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II. WELTKONGRESS DER KOMMUNISTISCHEN INTERNATIONALE



Content:[2]

Zehnte Sitzung des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale am 2. August 1920. (Abends)
Redebeitrag Herzog
Redebeitrag Murphy
Redebeitrag Souchy
Redebeitrag Lenin
Redebeitrag Bordiga
Redebeitrag Bucharin
Redebeitrag Murphy
Redebeitrag Schablin
Redebeitrag Goldenberg
Redebeitrag Polano
Redebeitrag Serrati
Redebeitrag Herzog
Redebeitrag Sinowjew
Leitsätze über die kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus
Redebeitrag Radek
Redebeitrag Sinowjew
Anmerkungen
Source


Zehnte Sitzung des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale am 2. August 1920. (Abends)

(Die Sitzung wird um 9 Uhr 30 Min. eröffnet. Die Debatten über den Parlamentarismus werden fortgesetzt.)

Herzog. Werte Genossen! Es wird hier versucht, den Beschluss durchzusetzen, dass die kommunistischen Parteien in allen jenen Ländern den revolutionären Parlamentarismus anwenden müssen, von denen Genosse Bucharin sagte, dass dort bis jetzt in den Parlamenten überhaupt noch keine revolutionäre Tätigkeit nach russischem Muster ausgeübt worden ist, trotzdem die wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern, wie z. B. in Frankreich, England und in der Schweiz schon längst für eine proletarische Revolution reif war.

Was ist die Ursache, dass in diesen Ländern das Proletariat in der revolutionären Taktik so zurück ist? Eben deshalb, weil in diesen Republiken und Demokratien die Möglichkeit der Lebensverbesserung des Proletariats vorhanden war. Es war dort möglich, mit Hilfe des Parlamentarismus viele gute Reformen für das Proletariat zu erreichen, und weil dies möglich war, ist es begreiflich, dass dort keine revolutionäre Aktivität aufkommen konnte. Das ist der Grund, weshalb in diesen Ländern die Arbeiterschaft sich so langsam zur Revolution durchringt und sich so schwer die revolutionäre Tatkraft, die bei den Russen vorhanden ist, aneignet. In Russland war es ganz anders. Das Proletariat konnte nicht legal arbeiten. Es konnte dort nicht Reformen durchdrücken und seine Lage verbessern. Es musste auf die Strasse gehen und revolutionäre Aktionen durchführen. Und darum konnte sich hier in Russland kein Parlamentarismus entwickeln, wie in den westeuropäischen Ländern. Nun kommen unsere russischen Genossen und sagen: »Es wird jetzt in Westeuropa anders werden, als es bisher war. Es war bisher nicht möglich, sich im Parlament revolutionär zu betätigen, aber jetzt sind wir in einer anderen Situation, und jetzt besteht eine solche Möglichkeit auch in Westeuropa und Amerika. Allen kommunistischen Parteien werden wir bestimmte Richtlinien geben. Den Fraktionen werden wir erklären, wie sie arbeiten müssen, und es wird dann auch dort revolutionär gearbeitet werden.« Aber ich glaube, das ist nicht möglich. Erstens schon darum nicht, weil diese Reglements schon die Möglichkeit offen lassen, dass die kommunistischen Parteien auch opportunistisch wirken können. Wir hatten in der Kommission eine lange Diskussion darüber, wie die kommunistischen Vertreter in den Gemeinden sich verhalten sollen, was die kommunistischen Gemeindevertreter, wenn sie in der Mehrheit sind, tun müssen. Da hat Genosse Bucharin gesagt: »Wenn sie die Mehrheit haben, dann müssen sie versuchen, die Lage der Arbeiter zu verbessern, um die Gegensätze zwischen der kommunistischen Gemeinde und dem Staat zuzuspitzen.« Das sagen uns ja gerade auch die Opportunisten, wenn sie in die Parlamente hineingehen.

Sie sagen, wir gehen hinein, um hier von diesem Boden aus die Konflikte zwischen dem Proletariat und dem Staat zuzuspitzen. Wir wollen für Verbesserungen eintreten, aber alles das hat bloss den Zweck, den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit zu verschärfen. Es ist hier gerade für die opportunistischen Elemente, die schon in der Kommunistischen Internationale sind, die Möglichkeit gegeben, auch als kommunistische Parteien opportunistisch zu wirken und den ganzen Parlamentarismus auf diese schiefe Ebene zu bringen. Noch eine zweite Möglichkeit gibt der Kurs, den die Kommunistische Internationale nun einschlägt, um alle »revolutionären« Parteien in die Kommunistische Internationale aufzunehmen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist auch die Mehrzahl der U.S.P. und der Französischen Sozialistischen Partei in der Kommunistischen Internationale. Selbstverständlich muss auch die Mehrzahl der kleinen sozialdemokratischen Parteien zu Moskau kommen. – Platten hat man bereits mit diesem Auftrag nach der Schweiz geschickt. Dadurch gelangen noch viel mehr opportunistische Elemente in die Kommunistische Internationale, die nicht von heute auf morgen revolutionäre Kommunisten sein werden. Sie werden genau dieselbe Politik auch in der Kommunistischen Internationale treiben, wie sie sie bisher in der II. Internationale betrieben haben.

Das ist die Gefahr, die wir sehen und die uns erkennen lässt, dass der Parlamentarismus in der Form, wie er hier aufgestellt wird, in den westlichen Ländern tatsächlich nicht zur Anwendung kommen kann. Wir haben da ein praktisches Beispiel. Man hat uns heute erklärt, die Kommunistische Partei Bulgariens sei ein Musterbeispiel für den revolutionären Parlamentarismus. Ihre parlamentarische Fraktion arbeitet grossartig. Ich habe kürzlich einen Artikel gelesen, in dem genau das Gegenteil stand. Ich hatte weiter Gelegenheit, mit einem bulgarischen Genossen zu sprechen, der als Parlamentarier von Moskau nach Bulgarien gegangen ist und der, als er sah, wie die bulgarische kommunistische Parlamentsfraktion wirkte, zum Anhänger des Antiparlamentarismus geworden ist und als solcher zurückkehrte. Das ist ein Beweis, dass man nicht in allen Ländern den Parlamentarismus entwickeln kann, wie er früher in Russland von den Kommunisten geführt wurde. – Auch die Sozialdemokraten in Deutschland, der alte Wilhelm Liebknecht und Bebel, haben erklärt: Wir gehen nur ins Parlament hinein, um diese Tribüne revolutionär auszunutzen. Diese revolutionäre Tätigkeit ist aber sehr bald in Opportunismus und Reformismus umgeschlagen, weil die Möglichkeit dazu da war, und jetzt ist die sozialdemokratische Partei eine offen sozialverräterische Partei.

