, was in ihr denkt, zum Kampf des internationalen Menschewismus (der MacDonald, O. Bauer und Konsorten) gegen den Bolschewismus zu verleiten, das ist wahrlich für Europa und Amerika die nützlichste, die dringendste Angelegenheit.

Wir müssen fragen, wodurch sich die Zähigkeit dieser Strömungen in Europa erklärt, und warum dieser Opportunismus in Westeuropa stärker als bei uns ist. Das ist der Fall, weil die vorgeschrittenen Länder ihrer Kultur die Möglichkeit schufen und schaffen, auf Kosten einer Milliarde unterdrückter Menschen zu leben, weil die Kapitalisten dieser Länder viel mehr erhalten als nur den Gewinn von der Plünderung der Arbeiter ihres eigenen Landes.

Vor dem Kriege rechnete man, dass die drei reichsten Länder – England, Frankreich und Deutschland – allein durch ihre Kapitalanlagen im Auslande, andere Einnahmen nicht gerechnet, 8 bis 10 Milliarden Franks Einnahmen im Jahre erzielten.

Es ist selbstverständlich, dass man aus dieser runden Summe den Arbeiterführern, der Arbeiteraristokratie, unter allen möglichen Formen der Bestechung wenigstens eine halbe Milliarde Almosen auswerfen kann. Das Ganze läuft hauptsächlich auf Bestechung hinaus. Das lässt sich auf Tausende der verschiedensten Arten machen: durch Hebung der Kultur in den grössten Zentren, Errichtung von Bildungsanstalten, Schaffung von Tausenden von Stellen und Ämtern für die Führer der Genossenschaften, für die Gewerkschafts- und Parlamentsführer. Und das geht überall vor sich, wo die heutigen zivilisierten kapitalistischen Verhältnisse bestehen. Diese Milliarden von Mehreinkünften bilden die wirtschaftliche Grundlage, auf welcher der Opportunismus in der Arbeiterbewegung aufgebaut ist. Wir begegnen in Amerika, in England, in Frankreich einer viel grösseren Hartnäckigkeit der opportunistischen Führer, der leitenden Kreise der Arbeiterklasse, der Arbeiteraristokratie. Sie leisten der kommunistischen Bewegung den stärksten Widerstand. Deshalb müssen wir auch darauf gefasst sein, dass die Befreiung der europäischen und amerikanischen Arbeiterparteien von diesem Übel viel schwerer als bei uns sein wird. Wir wissen, dass seit der Gründung der Kommunistischen Internationale im Heilungsprozess dieser Krankheit schon ungeheure Erfolge erzielt wurden, doch sind wir noch lange nicht am Ende angelangt; die Säuberung der Arbeiterparteien, der revolutionären Parteien des Proletariats in der ganzen Welt vom bürgerlichen Einfluss, von den Opportunisten in ihrer eigenen Mitte, ist bei weitem noch nicht beendet.

Ich will nicht darauf eingehen, wie wir dies konkret durchführen sollen. Davon ist in meinen schon veröffentlichten Leitsätzen die Rede. Mein Zweck ist nur, auf die tiefen wirtschaftlichen Ursachen dieser Erscheinung hinzuweisen. Diese Krankheit ist langwierig, ihre Heilung hat sich hingezogen, hat sich länger hingezogen, als die Optimisten hoffen konnten. Der Opportunismus ist unser Hauptfeind. Der Opportunismus in den Oberschichten der Arbeiterklasse ist kein proletarischer, sondern bürgerlicher Sozialismus. Der praktische Beweis dafür ist, dass die Führer, die innerhalb der Arbeiterbewegung der opportunistischen Richtung angehören, bessere Verteidiger der Bourgeoisie sind als die Bourgeois selbst. Ohne ihre Unterstützung könnte sich die Bourgeoisie den Arbeitern gegenüber nicht behaupten. Das beweist nicht nur die Geschichte der Kerenski-Regierung in Russland, das beweist auch die demokratische Republik Deutschland mit ihrer sozialdemokratischen Regierung an der Spitze, das beweisen die Beziehungen Albert Thomas zu seiner bürgerlichen Regierung. Dies beweist die entsprechende Erfahrung in England und in den Vereinigten Staaten. Hier ist unser Hauptfeind, und diesen Feind müssen wir besiegen. Wir müssen von dem Kongress mit dem festen Entschluss weggehen, diesen Kampf in allen Parteien bis zu Ende zu führen. Das ist die Hauptaufgabe. Im Vergleich zu dieser Aufgabe ist die Wiedergutmachung der Fehler der »linken« Strömung im Kommunismus eine leichte Aufgabe. In einer ganzen Reihe von Ländern beobachten wir die Erscheinung des Antiparlamentarismus, der weniger von dem Kleinbürgertum ausgeht; hauptsächlich sind es einige Vortruppen des Proletariats, die ihn aus Verachtung des alten Parlamentarismus propagieren, aus einer begründeten, richtigen und geradezu zwingend notwendigen Verachtung des Verhaltens der parlamentarischen Führer in England, Frankreich, Italien, in allen Ländern. Es ist nötig, dass die Kommunistische Internationale hierzu praktische Winke gibt, dass sie die Genossen mit der russischen Erfahrung, mit der Bedeutung der wirklich proletarischen politischen Partei näher bekannt macht. In der Erfüllung dieser Aufgabe liegt unsere Arbeit. Dann aber wird der Kampf mit den Fehlern der proletarischen Bewegung und ihren Mängeln tausendmal leichter sein als der Kampf mit der Bourgeoisie, die unter der Maske von Reformisten in die alten Parteien der II. Internationale eingedrungen ist und ihre gesamte Arbeit nicht im proletarischen, sondern im bürgerlichen Geiste führt.

Genossen! Ich will zum Schluss noch etwas anderes erwähnen. Der Genosse Vorsitzende hat davon gesprochen, dass der Kongress den Namen eines Weltkongresses verdient. Ich glaube, dass er besonders deshalb Recht hat, sich so zu nennen, weil sich unter uns nicht wenige Vertreter der revolutionären Bewegung der zurückgebliebenen Kolonialländer befinden. Das ist nur ein schüchterner Beginn, wichtig ist jedoch die Tatsache, dass der Anfang gemacht ist. Die Vereinigung der revolutionären Proletarier der vorgeschrittenen kapitalistischen Länder mit den revolutionären Massen der Länder, in denen es kein Proletariat oder fast kein Proletariat gibt, mit den unterdrückten Massen der östlichen Kolonialländer, diese Vereinigung erfolgt auf dem gegenwärtigen Kongress. Und von uns hängt es ab – und ich bin überzeugt, dass wir es durchführen werden –, diese Vereinigung zu festigen. Der Weltimperialismus muss fallen, wenn der revolutionäre Ansturm der ausgebeuteten und unterjochten Arbeiter im Innern jedes Landes den Widerstand der kleinbürgerlichen Elemente und den Einfluss der wenig zahlreichen Oberschichten der Arbeiteraristokratie besiegt, sich mit dem revolutionären Druck von Hunderten von Millionen der Menschheit vereinigt, die bisher ausserhalb der Geschichte standen, nur als ihr Objekt betrachtet wurden.

Der imperialistische Krieg hat der Revolution geholfen; die Bourgeoisie zog aus den Kolonien, aus den rückständigen Ländern Soldaten zur Teilnahme an dem imperialistischen Kriege heran. Die englische Bourgeoisie redete den indischen Bauern ein, dass es ihre Pflicht sei, als Soldaten Grossbritannien gegen Deutschland zu verteidigen. Die französische Bourgeoisie redete den Soldaten aus den französischen Kolonien ein, dass sie, die Neger, Frankreich verteidigen müssten. Sie lehrte sie den Gebrauch der Waffen. Das ist ein äusserst nützliches Wissen; wir könnten der Bourgeoisie dafür sehr dankbar sein, ihr im Namen aller russischen Arbeiter und Bauern und im Namen der russischen Roten Armee im besonderen danken. Der imperialistische Krieg zog die abhängigen Völker mit hinein in die Weltgeschichte. Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist nun, darüber nachzudenken, wie wir den Grundstein zur Organisation der Sowjetbewegung in den nichtkapitalistischen Ländern legen sollen. Die Sowjets sind auch dort möglich; sie werden keine Arbeiterräte, sondern Bauernräte oder Räte der Werktätigen sein.

Das erfordert viel Arbeit, Fehler werden unvermeidlich sein, vielen Schwierigkeiten werden wir auf diesem Wege begegnen. Die Hauptaufgabe des Zweiten Kongresses wird es sein, praktische Richtlinien auszuarbeiten, damit die Arbeit, die bis jetzt unter den Hunderten von Millionen von Menschen unorganisiert vor sich ging, zu einer organisierten, einheitlichen, systematischen werde.

Etwas mehr als ein Jahr ist seit dem Ersten Kongress der Kommunistischen Internationale vergangen, und wir haben in dieser Zeit die Zweite Internationale besiegt. Die Sowjetideen sind jetzt nicht allein unter den Arbeitern der zivilisierten Länder verbreitet, nicht nur ihnen bekannt und verständlich: die Arbeiter aller Länder lachen über jene superklugen Leute, unter denen sich nicht wenige befinden, die sich Sozialisten nennen und die in gelehrter oder halbgelehrter Weise über das »Sowjetsystem«, wie sich die systematischen Deutschen auszudrücken belieben, oder über die »Sowjetidee«, wie die englischen »Gildensozialisten« zu sagen belieben, urteilen. Dieses Philosophieren über das »Sowjetsystem« oder die »Sowjetidee« trübt den Arbeitern nicht selten Blick und Verstand. Aber sie werfen diesen pedantischen Streit beiseite und greifen zu der Waffe, die ihnen die Sowjets geben. Das Verständnis der Rolle und der Bedeutung der Sowjets hat sich jetzt auch auf die Länder des Ostens erstreckt.

Der Anfang der Sowjetbewegung ist im ganzen Osten, in ganz Asien, unter allen Kolonialvölkern gemacht.

Der Grundsatz, dass der Ausgebeutete sich gegen den Ausbeuter empören und Sowjets bilden soll, ist nicht zu kompliziert. Dies wird den Hunderten Millionen der unterdrückten und ausgebeuteten Massen der ganzen Welt durch unsere Erfahrung, die wir nach zweieinhalb Jahren Räterepublik in Russland und nach dem ersten Kongress der Kommunistischen Internationale gewonnen haben, klar werden, und wenn jetzt wir in Russland gezwungen sind, nicht selten Kompromisse zu schliessen, abzuwarten, da wir schwächer als die internationalen Imperialisten sind, so wissen wir doch, dass wir die Interessen von 1 ¼ Milliarden Menschen verteidigen. Uns hindern heute noch alte Vorurteile, alte Unwissenheit, die aber mit jeder Stunde schwinden; immer tatkräftiger vertreten und verteidigen wir 70 Prozent der Bevölkerung der Erde, die Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten. Wir können mit Stolz sagen: auf dem Ersten Kongress waren wir eigentlich nur Propagandisten. Wir warfen die Grundideen, den Aufruf zum Kampfe ins Weltproletariat. Wir fragten nur: wo sind die Leute, die sich fähig fühlen, diesen Weg zu beschreiten? Jetzt steht das vorgeschrittene Proletariat überall zu uns. Überall sind, wenn auch manchmal schlecht organisiert und der Reorganisation bedürftige, proletarische Armeen vorhanden, und wenn unsere internationalen Genossen uns helfen, eine einheitliche Armee zu schaffen, dann können uns keine Mängel an unserem Vorhaben hindern. Dieses Werk ist die Sache der proletarischen Weltrevolution, das Werk der Schaffung der Räterepublik der Welt. (Lange anhaltender Beifall, das Orchester spielt die »Internationale«.)

Sinowjew. Die Rede des Genossen Lenin wird auf der Sitzung nicht in die anderen Sprachen übersetzt, die schriftliche Übersetzung seiner Rede wird unter den Delegierten verteilt werden. (Darauf erteilt er das Wort dem Genossen Rosmer.)

Rosmer. Im Namen der französischen Arbeiter- und Bauern danke ich für den Empfang, der alle französischen Delegierten tief gerührt hat. Es war ein glücklicher Gedanke, alle Delegierten im Smolny zu begrüssen, um hier zu zeigen, welche Qualen und Leiden das russische Proletariat durchmachen musste, um zu dem Siege zu gelangen, den wir heute feiern. Die Worte des Genossen Kalinin, es sei Zeit, dass das internationale Proletariat seine Solidarität mit dem russischen Volke beweise, haben sich allen Anwesenden tief ins Gedächtnis eingeprägt. Die französischen Arbeiter sind sich dessen bewusst, dass sie noch nicht tatkräftig genug dem russischen Volke zu Hilfe gekommen sind, teils weil sie seine Verhältnisse nicht kannten, teils weil sie durch böswillige Propaganda irregeführt waren, teils weil sie nicht stark genug waren, um ihren Willen ins Leben umzusetzen. Jetzt werden die französischen Delegierten bei ihrer Rückkehr nach Frankreich die Möglichkeit haben, die französischen Arbeiter und Bauern von dem in Kenntnis zu setzen, was in Russland vorgeht. Sie versprechen, mit verzehnfachter Tatkraft danach zu streben, dass die französischen Arbeiter und Bauern begreifen, dass hier für die gemeinsame Sache der ganzen Welt gerungen und gestorben wird. Sie versprechen, ihre Tatkraft zu verstärken, um das französische Proletariat zum Eintritt in die Reihen des tätigen Proletariats zu bewegen. Sie halten es für ihre Pflicht, besonders herzlich das Proletariat des Roten Petersburg zu begrüssen, das mit aussergewöhnlichem Heldenmut, mit Selbstaufopferung und Ausdauer die Feinde zerstreut und die besondere Achtung des Weltproletariats erworben hat.