Selbstverständlich könnt Ihr beschliessen, dass der Parlamentarismus von den Kommunistischen Parteien durchgeführt werden muss. Wir sind nicht so doktrinär antiparlamentarisch, dass wir sagen: wir fügen uns dem Beschluss der Kommunistischen Internationale nicht. Wir können das Experiment eine Zeitlang versuchen, aber wir sind überzeugt, dass es nicht gelingen wird und dass man nach ein oder zwei Jahren, auf dem nächsten Kongress, an der Hand der Praxis und der Erfahrungen, sagen wird: »Es wäre besser, wir hätten die Hände davon gelassen und hätten nur in den Fabriken, im Heer und bei den Bauern alle unsere Kräfte eingesetzt. Das wäre viel vorteilhafter für die Entwicklung der Revolution und für die Kommunistische Internationale gewesen«.

Murphy. In der Frage des Parlamentarismus stimme ich mit meinem Kollegen von den Shop Stewards, der heute nachmittag gesprochen hat, nicht überein. Ich glaube, dass alle die Angriffe, die heute gegen den Parlamentarismus erhoben worden sind, und alle Kritik, die heute gegen ihn gerichtet wurde, den reformistischen Parlamentarismus betrafen und nicht den revolutionären Parlamentarismus.

Es ist wahr, dass viele Vertreter der sozialistischen Bewegung, die ins Parlament eingetreten sind, Verräter geworden sind; aber das ist kein hinreichender Grund, um überhaupt jede Tätigkeit innerhalb der parlamentarischen Institution zu verdammen. Ich habe noch niemanden behaupten hören, dass die Taktik, die Genosse Liebknecht im deutschen Reichstag und die die bolschewistischen Vertreter in der russischen Duma verfolgt haben, etwas anderes als gute Ergebnisse für die revolutionäre Bewegung gezeitigt hat.

Es ist unsinnig, zu behaupten, dass wir nur deshalb ausserhalb einer Institution bleiben müssen, weil die Leute darin wie Bourgeois aussehen, oder dass man gezwungen ist, ausserhalb der Gewerkschaften und ähnlicher Organisationen zu bleiben, weil, obgleich ihre Mitglieder Angehörige der Arbeiterklasse sind, keiner leugnen kann, dass ihre Ideologie in der Hauptsache kleinbürgerlich ist.

Das Problem, das vor uns liegt, besteht nicht darin, uns vor der Welt rein zu halten, sondern darin, den revolutionären Kampf nicht nur in den Institutionen der Arbeiterklasse, sondern auch im Lager des Feindes zu führen. Viele Argumente wurden vorgebracht, die sich mit dem propagandistischen. und agitatorischen Wert des revolutionären Parlamentarismus beschäftigten. Argumente, die ich nicht wiederholen will. Meiner Ansicht nach gibt es andere sehr wichtige Aussichten, die zeigen, dass der revolutionäre Parlamentarismus grossen Wert haben kann und selbst dort grossen Wert hat, wo die industriellen Organisationen der Arbeiter hoch entwickelt sind.

Kein bedeutender Kampf der Arbeiter gegen die ausbeutende Klasse kann ausserhalb des Parlaments stattfinden, ohne einen mächtigen Widerhall innerhalb des Parlaments zu haben. Das hat sich besonders bestätigt in der Erfahrung der Shop-Steward-Bewegung. Hin und wieder, wenn die Arbeiter in einen grossen industriellen Kampf getrieben wurden, operierte die Staatsmaschine gegen sie, und unvermeidlich sahen sich selbst diejenigen, die sich als Antiparlamentarier erklärt hatten, [gezwungen] mit den Arbeitervertretern im Parlament zusammenarbeiten und wurden so zu einem Teil der Agitation innerhalb der parlamentarischen Institution. Hin und wieder besuchten die Angehörigen der industriellen Bewegung, einschliesslich der Antiparlamentarier, die Arbeitervertreter und andere Parlamentsmitglieder, um sich ihre Hilfe zu sichern in Form eines Protestes oder der Agitation innerhalb dieser Institution. Diese Taktik wird der kämpfenden Bewegung gerade durch die wechselnden Situationen aufgedrängt, in denen sich die Arbeiter von Zeit zu Zeit befinden. Es ist nicht immer möglich, eine Streikaktion zu unternehmen, und die Streikbewegungen lassen sich nicht alle durch die Begeisterung der Arbeiter aufrecht erhalten. Es gibt Momente, in denen es möglich ist, dem Gegner den Fehdehandschuh hinzuwerfen und Verhandlungen zurückzuweisen, nämlich dann, wenn ein Frontangriff sich als durchführbar erweist. Aber es gibt auch Zeiten, in denen die Begeisterung abnimmt und der Gegner sich stärker erweist als wir. Dann ist es nötig, alle nur möglichen Kräfte zu vereinigen, sich zurückzuziehen, Seitenangriffe zu machen, Protestkundgebungen hier und dort zu veranstalten, kurz, alles zu tun, um unsere Kräfte zusammenzuhalten. Besonders bei solchen Gelegenheiten erkennen wir den Wert der agitatorischen Kräfte innerhalb des Parlaments, und bei selchen Gelegenheiten ist unsere Bewegung gezwungen, sie auszunützen.

Es darf auch nicht vergessen werden, dass Krisen ihre Anfänge in anderen Zentren haben als in denen der industriellen Organisationen. Wiederholt haben wir gesehen, dass dem Parlament Anträge und Massnahmen vorgelegt wurden, die, wenn sie in Kraft traten, eine wesentliche Wirkung auf die Bewegung ausserhalb des Parlaments hatten. Wir sahen, dass solche Anträge und Massnahmen zu Gesetzen wurden, ohne dass vor ihrer Annahme die geringste Agitation im industriellen und sozialen Leben der Massen geführt worden wäre. wären Revolutionäre im Parlament gewesen, die in lebendigem Kontakt mit der organisierten Bewegung ausserhalb des Parlaments standen, so wäre die Vorlage dieser Massnahmen das Signal nicht nur zu einem Protest innerhalb, sondern auch für die Erhebung der Massen und die Mobilisierung ihrer Kräfte für den Kampf ausserhalb des Parlaments gewesen.

Diese Situationen und diese Erfahrungen zwingen zur Anerkennung der vielseitigen Natur unseres Kampfes. Auf der einen Seite auf die Waffe der parlamentarischen Vertretung durch die Kommunisten zu verzichten und sich andererseits in der schmählichen Lage zu befinden, an die liberalen und reformistischen Leute der Labour Party um Hilfe appellieren zu müssen, wäre der Gipfel der Narrheit. Wir müssen als Revolutionäre innerhalb des Parlaments kämpfen, als Revolutionäre, die wissen, wie man den wechselnden Notwendigkeiten des Kampfes begegnet, und die sich nicht fürchten, unter die Feinde zu gehen, wenn die Gelegenheit eine solche Massnahme erfordert.

Revolutionärer Parlamentarismus ist kein Ziel, sondern ein Mittel, und wo immer wir unsere Kommunistische Partei zu einem wirklichen revolutionären Kampforgan machen, ist der Parlamentarismus ein sehr wirksames Mittel, um zur Mobilisation der Massen für die Eroberung der Macht beizutragen. Aus diesen Gründen unterstütze ich die Leitsätze des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale über den Parlamentarismus.