(Darauf schlägt er den Text der an das Petrograder Proletariat gerichteten Begrüssung vor, der wie folgt lautet:)

An die Proletarier von Petrograd.

Brüder! Der II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, der seine Sitzungen im roten Petrograd eröffnet, sendet seinen ersten Willkommensgruss Euch Petrograder Arbeitern, Arbeiterinnen, Rotarmisten, Matrosen und allen Werktätigen. Wir Delegierte der Arbeiterorganisationen der ganzen Welt haben es für unsere Pflicht gehalten, die erste Sitzung des Kongresses bei Euch in Petrograd zu eröffnen, um dadurch den Zoll der Achtung und Liebe an das Proletariat des roten Petrograd zu entrichten, das sich als erstes gegen die Bourgeoisie erhoben und in heroischer Anspannung der Kräfte und des Willens die Macht des Kapitals in einer der wichtigsten Festen der bürgerlichen Welt gestürzt hat.

Die Proletarier aller Länder wissen, wie viel Ihr Proletarier Petrograds im Lauf der letzten drei Jahre gelitten, wie sehr Ihr gehungert habt, wie viele von den besten Eurer Söhne bei der Verteidigung der hehren Sache des Kommunismus an den Fronten gefallen sind. Die Arbeiter der ganzen Welt lieben Euch darum besonders heiss, weil Ihr in den Augenblicken höchster Gefahr für Petrograd und die ganze Sowjetrepublik niemals gezaudert habt, sondern die blutbefleckte rote Fahne mit dem Löwenmut, der unerschrockenen Tapferkeit und Standhaftigkeit des Petrograder Proletariats verteidigt habt. Die Kommunistische Internationale sagt zu Euch: die Petrograder Kommune ist würdig, die Sache der Pariser Kommune fortzusetzen und unter Vermeidung ihrer Schwächen und Fehler die proletarischen Bataillone zum Siege zu führen. Die Kommunistische Internationale ist überzeugt, dass die Arbeiter des roten Petrograd auch künftighin die beste Truppe der internationalen Arbeiterarmee bleiben werden.

Es lebe das herrliche Petrograder Proletariat!

Es lebe die Kommunistische Internationale!

Sinowjew. Der Kongress wünscht, sich mit einer Begrüssung an die Rote Armee der russischen Republik zu wenden. Das Wort hat Gen. Serrati, der Vertreter der italienischen Arbeiter.

Serrati. Im Namen der Italienischen Sozialistischen Partei, die der Kommunistischen Internationale beigetreten ist, begrüsse ich die ruhmreiche Rote Armee Russlands, die Verteidigerin des erhabenen Ideals des Weltproletariats. Als der Welt krieg ausbrach, versuchten die Verräter der Arbeiterklasse in Italien, diese zu überreden, auf die Seite der Bourgeoisie überzugehen. Damals verbreiteten sie die Lehre, dass das Proletariat den Frieden erringen und seine eigenen Kampfziele erreichen werde, wenn es Waffen in der Hand haben werde. Jedoch die Italienische Sozialistische Partei sagte sich von diesen Sozialverrätern los. Sie sagte, dass sie immer, ob mit oder ohne Gewehr, auf der Seite der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie kämpfen werde. Und jetzt hat die grosse Rote Armee dies durch die Tat bewiesen. Sie hat mit goldenen Buchstaben in die Geschichte eingetragen, dass sowohl Eisen wie Gewehre nur dann eine Waffe sind, wenn die Arbeiterklasse sie zu gebrauchen versteht, wenn sie weiss, dass alles dies nur zur Eroberung des hehren Ideals des Proletariats und gegen die Bourgeoisie der ganzen Welt dient. Jene ruhmreiche, grosse Armee, die da kämpft und Sieg auf Sieg erringt, im Süden gegen Wrangel und im Westen gegen Polen kämpft, diese Rote Armee steht nicht einsam da: mit ihr zusammen kämpfen auch die englischen Arbeiter und die italienischen Seeleute und die deutschen Seeleute in Kiel. Und überall, wo Proletarier leben, verhindern sie durch Streiks und andere Mittel, dass die todbringenden Waffen an die polnische Front gelangen. Überall, wo sie durch ihren blutigen Kampf beweisen, dass sie nicht den Interessen der Bourgeoisie dienen wollen, da gibt es Verteidiger und Anhänger der grossen proletarischen Roten Armee. Möge der Tag nahe sein, an dem die proletarische Rote Armee nicht nur aus russischen Proletariern, sondern aus Proletariern der ganzen Welt bestehen wird, an dem alle Werktätigen, durch das Bewusstsein des hehren Ideals des Sozialismus vereint, eine einzige grosse und unbesiegbare Armee bilden werden, die den Kapitalismus ein für allemal besiegen und allem ein Ende wird bereiten können, was sein Vermächtnis bildet, an dem die Proletarier der ganzen Welt und die tapferen Rotarmisten sich endgültig von der Pflicht des Kriegsdienstes befreien und nicht mit Kanonen, sondern durch die Rückkehr zu friedlicher Arbeit die ganze Welt von dem befreien können, was immer die Arbeiterklasse gedrückt hat. Im Namen dieser hohen Idee, abgesehen von den Diensten, die die Rote Armee schon dem Weltproletariat erwiesen hat, schlage ich im Namen aller Parteien, die in der Kommunistischen Internationale vertreten sind, folgende Begrüssung der Roten Armee und der Roten Flotte der Russischen Föderativen Sowjetrepublik vor.

An die Rote Armee und die Rote Flotte der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.

Brüder! Der II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale sendet seinen wärmsten Brudergruss der ganzen Roten Armee, der ganzen Flotte, jedem roten Truppenteil vom kleinsten bis zum grössten, Euch Rotarmisten und roten Seeleuten, allen zusammen und jedem einzelnen – insbesondere den Genossen an der Front. Die Werktätigen der ganzen Welt verfolgen mit verhaltenem Atem und voller Liebe Euren Kampf gegen die Kapitalisten und Gutsherren, die zaristischen Generäle und Imperialisten. Die Arbeiter der ganzen Welt haben mit Euch zusammen Eure Niederlagen durchlebt und feiern mit Euch zusammen Eure Siege. Die werktätige Bevölkerung der ganzen Welt verfolgt voller Begeisterung, wie Ihr um den Preis grosser Anstrengungen Koltschak, Denikin, Judenitsch, Miller besiegt habt, wie Ihr die Betrügereien der englischen und französischen Kapitalisten zu Schanden gemacht habt.