Souchy. Genossen, zunächst gereicht es mir zu einer gewissen Befriedigung, zu konstatieren, dass hier auf dem Kongress, wo von Hause aus radikale Sozialdemokraten zusammengekommen sind, der Standpunkt des Antiparlamentarismus nicht nur von den Anarcho-Syndikalisten, sondern auch von den Kommunisten vertreten wird. Das ist eine Konzession an den Standpunkt der Anarchisten, wie er vor 40 Jahren eingenommen wurde. Wenn man heute den Genossen Bucharin seinen Standpunkt vertreten hörte, so bekam man das Gefühl, dass er etwas verteidigte, woran er eigentlich selbst nicht recht glaubt. Und ich glaube, ich bin nicht der einzige, der hier dieses Gefühl hatte. Genosse Bucharin verteidigte den Parlamentarismus als ein Mittel, das nicht zum Sozialismus führen kann. Alle sind sich darüber einig, dass der Parlamentarismus kein Mittel ist, das zum Kommunismus führen kann. Nichtsdestoweniger empfiehlt man dieses Mittel den revolutionären Arbeitern. Das ist ein merkwürdiger Standpunkt. Ein Mittel, von dem man zugibt, es könne nicht zum Ziele führen, zu empfehlen, ist sinnlos. Genau diese Sinnlosigkeit begeht das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, wenn es diesen Standpunkt empfiehlt.

Wir müssen uns darüber einig sein, dass gerade der Parlamentarismus am meisten dazu beigetragen hat, die Massen einzuschläfern, und dass gerade der Parlamentarismus sie verhinderte, zu wirklich revolutionären Mitteln zu greifen und die direkte Aktion anzuwenden. Dies ist ein altes Argument; aber dieser Standpunkt, den man hier als neuen Parlamentarismus zu vertreten sucht, ist ebenso alt und abgedroschen, und hier versucht man ihn als »neu« wieder einzuführen. Weiss man denn nicht, dass gerade jetzt in Deutschland, in Finnland, in Russland, der Parlamentarismus auf das eklatanteste Bankrott gemacht hat? Ist es nicht geradezu hanebüchen, diesen bankrotten Parlamentarismus den Arbeitern jetzt nochmals zu empfehlen? Natürlich, Herren wie die Unabhängigen, die Berufspolitikanten sind, werden versuchen, ihn den Arbeitern zu empfehlen; aber die Arbeiter und auch ein grosser Teil der Kommunisten wenden sich immer mehr und mehr davon ab. Die hier den Parlamentarismus verteidigen, das sind die Herren, die in der Kapp-Woche in Deutschland versuchten, den Generalstreik abzublasen. Man offeriert die Stellung der Kommunistischen Internationale zum Parlamentarismus als neuen revolutionären Parlamentarismus. Dieser neue Parlamentarismus entpuppt sich aber als der alte Fehler der Sozialdemokratie in ihren Kinderjahren; denn genau denselben Standpunkt nahm die Sozialdemokratie in ihren Anfängen ein. Es sind dieselben Fehler, in die man hier verfällt. Man sucht nach neuen Argumenten für den alten verbrauchten Parlamentarismus. Man ist Marxist, und das sagt viel. Man ist theoretisch voreingenommen und dogmatisch. Die Marxisten haben die Idee des Parlamentarismus schon von Kindesbeinen und mit der Muttermilch in sich eingesogen. Der Parlamentarismus ist diesen Dogmatikern in Fleisch und Blut übergegangen und ist organisch nicht nur mit ihrem Denken, sondern auch mit ihrem Fühlen und ihren Wünschen verwachsen. Nicht im Bewusstsein und im Reiche der Logik, sondern im Unterbewusstsein, im Reiche der Psyche, ist der Parlamentarismus bei diesen Dogmatikern verankert. Wenn also die Revolutionäre heute noch von der Anwendbarkeit des Parlamentarismus sprechen, dann haben wir es nicht mit einem logisch fundierten Kampfmittel zu tun, sondern mit einem psychologischen Phänomen. Man sucht mit der Logik das zu belegen, was man von vornherein als das beste ansieht. Hier müssen wir die Wurzel des »neuen revolutionären« Parlamentarismus suchen, nicht etwa in logischen Argumentationen; man ist einfach von vornherein dogmatisch. So ist der Parlamentarismus eine opportunistische Illusion, aber nicht ein Kampfmittel des revolutionären Arbeiters für den Kommunismus. Als solche Illusion müssen wir dies sogenannte Kampfmittel ansehen und nicht für einen »neuen revolutionären« Parlamentarismus, wie Genosse Murphy jetzt gesagt hat.

Man sagt, dass man zwar auf diesem Wege nicht zum Kommunismus kommen könne, man wolle aber das Parlament als Tribüne benutzen, um zu den Kreisen zu gelangen, die man sonst nicht erreichen kann. Ich sage Euch, dass sich dieser Standpunkt logisch sehr schwach begründen lässt. Wenn es kein anderes Mittel gäbe, dann müsste man allerdings zu diesem greifen. Aber das ist nicht wahr, es gibt andere Mittel, bemühen wir uns nur vorurteilslos darum, und wir werden sie finden. Seien wir uns doch dessen bewusst, dass wir gerade durch die Empfehlung des Parlamentarismus die revolutionären Elemente der Arbeitermassen vor den Kopf stossen, die den Parlamentarismus nicht anerkennen. Wenn man die Elemente abwägt, einerseits die, die man abstösst, und andererseits die, die man eventuell heranziehen kann, so glaube ich, dass sich die ersteren als die für die soziale Revolution bei weitem wichtigeren erweisen würden als die letzteren. Aus diesem Grunde steht dieser Standpunkt nur auf sehr schwachen Füssen. Wenn man sich, abgesehen davon, auf den Standpunkt des Parlamentarismus stellt, um Agitation zu betreiben, so kann man solche auch betreiben, ohne deshalb Parlamentarier zu sein. So hat z. B. ein Antimilitarist in Wien vom Zuschauerraum des Parlaments antimilitaristische Flugblätter hinuntergeworfen. Hier habt Ihr das Beispiel, wie Ihr das Parlament als Agitationstribüne benutzen könnt, ohne den Wahlschwindel mitzumachen, ohne so viel Kraft, Energie und Geld für die Wahlen hinauszuwerfen. Diese Aktion ist viel wichtiger für die Arbeiter. Schreibt darüber in Euren Zeitungen und Ihr habt das, was Ihr wollt: Agitation vom Parlament aus.

Lenin. Genosse Bordiga wollte angeblich hier den Gesichtspunkt der italienischen Marxisten verteidigen; aber er hat nichtsdestoweniger auf keines der Argumente geantwortet, die hier von anderen Marxisten für eine parlamentarische Aktion vorgebracht wurden.

Genosse Bordiga hat zugegeben, dass die historischen Erfahrungen nicht künstlich entstehen. Er sagte uns eben, dass man den Kampf auf ein anderes Gebiet übertragen müsse. Weiss er denn nicht, dass jede revolutionäre Krise von einer parlamentarischen Krise begleitet war? Er hat zwar davon gesprochen, dass man den Kampf auf ein anderes Gebiet übertragen soll, so auf die Sowjets. Aber Genosse Bordiga hat selbst zugegeben, dass man die Sowjets nicht künstlich errichten kann. Das Beispiel Russlands beweist, dass die Sowjets erst entweder während der Revolution oder unmittelbar vor der Revolution errichtet werden können. Noch zu Kerenskis Zeiten waren die Sowjets so (nämlich menschewistisch) zusammengesetzt, dass sie sich gar nicht zu einer proletarischen Macht gestalten konnten. Das Parlament ist ein Produkt der historischen Entwicklung, das man nicht aus der Welt schaffen kann, bevor man nicht stark genug ist, das bürgerliche Parlament auseinanderzujagen. Nur wenn man Mitglied des Parlaments ist, kann man von dem gegebenen historischen Standpunkt aus die bürgerliche Gesellschaft und den Parlamentarismus bekämpfen. Dasselbe Mittel, das von der Bourgeoisie im Kampfe angewandt wird, muss auch vom Proletariat angewandt werden, natürlich mit ganz anderen Zielen. Sie können doch nicht bestreiten, dass dem so ist, und wenn Sie es bestreiten wollen, so müssen Sie damit die Erfahrungen der gesamten revolutionären Ereignisse der Welt streichen. Sie haben gesagt, dass auch die Gewerkschaften opportunistisch sind, dass auch sie eine Gefahr darstellen; andererseits haben Sie jedoch gesagt, dass man für die Gewerkschaften eine Ausnahme machen soll, weil sie eine Arbeiterorganisation darstellen. Das gilt aber nur in einem gewissen Grade. Auch in den Gewerkschaften gibt es sehr rückständige Elemente. Ein Teil des proletarischen Kleinbürgertums, die rückständigen Arbeiter und Kleinbauern, alle diese Elemente denken wirklich, dass ihre Interessen im Parlament vertreten werden, und dagegen muss man durch die Arbeit im Parlament ankämpfen und durch Tatsachen den Massen die Wahrheit beibringen. Die rückständigen Massen lassen sich nicht durch Theorien belehren, sie brauchen Erfahrungen.

Das hat man auch in Russland gesehen. Auch noch nach dem Siege des Proletariats war man gezwungen, die Konstituante einzuberufen, um dem rückständigen Proletariat zu beweisen, dass es damit nichts erringen kann. Man musste dem Parlament konkret die Sowjets gegenüberstellen zum Vergleich der einen und der anderen Erfahrung, und man musste ihm die Sowjets als einzige Waffe darstellen.

Genosse Souchy, der revolutionäre Syndikalist, hat dieselben Theorien vertreten; aber die Logik ist nicht auf seiner Seite. Er sagte, er sei nicht Marxist; dann ist das selbstverständlich. Aber wenn Sie, Genosse Bordiga, sagen, dass Sie Marxist sind, dann müsste man von Ihnen mehr Logik verlangen. Man muss wissen, auf welche Weise das Parlament zerbrochen werden kann. Wenn Sie es durch einen bewaffneten Aufstand in allen Ländern machen können, so ist es sehr gut. Sie wissen, dass wir in Russland nicht nur in der Theorie, sondern in der Praxis unseren Willen gezeigt haben, das bürgerliche Parlament zu zerstören. Aber Sie haben die Tatsache aus dem Auge gelassen, dass dies ohne eine ziemlich langwierige Vorbereitung unmöglich ist, und dass es für die meisten Länder noch nicht möglich ist, das Parlament mit einem Schlage zu zerstören. Wir sind gezwungen, den parlamentarischen Kampf zur Zerbrechung des Parlaments anzuwenden. Die Bedingungen, welche die politische Linie bestimmen, die von allen Klassen der modernen Gesellschaft verfolgt wird, ersetzen Sie durch Ihren revolutionären Willen, und darum vergessen Sie, dass wir, um das bürgerliche Parlament in Russland zu zerstören, erst die Nationalversammlung einberufen mussten, und das sogar n a c h unserem Siege. Sie haben gesagt: Es ist wahr, dass die russische Revolution ein Beispiel ist, das den Bedingungen des westlichen Europas nicht angepasst werden kann. Aber Sie haben uns kein stichhaltiges Argument vorgebracht, um uns das zu beweisen. Wir sind durch die Periode der bürgerlichen Demokratie hindurchgegangen. Wir sind schnell hindurchgegangen in einer Zeit, wo wir gezwungen waren, Wahlen für die Nationalversammlung auszuschreiben. Und selbst später, als die proletarische Klasse die Macht ergreifen konnte, war es die Bauernklasse, die noch glaubte, dass das bürgerliche Parlament notwendig sei.

Mit Rücksicht auf diese rückständigen Elemente mussten wir Wahlen ausschreiben lassen und den Massen durch das Beispiel, durch die Tatsachen zeigen, dass diese Nationalversammlung, die während der grössten allgemeinen Not gewählt worden war, nicht dem Sehnen und den Ansprüchen der ausgebeuteten Klasse Ausdruck gab. Damit wurde der Konflikt zwischen der Sowjetmacht und der bürgerlichen Macht vollkommen klar, und das nicht nur für uns, für die Avantgarde der Arbeiterklasse, sondern auch für die gewaltige Mehrheit der Bauernklasse, für die kleinen Angestellten, die Kleinbürger usw. In allen kapitalistischen Ländern gibt es rückständige Elemente der Arbeiterklasse, die überzeugt sind, dass das Parlament die wahre Vertretung des Volkes ist, und die nicht sehen, dass hier unlautere Mittel angewandt werden. Es ist, sagt man, das Instrument, mit dem die Bourgeoisie die Massen täuscht. Aber dieses Argument muss sich gegen Sie richten und richtet sich gegen Ihre Thesen. Wie werden Sie den wahrhaft rückständigen und von der Bourgeoisie getäuschten Massen den wahren Charakter des Parlaments offenbaren, wenn Sie nicht hineingehen? Wie werden Sie dieses oder jenes parlamentarische Manöver, die Haltung dieser oder jener Partei blossstellen, wenn Sie nicht im Parlament sind? Wenn Sie Marxisten sind, so müssen Sie erkennen, dass die Beziehungen der Klassen in einer kapitalistischen Gesellschaft und die Beziehungen der Parteien eng verbunden sind. Wie, ich wiederhole es, werden Sie das alles zeigen, wenn Sie nicht Mitglied des Parlaments sind, wenn Sie die parlamentarische Aktion ablehnen? Die Geschichte der russischen Revolution hat klar bewiesen, dass die grossen Massen der Arbeiterklasse, der Bauernklasse, der kleinen Angestellten, wenn sie nicht eigene Erfahrungen gemacht hätten, durch kein Argument überzeugt worden wären.