Der II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale begrüsst aufs wärmste die Rote Armee, die im gegenwärtigen Augenblick an der West- und Südwestfront gegen die weissen polnischen Pans kämpft, die von der Bourgeoisie der Entente ausgesandt worden sind, um die russische Sowjetrepublik der Arbeiter un Bauern zu erdrosseln.

Brüder Rotarmisten, wisset: Euer Krieg gegen die polnischen Pans ist der gerechteste Krieg, den die Geschichte jemals gekannt hat. Ihr kämpft nicht nur für die Interessen Sowjetrusslands, sondern auch für die Interessen der ganzen werktätigen Menschheit, für die Kommunistische Internationale.

Die werktätigen Massen können das Joch der Reichen und das Lohnsklaventum nicht anders vernichten als mit der Waffe in der Hand. Ihr habt als erste die Waffe gegen die Unterdrücker gekehrt. Ihr habt als erste eine geordnete und mächtige Rote Arbeiter- und Bauernarmee geschaffen. Ihr habt als erste allen Unterdrückten und Ausgebeuteten der ganzen Welt den Weg gewiesen. Dafür segnen Euch die Proletarier aller Länder.

Die Kommunistische Internationale weiss, dass Eure Siege über die Feinde der Arbeiter und Bauern mit unzähligen Opfern und Entbehrungen erkauft sind.

Wir wissen, dass Ihr Euch selbst nicht schont. Wir wissen, wie viele von den besten Söhnen der Roten Armee ihr Leben für unsere Sache geopfert haben. Euer Heldenmut wird in der Geschichte niemals vergessen werden.Wisset, Genossen: die Rote Armee ist gegenwärtig eine der Hauptkräfte der Weltgeschichte. Wisset: Ihr seid nicht mehr allein. Die Werktätigen der ganzen Welt sind auf Eurer Seite. Die Zeit ist nahe, da die internationale Rote Armee geschaffen werden wird.

Es lebe die grosse, unbesiegbare Rote Armee!

Es lebe die Armee der Kommunistischen Internationale!

Sinowjew. Der Kongress beabsichtigt, sich mit einem besonderen Aufruf an alle Arbeiter der Welt zu wenden wegen einer Abteilung unserer Truppen, die sich jetzt in besonders schwerer Lage befindet und ungeheure Opfer bringt. Ich spreche von dem ungarischen Proletariat. Das Wort hat der Vertreter der österreichischen Kommunisten, Gen. Steinhardt.

Steinhardt. Genossen und Genossinnen! Als im März des vorigen Jahres der I. Kongress der Kommunistischen Internationale zu Ende ging und im Anschluss daran der VIII. Parteikongress der Kommunistischen Partei Russlands begann, da erhielten wir in Moskau ein Telegramm des Gen. Béla Kun, worin er meldete, dass die ungarische Arbeiterschaft die Macht in ihre Hände genommen habe und die ungarische Räterepublik errichtet sei. Diese Nachricht erfüllte uns zwar alle mit grosser Freude, aber gleichzeitig betrachteten wir nicht ohne Besorgnis die näheren Umstände, unter denen dieses grosse Ereignis vor sich gegangen war. Denn nicht durch einen langjährigen blutigen Kampf gegen das Bürgertum wurde die Sowjetmacht in Ungarn erobert, sondern man hatte kampflos die Macht von der Bourgeoisie übernommen, und zwar mit Kampfgenossen, die als die rückständigsten Schichten der sozialdemokratischen Parteien aller Länder in der Internationale bekannt waren, nämlich mit der ungarischen Sozialdemokratie. Was wir befürchteten, trat dann auch wirklich ein. Von den ersten Tagen ab sabotierte die ungarische Sozialdemokratie, die sich mit der Kommunistischen Partei vereinigt hatte. Diese Vereinigung war der grösste Fehler der ungarischen Kommunistischen Partei. Die ungarischen Gewerkschaftsorgane sabotierten, das Bürgertum, das internationale Kapital, alles vereinigte sich, um die ungarische Sowjetregierung zu stürzen. Was kommen musste, kam. Bedroht von den Rumänen, diesen Bojaren, diesen Wüstlingen, und bedrängt von den englischen Söldnern, die sich durch den Namen Horthy in der Geschichte auf ewig mit Schmach bedeckt haben, im Norden bedroht von der Tschechoslowakei und nicht unterstützt von Deutsch-Österreich, weil uns die Sozialdemokratie in Deutsch-Österreich den Kampf angesagt hatte, nicht unterstützt von Deutschland, war die ungarische Sowjetregierung gezwungen, von den ersten Tagen an einen verzweifelten Kampf zu führen. Aber, Genossen, trotz alledem war es ein grosses Ereignis, denn zum ersten Mal in der Geschichte des Kommunismus entstand mitten in den westlichen kapitalistischen Ländern, mitten im Feindeslager eine Sowjetrepublik. Das war in den Augen der Kapitalisten des Westens ein Verbrechen, das mit allen zu Gebote stehenden Mitteln gesühnt werden musste. Es widerstrebt einem, es überhaupt auszusprechen, was sich jetzt in Ungarn seit einem Jahre an Scheusslichkeiten abspielt. Es gibt nichts Unmenschlicheres als das, was jetzt von den Horden des Horthy an den Arbeitern, ganz gleich ob sie Kommunisten, Sozialdemokraten oder sogar Christlichsoziale sind, verübt wird. Infolgedessen steht Ungarn jetzt wehrlos da. Es ist die Pflicht der Kommunistischen Internationale, an diesem geschichtlichen Orte, zu dieser aussergewöhnlichen geschichtlichen Stunde einen Protest zu erheben, aber nicht einen Protest in Worten, sondern einen Protest der kräftigen Tat gegen diese Horthy-Banden. Genau so, wie sich die Arbeiter der Tschechoslowakei vereinigt haben, um weder Waffen noch einen Karren Kriegsmaterial nach Polen zu senden, genau so, wie in Deutsch-Österreich und in Deutschland unsere Arbeiterbetriebsräte sich vereinigt haben, damit kein Waggon gegen Sowjetrussland geführt wird, so müssen wir uns vereinigen, damit wir mit unseren Brüdern gemeinsam das Horthy-Ungarn rasch wieder zu einem Sowjetungarn, zu einem Kulturlande machen können! Wir müssen diese Bande mit allen Mitteln niederzuschlagen suchen. Genossen, deshalb bitte ich Euch, nachfolgenden Aufruf an alle Proletarier einstimmig und ohne Debatte anzunehmen, in den einzelnen Ländern aber auch jede Stunde nach ihm zu handeln. Denn darauf, Genossen, kommt es an.