Es ist hier gesagt worden, dass man viel Zeit vergeudet, wenn man an parlamentarischen Kämpfen teilnimmt. Kann man sich irgendeine Gelegenheit denken, an der sich alle Klassen in solchem Umfange beteiligen wie am Parlament? Das lässt sich nicht künstlich schaffen. Wenn alle Klassen veranlasst werden, sich am parlamentarischen Kampfe zu beteiligen, so deshalb, weil die Klasseninteressen und Konflikte im Parlament ihren Widerschein haben. Wenn es möglich wäre, überall vielleicht zunächst entscheidende Generalstreiks zu veranstalten, um mit einem Male aufräumen zu können, dann würde die Revolution schon in verschiedenen Ländern stattgefunden haben. Man muss aber mit den Tatsachen rechnen, und das Parlament stellt die Arena des Klassenkampfes dar. Genosse Bordiga und diejenigen, die auf seinem Standpunkt stehen, sollten den Massen die Wahrheit sagen. Deutschland ist das beste Beispiel dafür, dass im Parlament eine kommunistische Fraktion möglich ist, und daher sollten Sie den Massen offen sagen: »Wir sind zu schwach, um eine Partei mit einer straffen Organisation zu schaffen.« Das würde die Wahrheit sein, die man aussprechen sollte. Würden Sie aber den Massen diese Schwäche eingestehen, dann würden sie nicht zu Ihren Anhängern, sondern zu Ihren Gegnern, zu Anhängern des Parlamentarismus werden.

Wenn Sie sagten: »Genossen, Arbeiter, wir sind so schwach, dass wir keine so disziplinierte Partei schaffen können, die die Abgeordneten zwingt, ihr zu gehorchen«, dann würden die Arbeiter Sie verlassen, denn sie würden sich sagen: »Wie werden wir die Diktatur des Proletariats mit so schwachen Leuten aufrichten?«

Wenn Sie glauben, dass am Tage des Sieges des Proletariats die Intellektuellen, die Mittelklasse, die Kleinbürger Kommunisten werden, so sind Sie sehr naiv.

Wenn Sie diese Illusion nicht haben, so müssen Sie von heute an die Arbeiterklasse vorbereiten, sich durchzusetzen. Auf allen Gebieten der Staatsarbeit gibt es keine einzige Ausnahme von dieser Regel. Überall finden wir am Tage nach der Revolution opportunistische Advokaten, die sich Kommunisten nennen, Kleinbürger, die weder die Disziplin der kommunistischen Partei, noch die des proletarischen Staates anerkennen. Wenn Sie die Arbeiter nicht vorbereiten, eine wirklich disziplinierte Partei zu gründen, die alle ihre Mitglieder zwingen wird, sich ihrer Disziplin zu unterwerfen, so werden Sie niemals die Diktatur des Proletariats vorbereiten. Darum, glaube ich, geben Sie nicht zu, dass es die Schwäche sehr vieler neuer kommunistischer Parteien ist, die Sie zwingt, die parlamentarische Aktion zu verleugnen. Ich bin überzeugt, dass die grosse Mehrheit der wirklich revolutionären Arbeiter uns folgen und sich gegen Ihre antiparlamentarischen Thesen aussprechen wird.

Bordiga. Die Einwendungen des Genossen Lenin gegen die Leitsätze, die ich vorgelegt habe, und gegen meine Beweisgründe haben sehr interessante Fragen aufgeworfen, die ich hier selbst nicht berühren will und die das Gesamtproblem der marxistischen Taktik widerspiegeln.

Ohne allen Zweifel stehen die parlamentarischen Ereignisse und die Ministerkrise in enger Beziehung mit der Entwicklung der Revolution und der Krise der bürgerlichen Organisation. Damit aber die proletarische politische Aktion auf die Ereignisse Einfluss gewinnen kann, muss man die methodischen Erwägungen in Betracht ziehen, die die marxistische Linke der internationalen sozialistischen Bewegung schon vor dem Kriege veranlassten, die Beteiligung an Ministerien und die parlamentarische Unterstützung bürgerlicher Ministerien abzulehnen, obwohl dies zweifellos Mittel waren, um auf die Entwicklung der Ereignisse Einfluss zu bekommen.

Die Notwendigkeit, die revolutionären Kräfte der Arbeiterklasse zu einer Organisation für den Endkampf des Kommunismus zu vereinigen, ist es, welche zu einer Taktik führt, die auf gewissen allgemeinen Aktionsregeln ruht, selbst wenn diese als zu einfach und zu wenig biegsam angesehen werden.

Ich glaube, dass die gegenwärtige historische Mission uns zu einer neuen, durch die Verhältnisse gegebenen Taktik führt, d. h. Zur Ablehnung der Teilnahme an den Parlamenten: das ist ja nur ein Mittel, um auf die Ereignisse im revolutionären Sinne einzuwirken.

Das Argument, dass das praktische Problem einer kommunistischen, der Parteidisziplin unterworfenen parlamentarischen Aktion gelöst werden muss, da man auch in der nachrevolutionären Periode Menschen des bürgerlichen und halbbürgerlichen Milieus wird organisieren und einordnen müssen, dieses Argument könnte ebenso gut angeführt werden, um die Zweckmässigkeit sozialistischer Minister unter der bürgerlichen Herrschaft zu rechtfertigen.

Aber es ist nicht der Augenblick, um tiefer in dieses Problem einzudringen, und ich beschränke mich darauf, zu erklären, dass ich meine Ansichten über das Argument, das uns beschäftigt, mir aufspare. Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass es der Kommunistischen Internationale nicht gelingen wird, eine parlamentarische und zugleich wahrhaft revolutionäre Aktion zustande zu bringen.

Schliesslich, da anerkanntermassen die Thesen, die ich vorgeschlagen habe, sich auf rein marxistische Prinzipien stützen und nichts mit den anarchistischen und syndikalistischen Argumenten gegen den Parlamentarismus zu tun haben, so hoffe ich, dass von den antiparlamentarisch gesinnten Genossen, welche sie als Ganzes und in ihrem Geist annehmen, dafür gestimmt wird, da sie die marxistischen Behauptungen, welche den Inhalt der Thesen darstellen, teilen.