An die Proletarier aller Länder.

Arbeiter, Arbeiterinnen!

In den Tagen, da Sowjetrussland den Angriff der verbrecherischen Clique des polnischen Adels siegreich zurückweist, da sich in der ganzen Welt die Woge des Arbeiterunwillens gegen die kapitalistischen Regierungen erhebt, da die revolutionären Proletarier auf dem Kongress der Kommunistischen Internationale die grosse Vereinigung der vielmillionenköpfigen Arbeiterarmee durchführen, gibt es ein Land, das mit den Leichen der besten Revolutionskämpfer bedeckt ist. Dieses Land ist Ungarn. Das internationale Kapital, dieses widerliche und niederträchtige Scheusal, hat die junge ungarische Sowjetrepublik erschlagen. Zum Feldzug gegen sie hatten sich alle Kräfte der alten Welt vereinigt: die handwerksmässigen Mörder im Generalsrock und die christlichen Priester, die Londoner Bankiers und das adlige Gesindel Rumäniens, die französischen Wucherer und die Sozialverräter aller Länder, die schwarzen Söldlinge und die »zivilisierten« Kulturträger. Von allen Seiten in die Enge getrieben, mit gebrochenen Armen und Beinen, ist die ungarische Sowjetrepublik unter entsetzlichen Qualen auf dem Golgatha der Gegenrevolution gestorben, um wieder zu auferstehen, sobald wir ihr zu Hilfe eilen können. Diese bestialische Gegenrevolution, die geführt wird vom Abschaum der Offiziersbande des englischen Mietlings Admiral Horthy, tanzt jetzt auf den Leichen der Arbeiter ihren scheusslichen Reigen. Es gibt keine Grausamkeit, keine Niedertracht, keinen tierischen Zynismus, den die zügellose Gewalt der christlich-generalsmässigen »Ordnung« nicht zur Anwendung brächte. Tausende sind erhängt und erschossen, Zehntausende ins Gefängnis geworfen, erschlagen und hinterrücks ermeuchelt, in die Kloaken gestürzt, spurlos verschollen, ausgeraubt, vergewaltigt, in der Folter verkrüppelt worden das ist die Ordnung, die vom demokratischen »Völkerbund« mit Hilfe der Helden der II. Internationale wieder hergestellt worden ist. »Wehe den Besiegten!« ruft der englische Oberst – und schiesst die kommunistischen Arbeiter nieder. »Wehe den Besiegten!« ruft der vertierte Gutsbesitzer und vergewaltigt eine Arbeiterin. »Wehe den Besiegten!« ruft der ruft der weissgardistische Gefängnisknecht und setzt die noch nicht unter die Erde gebrachten Arbeiter hinter Schloss und Riegel.

Proletarier! Arbeiterinnen!

Zur Stunde, da das Knirschen der Knochen des untergehenden ungarischen Proletariats zu uns herübertönt, habt Ihr die Pflicht, Eure Stimme zu erheben und der verbrecherischen Hand der bürgerlichen Henker Einhalt zu tun, die lebendigen Menschen die Haut abziehen, sie zwingen, Menschenkot zu essen, Frauen vergewaltigen und den Kommunistinnen den Bauch aufschlitzen.

Sogar die Lakaien des Kapitals, die Helden der sozial-patriotischen Amsterdamer Gewerkschaftsvereinigung, haben, durch ihre eigene Gemeinheit erschreckt, dem weissen Ungarn den Boykott erklärt. Und ihre Kommission hat Tausende von räuberischen Untaten der ungarischen Regierung und der ganzen Horthy-Bande festgestellt. Und so sind sie denn Verräter genug, um sogar ihren eigenen Verrat zu verraten.

Die Kommunistische Internationale wendet sich auf ihrem Weltkongress im Namen von Millionen von Arbeitern an der Schwelle des Weltkriegs mit dem Kapital an das ganze Proletariat mit dem Aufruf:

Erhebt Euch alle zum Kampf gegen die Henker Ungarns!

Wendet in diesem Kampfe alle Mittel an!

Bringt die Züge mit Waffen zum Stehen! Sprengt jeden Militärtransport, der nach Horthy-Ungarn geht, in die Luft!

Macht die Offiziere unschädlich, die zum Mord der Arbeiter eilen!

Desorganisiert durch eine mächtige Welle wiederkehrender Streiks die Produktion aller Waffen ohne Ausnahme! Bewaffnet nur Euch selbst! Macht alle Anstrengungen in Wort und Tat, um die Armee des Imperialismus zu zersetzen. Umgebt das Land der Mörder und Würger mit einer Mauer des Hasses!

Arbeiter! Durch Eure Gleichgültigkeit werdet Ihr selbst zu Helfershelfern der Henker!

Tretet alle in die Reihen der Kämpfer! Rettet Eure proletarische Ehre! Rettet das leidensreiche ungarische Proletariat!

Ungarische Arbeiter! Fasset Mut! Das Proletariat der ganzen Welt ist mit Euch. Die Kommunistische Internationale sendet Euch den Ausdruck ihrer Liebe und Brüderlichkeit.

Sowjetungarn ist tot! Es lebe Sowjetungarn!

Marchlewski. Es sei mir erlaubt, hier die Lage Polens zu schildern. Die russischen Arbeiter wissen, dass die polnischen revolutionären Arbeiter in den Jahren 1905–1906 Bahnbrecher der Revolution gegen den russischen Zarismus waren. Ungeachtet dessen, dass die Sache der Befreiung des polnischen Staates – fretlich nur der scheinbaren Befreiung, da dieser Staat ein Werkzeug der Entente wurde – ungeachtet dessen, dass die Beseitigung des Joches, unter dem das polnische Volk seufzte, die Sache der Revolution war, haben die polnischen Arbeiter es nicht verstanden, dieses glückliche Zusammentreffen der Umstände auszunützen. Die Sache ist die, dass der europäische Krieg, der imperialistische Krieg, das polnische Proletariat nach allen Seiten hin zerstreut hat. Hunderttausende von polnischen Arbeitern waren nach Russland, Hunderttausende nach Deutschland verschlagen. Deshalb konnten Betrüger, diese Herren, die nur die kleinbürgerlichen Schichten hinter sich haben, die Macht an sich reissen und darauf mit Hilfe der Entente starke Kräfte für den Kampf gegen Sowjetrussland formieren. Vom ersten Augenblick an haben die polnischen Kommunisten gegen dieses Verbrechen gekämpft, und dieser Kampf hat viel Blut gekostet. Ihr wisst, dass der Überfall auf Russland mit einem schmachvollen, schändlichen Morde begann, den die polnischen Gendarmen an jener Mission des roten Kreuzes begingen, an deren Spitze einer unserer Besten, Genosse Wesolowski, stand. Ihr habt gelesen, dass die Ausschreitungen, die in Polen gegen die Kommunisten stattfinden, ihresgleichen wohl nur in Ungarn haben. Ihr wisst, dass dort im Verein mit der Bourgeoisie unsere Sozialverräter – Daszyński und Konsorten – wirken, die möglicherweise noch fragwürdiger sind, als die russischen Menschewiki und die deutschen Scheidemänner. Jetzt aber ist die Stunde gekommen, in der das polnische Proletariat klar sehen wird, in der die imperialistische Betäubung, die einen Teil der Arbeiterklasse Polens ergriffen hatte, beseitigt wird; und jetzt, da die siegreiche Rote Armee vorwärts schreitet, da sie jene Kraft zerstören hilft, die bis jetzt über Polen geherrscht hat, hegen wir die feste Hoffnung, dass die Sache der polnischen Revolution schnell vorwärts kommen wird. Aber, Genossen, wir wollen dessen eingedenk sein, dass wir eine ernste Sache vorhaben, wir wollen bedenken, dass der freche Akt Lord Curzons, den die Sowjetregierung ablehnen musste, Drohungen enthält. Vielleicht werden die englischen und französischen Heere dem weissgardistischen Polen auch nicht gegen die polnische Revolution und gegen Sowjetrussland zu Hilfe eilen; aber unsere Feinde werden bemüht sein, die rumänische Armee und vielleicht auch jene Armeen auf uns zu hetzen, die Herr Noske schon für sie organisiert hat. Vielleicht werden Hunderttausende deutscher Freiwilliger an die polnische Front eilen, um das revolutionäre Polen und Sowjetrussland zu erwürgen. Und deshalb, Genossen, wollen wir dessen eingedenk sein, dass wir uns von der II. Internationale unterscheiden und nicht eine Internationale der Worte, sondern eine Internationale der Tat sein wollen. Eure Pflicht ist es, jetzt zu helfen, dass dieser verbrecherische Krieg schnell beendet wird. Und dann, daran zweifle ich nicht, werden die uns bedrohenden Scharen der Bourgeoisie ebenso enden, wie bisher alle Armeen geendet haben, die Niederlagen erlitten haben. Als die russischen, die deutschen und die österreichischen Armeen Niederlagen erlitten, wurden sie revolutionär. Dasselbe wird auch in Polen geschehen, und dann wird die polnische Sowjetrepublik triumphieren. Um diesen Kampf, um diesen Sieg jedoch werden wir noch hart ringen müssen. Wir polnischen Kommunisten schwören Euch, dass wir nicht nachgeben werden, und wir bitten um Eure Unterstützung, Genossen.

Sinowjew. Der Kongress beabsichtigt, über diese wichtige Frage ein politisches Manifest zu erlassen. Ich gebe das Wort dem Delegierten der deutschen Kommunisten, Genossen Levi.

Levi. Genosse Serrati hat soeben mit beredten Worten die Gefühle geschildert, die das europäische Proletariat und das Proletariat der Welt der Roten Armee entgegenbringt. Ihr habt diesen Worten begeisterten Beifall gespendet, und ich muss sagen, ich bin erstaunt, dass Ihr noch immer Beifall spendet, wenn die Gefühle des europäischen Proletariats Euch überbracht werden. Denn die Gefühle des europäischen Proletariats für die russische Revolution und für die Rote Armee sind schon lange die gleichen. Und trotz aller Gefühle sind es europäische und sind es deutsche Proletarier gewesen, die den Frieden von Brest-Litowsk Russland auferlegten, sind es deutsche Proletarier gewesen, die durch das Baltikum marschierten und die in der Ukraine und in Südrussland die Revolution niederschlugen. Für das deutsche und für das europäische Proletariat wird aber jetzt die Stunde kommen, in der es zeigen muss, dass es über Gefühle der Sympathie hinaus imstande ist, zu dem zu schreiten, was der russischen Revolution allein helfen kann, zu der lebendigen Tat.

Gerade jetzt rücken die roten Truppen immer mehr in Polen vor, nähern sich Warschau. Hier aber in Polen ist es zum erstenmal, dass die roten Armeen sich Auge in Auge mit dem europäischen Imperialismus messen. Was sie bisher bekämpften – die Denikin, Judenitsch und Koltschak – das waren nur sehr armselige Schergen. Um Polen herum gruppiert sich aber der europäische Imperialismus. Überhaupt ist Polen nicht ein herumwandernder Landsknecht der Entente, sondern ein Vorwerk des europäischen Imperialismus. Hier messen sich nun die Kräfte, und hier müssen nun die europäischen Proletarier zeigen, wie weit sie begreifen und imstande sind, in Polen selbst nicht nur die polnische Bourgeoisie, sondern auch den polnischen Kapitalismus zu schlagen, zu schlagen bis er zerbricht. Hier wartet die erste gemeinschaftliche Tat, zu der die Proletarier aller Länder zusammenwirken müssen. Und in diesem Sinne schlagen wir Euch vor, von dieser Stelle, auf die heute die Augen der Proletarier aller Welt gerichtet sind, folgenden Aufruf zu erlassen:

An die Proletarier und Proletarierinnen aller Länder!

Der II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale tritt in einem Augenblick zusammen, in dem unter den wuchtigen Schlägen der roten Armee der russischen Arbeiter und Bauern das weisse Polen, das Bollwerk der kapitalistischen Weltreaktion, zusammenbricht. Was alle revolutionären Arbeiter und Arbeiterinnen der ganzen Welt heiss ersehnt haben, das hat sich vollzogen.

Die russischen Arbeiter und Bauern standen gegen die frechen polnischen Weissgardisten mit derselben Wucht auf, mit der sie sich erhoben haben, um die russische Gegenrevolution, um die Heere von Judenitsch, Koltschak und Denikin niederzuwerfen. Die polnischen Kapitalisten und Junker, die die ehrlichen Friedensvorschläge Sowjetrusslands verschmähten und in der Hoffnung auf die Hilfe des Weltkapitals, in der Überzeugung, dass Sowjetrussland im Kampfe gegen die Konterrevolution alle seine Kräfte verbraucht hat, ihre Truppen auf Sowjetrussland geworfen haben, sie stehen jetzt vor einer grossen militärischen Niederlage.

Panikartig fluten ihre Heere von der Ukraine und von Weissrussland zurück, und ihnen drängen die Heere Sowjetrusslands nach. Die Banditen des Weltkapitals, die polnischen Junker und Kapitalisten, erheben jetzt ein lautes Jammergeschrei, Polen sei in grosser Gefahr.