Bucharin. Zuerst, Genossen, eine kleine Vorbemerkung. In meiner ersten Rede hielt ich es nicht für nötig, verschiedenes, was schon in den Thesen auseinandergelegt ist, zu wiederholen. Indessen haben die Genossen, die gegen mich opponiert haben, viele Dinge in ihren Ausführungen gebracht, über die man überhaupt nicht zu diskutieren braucht. In seiner ersten Rede sprach Genosse Bordiga über den Unterschied zwischen bürgerlicher Demokratie und Sowjetmacht, über verschiedene Charakteristika der bürgerlichen Demokratie; alles unbestreitbare Dinge, mit denen wir absolut einverstanden sind und gegen die wir als erste gesprochen haben. Also neun Zehntel von der ersten Rede des Genossen Bordiga, wie auch von einigen anderen, waren Dinge, die nicht zu diskutieren sind, weil wir alle damit einverstanden sind. Auch in meinem Schlussworte werde ich diese Dinge nicht wiederholen. Natürlich, wenn Genosse Gallacher kommt und sagt: wir sind für die direkte Aktion, so ist das keineswegs eine sekundäre, sondern eine allerwichtigste Sache. Aber ich spreche nicht darüber, weil wir alle damit einverstanden sind und uns darüber nicht lange aufzuhalten brauchen. Genosse Lenin hat über die Schwächen der Kommunisten gesprochen und hat treffend bemerkt, dass diejenigen kommunistischen Parteien, die am schwächsten sind, prinzipiell antiparlamentarisch sind. Er hat diese Schlussfolgerung sozusagen deduziert. Ich habe das einigen empirisch bewiesen. Ich habe mit einem Antiparlamentarier, mit dem Genossen Herzog, gesprochen und er hat mir gesagt: »Natürlich, wenn wir eine so starke Partei gehabt hätten wie Sie, dann wäre es eine andere Sache.« Genossin Marie Nielsen, gleichfalls Antiparlamentarierin, sagte mir: »Wenn die Exekutive und die Kommunistische Internationale uns die Leute für die parlamentarische Betätigung geben, so wäre das eine andere Sache.« Das sind zwei Beweise, und diese zwei Antiparlamentarier – also vierzig Prozent aller hier anwesenden Antiparlamentarier – unterstützen das Argument des Genossen Lenin, dass sie aus Schwäche antiparlamentarisch gesinnt sind. Das ist vielleicht der beste Beweis der inneren Unhaltbarkeit der angeblichen grundsätzlichen antiparlamentarischen Position. Das können wir auch in grösserem Masstabe beweisen.

Russland, das die stärkste kommunistische Partei hat, ist für Ausnutzung des Parlaments, Deutschland ebenfalls, Italien im grossen Masstabe auch. Aber die Schweiz und Dänemark, wo nur ganz kleine Grüppchen existieren, sind antiparlamentarisch.

Jetzt einige Argumente, die gegen uns waren. Wir behaupten, dass die Möglichkeit des revolutionären Parlamentarismus empirisch bewiesen ist, und führen das Beispiel Liebknechts und anderer an. Was erwidert man uns? Genosse Bordiga sagt:

»Wir haben einen Liebknecht gehabt, aber auch die gelbe Sozialdemokratie, und die gesamte Bilanz dieser parlamentarischen Tätigkeit ist sehr schlecht.« Die niederträchtige Tätigkeit der sozialdemokratischen Partei wiegt auf der Waagschale der Beurteilung des Parlamentarismus mehr als die Tätigkeit von Liebknecht. Doch ist es jedermann klar, dass das ganze Argument absolut falsch ist. Wir sprechen über den kommunistischen Parlamentarismus. Man darf nicht prinzipiell verschiedene Sachen in Betracht ziehen; das ist ein Hokuspokus, mit dem man uns beschwindeln will. Nun sagte allerdings Genosse Gallacher: »Liebknechts Arbeit war eben nur insofern nötig, als er mit und bei den Massen auf der Strasse war.« Wir sind doch gerade die Vertreter dieser Meinung, dass die parlamentarische Arbeit mit der Arbeit auf der Strasse verbunden sein muss! Und sicherlich weiss auch Genosse Gallacher, dass Liebknecht von der Parlamentstribüne herab zum Aufstande rief. Niemand wird wagen, zu behaupten, dass das schädlich war. Die Genossen, die vor dieser Realität stehen, flüchten vor dieser Argumentation.

Der dritte Opponent, der syndikalistische Genosse Souchy, sagte: »In der Zeit, wo der Parlamentarismus in Russland und Finnland einen solchen Bankrott gezeitigt hat, predigen Sie den Parlamentarismus.« Doch einerseits hat in Russland der Parlamentarismus den völligen Krach erlitten, andererseits haben wir diesen Krach teilweise auch dadurch beschleunigt, dass wir im Parlament kämpften. Das ist eine Tatsache. Übrigens ist gegenwärtig diese ganze Problemstellung für Russland falsch. Jetzt kann doch in Russland vom Parlamentarismus keine Rede mehr sein. Sie müssten eben beweisen, dass unsere frühere Taktik falsch war, als wir den Parlamentarismus praktizierten, dafür haben Sie aber kein Argument anzuführen vermocht. Weil wir die richtige Taktik verfolgt haben, haben wir den Sieg errungen. Genosse Bordiga hat versucht, verschiedene sehr künstliche Argumente zu erfinden. Er sagt z. B. »Wir können wohl verschiedene Mittel in Anwendung bringen; aber der Parlamentarismus ist kein Mittel, sondern eine Institution«, und meint damit ein so gewichtiges Argument gefunden zu haben, dass unsere Argumente hinfällig werden. Aber sagen Sie, Genosse Bordiga, wie und wann kann ein prinzipieller Unterschied zwischen Mittel und Institution bestehen? Nehmen wir ein Beispiel: die imperialistische Regierung mobilisiert für den Krieg. Für uns entsteht nun die Frage, ob wir die Armee boykottieren oder, umgekehrt, in die Armee eintreten sollen. Wir waren von Anfang des Krieges an für Eintritt in die Armee. Wir haben schon bei Anfang des Krieges gesagt: »Das Volk kann den Sieg am leichtesten dann erringen, wenn es bewaffnet ist.« Daher muss es die Gelegenheit ausnützen, um das Gewehr in die Hände zu bekommen. Ist eine Armee eine Institution? Natürlich, sie ist eine bürgerliche Einrichtung in den Händen des Finanzkapitals. Wird nun jemand sagen, dass wir diese Armee nicht als Mittel ausgenützt haben? Natürlich als ein Mittel. Aus diesem Beispiel kann Genosse Bordiga leicht ersehen, dass es keinen Gegensatz zwischen Mittel und Institution gibt. Ich habe dieses Beispiel angeführt, um zu zeigen, dass sogar dieses wichtigste Instrument der Unterdrückung durch das Kapital in unseren Händen zur Waffe gegen das Kapital werden kann. Das haben wir empirisch bewiesen. Ich betone immer und immer wieder, dass es sich hier nicht um Personen und Denkformeln handelt und nicht um Phrasen, sondern um reale Tatsachen. Genosse Bordiga schwankt überhaupt zwischen zwei Standpunkten. Einmal vertritt er einen Standpunkt, von dem ich gesagt habe, dass er von dem Standpunkt der Anarchisten und Syndikalisten verschieden ist. Und dann seine These, die besagt, dass, falls wir im Parlament sitzen, wir Seite an Seite mit der Bourgeoisie arbeiten. Das ist eine anarchistische Argumentation. Wenn er weiter sagt, dass man das Parlament wegen der heutigen spezifischen Verhältnisse nicht ausnützen darf, so ist das wieder eine andere Art von Argumentation. Aber bei ihm sind die Arten der Beweisführung ineinander verwachsen und verwickelt. Und diese Knoten zu entwirren ist natürlich ziemlich schwer.