Sie wenden sich an die Regierungen der kapitalistischen Länder mit Bitten um möglichst schleunige Hilfe, wenn die europäische Zivilisation nicht durch die Barbaren der russischen Revolution vernichtet werden solle, und wir sehen, wie die englische Regierung. welche die Polen zu ihrem verbrecherischen Feldzug gegen Sowjetrussland ausgerüstet hat, zusammen mit ihren Verbündeten es ablehnte, Polen in den Arm zu fallen, als Sowjetrussland am 8. April Verhandlungen in London vorschlug Wir sehen, wie eben dasselbe kapitalistische England Sowjetrussland frech mit einem neuen, von allen Alliierten organisierten Überfall bedroht, falls Sowjetrussland keinen Waffenstillstand mit den polnischen Eindringlingen schliesst. Die Schieber des Weltkapitals, die mit den Geschicken der Völker wie mit Schachfiguren gespielt haben, spielen sich jetzt als die Verteidiger des unabhängigen Polens auf. Die französische Regierung. die noch im Jahre 1917 bereit war, Polen dem russischen Zarismus freizugeben, wenn er dafür die Ansprüche des französischen Imperialismus auf das linke Rheinufer anerkannte, die englische Regierung, die viele Male während des Krieges durch ihre Agenten der deutschen Regierung vertraulich erklärte, sie würde Polen an die Zentralmächte ausliefern, falls nur der deutsche Imperialismus Belgien freilasse, von wo aus England bedroht werden könnte – alle diese Händler mit Menschenfleisch schreien jetzt, die Unabhängigkeit Polens sei von Sowjetrussland bedroht, und sie suchen unter dieser Losung die öffentliche Meinung der Welt für einen neuen Feldzug gegen die russischen Arbeiter und Bauern vorzubereiten.

Arbeiter und Arbeiterinnen der Welt! Wir brauchen Euch nicht erst zu erklären, dass Sowjetrussland nicht die geringsten Eroberungspläne gegenüber dem polnischen Volke hegt. Sowjetrussland verteidigte die Unabhängigkeit Polens vor dem Angriff der Henker des polnischen Volkes, vor dem Angriff der Hoffmann und Beseler, Sowjetrussland war bereit, sogar mit den polnischen Kapitalisten Frieden zu schliessen, indem es, um nur den Frieden zu erlangen, nicht nur die Unabhängigkeit Polens anerkannte, sondern ihm sogar grosse Grenzgebiete zugestand. Sowjetrussland zählt in seinen Reihen Tausende tapferer polnischer Kämpfer, Sowjetrussland ist durch jahrzehntelangen gemeinsamen Kampf mit den polnischen Arbeitermassen aufs engste verbunden, für Sowjetrussland ist das Selbstbestimmungsrecht des polnischen Volkes ein heiliges, unantastbares Recht, und wenn kein einziger Soldat Polen verteidigen würde, der polnische Boden würde Besitz des polnischen Volkes bleiben, und das polnische Volk könnte frei über sein Geschick entscheiden.

Aber solange in Polen die Clique kapitalistischer und junkerlicher Abenteurer herrscht, die Polen in das verbrecherische Kriegsabenteuer gestürzt haben, solange das Ententekapital Polen mit Waffen versieht, befindet sich Sowjetrussland in einem Verteidigungskriege. Wenn Sowjetrussland heute den polnischen Weissgardisten eine Atempause gibt, wenn Sowjetrussland ihnen erlaubt, ihr geschlagenes Heer zu reorganisieren, es mit Hilfe der Entente von neuem auszurüsten, so wird Sowjetrussland morgen wieder genötigt sein, Hunderttausende seiner besten Söhne vom Acker und von der Werkstatt abzuberufen und zu einem neuen Verteidigungskrieg ins Feld zu senden.

Arbeiter und Arbeiterinnen! Wenn die kapitalistische Canaille der ganzen Welt über die Bedrohung der Unabhängigkeit Polens schreit, um einen neuen Feldzug gegen Sowjetrussland vorzubereiten, so wisst eins: Eure Sklavenhalter zittern, dass einer der Pfeiler ihrer Herrschaft, ihres Weltsystems der Reaktion, der Ausbeutung, der Knechtung zusammenbricht; sie fürchten, dass, wenn unter den Schlägen der Roten Armee das weissgardistische Polen zusammenbricht und die polnischen Arbeiter die Macht ergreifen, es den deutschen, österreichischen, italienischen und französischen Arbeitern leichter sein wird, sich von ihren Ausbeutern zu befreien, und dass dann auch die Arbeiter Englands und Amerikas nachfolgen werden. Wenn die kapitalistische Canaille über die bedrohte Unabhängigkeit Polens jammert und wettert, so tut sie es aus Angst, dass Eure Knechtschaft, Eure Abhängigkeit, Arbeiter und Arbeiterinnen, der Befreiung von den Fesseln der kapitalistischen Sklaverei Platz machen könnte. Darum ist es Aufgabe der Proletarier aller Länder, alles zu tun, um den Regierungen Englands, Frankreichs, Amerikas, Italiens nicht zu ermöglichen, den polnischen Weissgardisten irgendwie Hilfe zu leisten. Proletarier der Ententeländer! Eure Regierungen werden Euch weiter belügen, sie werden weiter wie bisher behaupten, dass sie Polen nicht unterstützen. Es ist Eure Pflicht, in allen Häfen, an allen Grenzen Wache zu halten, damit kein einziger Zug, kein einziges Schiff mit Lebensmitteln oder mit Waffen nach Polen abgeht. Steht auf der Wacht, lasst Euch nicht betrügen durch falsche Deklarierung des Zieles der Sendungen; sie können auch auf Umwegen nach Polen gesandt werden, und wo die Regierungen oder Privatkapitalisten Eurem Protest nicht weichen, tretet in den Streik, legt Hand an, denn unter keinen Umständen dürft Ihr den polnischen Junkern und Kapitalisten helfen, Eure russischen Brüder abzuschlachten.

Proletarier Deutschlands! Wenn das weissgardistische Polen zusammenbricht, dann wird das Ententekapital Frieden mit den deutschen Generälen, mit den deutschen Kapitalisten schliessen; es wird ihnen helfen, grosse Söldnerheere auszurüsten, es wird mit diesen Söldnerheeren das deutsche Proletariat niederwerfen, um aus Deutschland eine Basis für den Kampf gegen Sowjetrussland zu machen; es wird nicht davor zurückschrecken, Deutschland in Trümmer zu schlagen, um dort ein Vorgelände zum Kampf gegen Sowjetrussland und Sowjetpolen zu haben. Deutsche Arbeiter und Arbeiterinnen! Die Stunde hat geschlagen, in der ihr zur Wahrheit machen könnt, was Ihr tausendmal in grossen Demonstrationen gelobt habt: zu Euren russischen Brüdern zu stehen und zusammen mit ihnen für Eure Befreiung zu kämpfen. Erlaubt nicht, dass auf deutschem Boden irgendwelche Versuche zur Unterstützung des weissgardistischen Polens vorgenommen werden, erlaubt keine neuen Werbungen von Söldnern auf deutschem Boden! Haltet alle nach dem Osten gehenden Eisenbahnzüge unter schärfster Kontrolle, haltet Danzig unter schärfster Kontrolle und tut alles, was die Lage erfordert! Kein Waggon, kein Schiff darf von Deutschland nach Polen abgehen.