Nun ein Argument von Gallacher. Er sagt: »Wir haben schon wiederholt die Erfahrung gemacht, dass ein Mensch, wenn er in das Parlament eintrat, dort zu einem Verräter wurde.« Der andere Genosse – ich glaube es war Herzog – hat in seiner Rede behauptet, dass im Parlament überhaupt eine grosse Möglichkeit für Korruption gegeben ist. Natürlich, wir rechnen damit, dass solche Möglichkeiten existieren; aber ich frage den Genossen Gallacher, ob es ihm nicht bekannt ist, dass solche Möglichkeiten auch innerhalb der Trade Unions existieren? Es gibt ein klassisches Beispiel für die Korruption eines Sekretärs der Trade Union. Oder haben wir nicht Fälle erlebt, dass ein Redakteur einer früheren revolutionären Zeitung zu einem Schurken wurde? Wir wissen sehr viele solcher Fälle auch aus unserer Praxis. Wir haben z. B. die illegale Partei gehabt, und nach der ersten, der Februarrevolution geschah es manchmal, dass in unseren Parteiorganisationen die Hälfte der Leute reine Spitzel waren. Alle Opportunisten haben uns gegenüber gesagt: »Seht Ihr, wozu die illegale Partei führt? Die Illegalität ist immer mit dem Spitzeltum verbunden. Wir müssen gegen die illegale Arbeit sein, denn eine illegale Partei ist ein Nest für die verschiedensten Parteispitzel.« In jedem Lande treten die Opportunisten mit dieser Begründung auf. Jeder Opportunist sagt immer mit grossem Stolz über einen Linksstehenden: »Das ist ein Anarchist, ein agent provocateur.« Das soll ein Argument gegen die illegale Arbeit sein. Analog ist die Sache mit dem Parlamentarismus gewesen: Daraus, dass in Italien, in Frankreich die parlamentarischen Fraktionen sehr opportunistisch sind und keineswegs kommunistische Politik treiben, ziehen einige den Schluss, dass sich die Sache überhaupt so verhält, als ob notwendigerweise der ganze Parlamentarismus - auch der revolutionäre – mit dem Verrat an der Arbeiterklasse verbunden wäre. Aber das kann man keineswegs behaupten, denn die Tatsachen beweisen etwas anderes.

Zwei Anschauungen sind möglich: Entweder wir schätzen die jetzige Epoche als wirklich revolutionäre Epoche ein oder wir tun es nicht.

Die Genossen, die prinzipiell antiparlamentarisch gestimmt sind, halten die heutige Epoche für höchst revolutionär. Und wenn sie von dieser Voraussetzung ausgehen, dann müssen sie auch sagen, dass gerade der revolutionäre Charakter der Epoche die beste Garantie gegen Korruption, gegen den Opportunismus der parlamentarischen Fraktionen bietet und die beste Grundlage für die Bildung wirklich kommunistischer zentralisierter Parteien. Diese zwei Voraussetzungen sind am wichtigsten, und keine andere kann uns mehr Garantie geben. Die rasche revolutionäre Entwicklung der Arbeiterklasse einerseits und die Kontrolle der sich bildenden zentralisierten kommunistischen Partei andererseits ist die beste Garantie gegen den Opportunismus innerhalb der Parlamentsfraktion. Das ist von meinem Standpunkt aus ein Argument auch dem Genossen Herzog gegenüber. Er sagt, Bebel war ein Opportunist; warum er aber auch über Wilhelm Liebknecht das gesagt hat, das begreife ich nicht. Ich kann es Ihnen bestätigen: Bebel war ein grosser Opportunist, für mich unterliegt das keinem Zweifel, so wenig es für mich einem Zweifel unterliegt, dass Jaurès ein Sozialpatriot mit allen Traditionen der französischen Revolution geworden wäre. Aber Bebel ist eine Personifizierung der früheren Epoche. Wie kann man ihn also als Beispiel für die heutigen Zustände anführen? Das Beispiel ist ziemlich unglücklich gewählt.

Noch eine kleine Bemerkung über die Rede des deutschen Syndikalisten. Er sagte über mich, ich sei im Inneren meiner Seele gegen den Parlamentarismus, wäre aber gezwungen, diese schlechte Sache zu verteidigen. Und er sagte, er habe dieses Gefühl während meiner ganzen Rede nicht loswerden können. Auch ich habe einige Gefühle gehabt, als er geredet hat, nämlich das Gefühl, als ob er jemand beweinte. Und ich meine, dass er überhaupt kein sachliches Argument angeführt hat. Ich wenigstens habe in seiner Rede keines entdeckt. Was der Genosse Bordiga in seiner letzten Rede gesagt hat, war ein Testimonium gegen seinen Standpunkt. Wir sehen darin noch einen Beweis für die Richtigkeit unserer Taktik, und wir rufen allen Genossen zu, in die Parlamente zu gehen mit dem Ruf: »Nieder mit dem Parlamentarismus!«

Murphy. Die anderen anwesenden Vertreter der Shop Stewards versichern mir, dass sie bei keiner Gelegenheit irgendwelche Arbeit im Parlament, ebensowenig im House of Commons gesucht haben.

Da ich niemanden verleumden möchte, bitte ich, diese Feststellung vorzulesen und jede von mir gemachte persönliche Bemerkung aus meiner Rede zu streichen. Ich nehme ihre Feststellung an.

Dies ändert jedoch den Fortgang unserer sachlichen Diskussion nicht.

Schablin. Genossen! Genosse Herzog hat in seiner Rede die Dreistigkeit gehabt, die Wahrheit der Tatsachen zu leugnen, die ich Ihnen über die parlamentarische Tätigkeit der Kommunistischen Partei Bulgariens dargelegt habe. Wir sind erstaunt über die Dreistigkeit dieses Genossen, der, ohne sich bei unserer Delegation zu informieren, sich erlaubt, unsere Partei zu verleumden und zu beleidigen auf Grund von Informationen, die ein aus unlauteren und interessierten Quellen geschöpft hat. Im Namen der bulgarischen Delegation protestiere ich gegen diese Haltung und diese Handlungsweise des Genossen Herzog, die keineswegs eine Haltung ist, wie sie sich für einen Parteigenossen geziemt.

Die revolutionäre Tätigkeit der Bulgarischen Kommunistischen Partei ist öffentlich und alle kennen sie. Um die Einzelheiten dieser Tätigkeit darzulegen, die die Genossen des Kongresses interessieren könnten, habe ich Dutzende von bemerkenswerten Tatsachen, die Namen unserer verurteilten Abgeordneten und Daten angeführt. Eine Verleumdung wie die, welche Herzog ausgesprochen hat kann unsere Partei nicht berühren.