Proletarier aller anderen Länder! Gedenket, der Feind heisst jetzt das weisse Polen. Ihn zu vernichten ist die Aufgabe der Stunde.

Proletarier aller Länder! Denkt daran: Jetzt darf man sich durch keine Redensarten der verräterischen oder schwankenden Arbeiterführer irreführen, durch keine Versprechungen der Regierungen betören lassen. Jetzt heisst es handeln, jetzt heisst es, alle Kräfte sammeln, um das weissgardistische Polen zu blockieren, alle Kräfte sammeln, um die Solidarität des Weltproletariats mit Sowjetrussland zur Tatsache werden zu lassen.

Arbeiter und Arbeiterinnen! Eure Solidarität mit Sowjetrussland ist Eure Solidarität mit den polnischen Proletariern.

Das polnische Proletariat hat unter der Führung der Kommunistischen Partei ununterbrochen gegen den Krieg mit Sowjetrussland gekämpft. Die Gefängnisse Polens sind mit unseren polnischen Brüdern, mit den Kommunisten Polens gefüllt. Die Niederlagen der polnischen Weissgardisten haben in den Herzen der polnischen Arbeiter den grössten Enthusiasmus erweckt. Eine Welle von Streiks wogt durch Polen. Die polnischen Arbeiter suchen die Niederlagen ihrer Ausbeuter auszunützen, um dem geschwächten Klassenfeind den letzten Stoss zu geben, um sich mit den russischen Arbeitern zum gemeinsamen Kampf für die Befreiung zu vereinigen.

Die Blockade Polens ist eine direkte Hilfe für den Befreiungskampf der polnischen Arbeiter, es ist der Weg dazu, dass Polen frei wird von den Fesseln, mit denen es an den Wagen der siegreichen Kapitalisten Londons und Frankreichs geschmiedet ist, dass es sich zur unabhängigen Republik der polnischen Arbeiter und Bauern entwickelt.

Der II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale ruft Euch, den Proletariern und Proletarierinnen aller Länder zu: geht auf die Strasse und zeigt Euren Regierungen, dass Ihr nicht gewillt seid, irgendwelche Hilfeleistung an das weisse Polen, irgendwelche Einmischung gegen Sowjetrussland zuzulassen. Legt jede Arbeit nieder, legt allen Verkehr lahm, wenn Ihr merkt, dass die kapitalistische Clique Eurer Länder trotz Eurer Proteste eine neue Intervention gegen Sowjetrussland vorbereitet! Lasst keinen Zug, kein Schiff nach Polen durch! Zeigt, dass die proletarische Solidarität in der Tat und nicht nur in Worten existiert!

Es lebe Sowjetrussland! Es lebe die Rote Armee der russischen Arbeiter und Bauern! Nieder mit dem weissen Polen! Nieder mit der Intervention! Es lebe Sowjetpolen!

Das ist die Tat, zu der wir die Proletarier der Welt rufen und »Russia expects that every man will do his duty«.

(Darauf findet die Abstimmung über die vier Begrüssungen statt, die alle angenommen werden. Die erste Sitzung des Kongresses wird geschlossen.)



Anmerkungen:
[prev.] [content] [end]

  1. Die Nummerierung der Sitzungen erfolgt nach der russischen Ausgabe des »Protokolls«. In der deutschen Ausgabe ist die Nummerierung der Sitzungen inkonsistent und unlogisch (1–11, dann 14 & 15). Zum Vergleich:

    Deutsche Ausgabe [Seitenzahl] → Russische Ausgabe/sinistra.net
    Erste Sitzung (19. Juli 1920) [6–56]Erste Sitzung (19. Juli 1920)
    Zweite Sitzung (23. Juli 1920) [57–99]Zweite Sitzung (23. Juli 1920)
    Dritte Sitzung (24. Juli 1920) [100–136]Dritte Sitzung (24. Juli 1920)
    Vierte Sitzung (26 Juli 1920) [137–166]Vierte Sitzung (26 Juli 1920)
    Fünfte Sitzung (28. Juli 1920) [167–233]Fünfte Sitzung (28. Juli 1920)
    Sechste Sitzung (29. Juli 1920) [234–286]Sechste Sitzung (29. Juli 1920)
    ↳Abendsitzung (29. Juli 1920) [287–329]Siebte Sitzung (29. Juli 1920)
    Siebte Sitzung (30. Juli 1920) [330–401]Achte Sitzung (30. Juli 1920)
    Achte Sitzung (2. August 1920) [402–442]Neunte Sitzung (2. August 1920)
    ↳Abendsitzung (2. August 1920) [443–480]Zehnte Sitzung (2. August 1920)
    Neunte Sitzung (3. August 1920) [481–508]Elfte Sitzung (3. August 1920)
    ↳Abendsitzung (3. August 1920) [509–537]Zwölfte Sitzung (3. August 1920)
    Zehnte Sitzung (4. August 1920) [538–570]Dreizehnte Sitzung (4. August 1920)
    ↳Abendsitzung (4. August 1920) [571–606]Vierzehnte Sitzung (4. August 1920)
    Elfte Sitzung (5. August 1920) [607–639]Fünfzehnte Sitzung (5. August 1920)
    Vierzehnte Sitzung (6.August 1920) [640–667]Sechzehnte Sitzung (6.August 1920)
    Fünfzehnte Sitzung (7. August 1920) [668–702]Schlusssitzung (7. August 1920)[⤒]

  2. Die Rechtschreibung wurde stillschweigend verbessert und vereinzelt dem heutigen Gebrauch angepasst. Falschgeschriebene Namen wurden berichtigt, die russischen und bulgarischen Namen sind in deutscher Transkription oder in gebräuchlicher Form wiedergegeben, Namen aus Ländern mit lateinischem Alphabet entsprechend der jeweils heimischen Form. Redaktionelle Zusätze sind in [] kenntlich gemacht.[⤒]


Source: »Der zweite Kongress der Kommunistischen Internationale, Protokoll der Verhandlungen vom 19. Juli in Petrograd und vom 23. Juli bis 7. August in Moskau«, Verlag der Komm. Internationale, Hamburg 1921 / Второй конгресс. Коммунистического Интернационала, Июл–Август 1920 г., Стенографический отчет. Иад. Коммунистического Интернационала, Петроград 1921. Bearbeitung und Digitalisierung: sinistra.net 2021

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