Goldenberg. Ich schlage folgenden Zusatz zu den Leitsätzen des Genossen Bucharin vor:

»In der Zeit einer revolutionären Krise, die für den bewaffneten Aufstand zur Eroberung der Macht geeignet ist, ist der Boykott der Wahlen eine zwingende Notwendigkeit. In einem solchen Augenblick, in dem der Kampf zwischen dem Parlament, dem Organ der Diktatur der Bourgeoisie, und dem Sowjetregime, der Form der Diktatur des Proletariats, entfesselt ist, verwirrt man die Köpfe der Arbeiter und verrät die Sache des Proletariats, wenn man es auffordert, sich an den Wahlen zum Parlament zu beteiligen. Eine solche Aktion kann nur die Position der Bourgeoisie festigen, denn sie gibt ihr Zeit, ihre Kräfte neu zu sammeln zum Schaden des Proletariats, dessen revolutionäre Aktion dadurch gelähmt wird. Man darf nicht vergessen, dass die parlamentarische Aktion der ausserparlamentarischen Aktion untergeordnet ist und dass der Kampf um die Macht, der ausserhalb des Parlaments geführt wird, den Schwerpunkt im Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie bildet. Das erklärt die geringe Bedeutung der Frage des Parlamentarismus im Vergleich mit der Frage der Diktatur des Proletariats und der des Kampfes der Massen um die Eroberung der Macht.«

Polano. Indem ich persönlich mit den vom Exekutivkomitee vorgelegten Leitsätzen über den Parlamentarismus einverstanden bin, gebe ich meine Stimme für dieselben ab, erkläre jedoch, dass diese meine Abstimmung nicht der Stellung entspricht, die in dieser Frage von der Italienischen Sozialistischen Föderation der Jugend eingenommen wird, deren Vertreter ich auf diesem Kongress bin.

Die Italienische Sozialistische Föderation der Jugend hat, um einer Spaltung zwischen den Anhängern der Teilnahme an den Wahlen und deren Gegnern vorzubeugen, auf ihrem letzten Kongress beschlossen, die Frage der Wahlen nicht zu berühren und ihren einzelnen Mitgliedern volle Freiheit zu gewähren, sich – ohne aus dem Bestande der Italienischen Sozialistischen Partei auszutreten – derjenigen kommunistischen Fraktion (Anhänger oder Gegner der Wahlen) anzuschliessen, die ihrer individuellen Überzeugung am meisten entspricht.

Ich erkläre, dass ich, nach Italien zurückgekehrt, alle meine Kräfte dafür einsetzen werde, um die Italienische Sozialistische Föderation der Jugend aus der zweideutigen Stellung herauszuführen und auf die Plattform jener Richtlinien zu stellen, für die ich jetzt stimme.

Ich erkläre ferner, dass meine Abstimmung auch die Bedeutung eines Protestes gegen die mit einer kommunistischen Tätigkeit wenig vereinbare Haltung einer Gruppe italienischer sozialistischer Parlamentarier hat, und hoffe, dass der Vorstand der italienischen Partei diese Tätigkeit einer strengen Disziplin unterwirft und sie auf den Boden des Kommunismus stellt.

Serrati. Erlauben Sie mir vor allem, dem Genossen Bucharin zu danken, der mich zum Führer einer politischen Gruppe gemacht hat. Ich bin nur der Chefredakteur des »Avanti« und Mitglied der Parteileitung.

(Bordiga lacht und bittet, einige Worte sagen zu dürfen.)

Du hast nicht das Recht, zu lachen. Ich habe niemals vorgegeben, der Führer einer Gruppe zu sein. Es gibt keine Richtung Serrati. Es gibt nur einen Kämpfer, der immer seine Kommunistenpflicht erfüllt.

Ich erkläre, dass ich für die Thesen stimmen werde, die von der Mehrheit der Kommission vorgeschlagen sind, denn sie stimmen mit dem überein, was auf dem Kongress von Bologna (1919) beschlossen worden ist und was man in Italien in unserer Partei dank den Bemühungen der Leitung in Begriff ist zu tun, wobei natürlich den gegebenen Bedingungen Rechnung getragen werden muss. Ich bin im besonderen der Meinung, dass es unbedingt notwendig ist, die Kräfte der Partei zu vereinigen, jede Autonomie der parlamentarischen Fraktionen zu unterbinden und sie unter die strengste Kontrolle der Parteileitung zu stellen.

Ich erkläre gleichzeitig, dass die Einteilung der italienischen sozialistischen parlamentarischen Fraktion, die der Genosse Bucharin hier gemacht hat, etwas willkürlich ist und nur entfernt mit den wahren Zuständen in dieser Fraktion übereinstimmt.

Es ist wahr, dass im Innern der italienischen Parlamentsfraktion antikommunistische Kundgebungen laut geworden ist. Aber es gibt auch andere und viel zahlreichere, die einen vollkommen revolutionären Charakter haben. Z. B. hat unsere parlamentarische Fraktion in der ersten Sitzung des italienischen Parlaments die Prinzipien des Genossen Bucharin über die kommunistische parlamentarische Aktion angewendet. Unsere Abgeordneten haben vor dem König die rote Fahne entfaltet und haben den Saal unter dem Gesang der Internationale verlassen.

(Bordiga: Das ist noch nicht die Revolution.)

Es ist die Sabotierung des bürgerlichen parlamentarischen Regimes. Wir tun das unaufhörlich und systematisch.

In der italienischen Kammer hat Graziadei die Sowjetrepublik heftig verteidigt und die ganze Fraktion hat ihn unterstützt. Das ist sehr wohl eine revolutionäre Aktion im Parlament.

Wir sind auch dafür, Gesetzesanträge im bürgerlichen Parlament einzureichen. Es handelt sich nicht darum, Gesetze vorzuschlagen, damit sie angenommen werden, sondern darum, dem Proletariat zu zeigen, was die Bourgeoisie nicht tun kann und was das Proletariat tun muss.

Ich werde also vorbehaltlos für die Thesen des Exekutivkomitees stimmen.

Herzog. Die bulgarische Delegation sah in meinen Ausführungen über die Tätigkeit der kommunistischen Parlamentsfraktionen in Bulgarien eine Verleumdung. Dieser Vorwurf ist nicht stichhaltig. Die Quellen, aus welchen ich das Material zu meinen Ausführungen bekommen habe, halte ich für durchaus zuverlässig und brauche nichts von dem von mir Gesagten zurückzunehmen. Dies umsoweniger, als die bulgarische Delegation mich der Verleumdung beschuldigte, ohne auch nur versucht zu haben, mir die wirkliche oder angebliche Unlauterkeit der Quelle nachzuweisen.

Sinowjew. Ich mache den Vorschlag, die Debatte zu schliessen. (Der Antrag wird angenommen.)

Sinowjew. Wir sind heute in der Lage, einen Bericht über die Mandatsprüfung anzuhören, und, nachdem wir ihn gehört haben, werden wir nach Delegationen abstimmen.

(Es wird über die Leitsätze von Bucharin abgestimmt, die wie folgt lauten:)

Leitsätze über die kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus

1. Die neue Epoche und der neue Parlamentarismus.

Die Stellung der sozialistischen Parteien zum Parlamentarismus war anfänglich, in der Zeit der I. Internationale, die der Ausnützung der bürgerlichen Parlamente zum Zwecke der Agitation. Die Teilnahme am Parlament wurde vom Gesichtspunkt der Entwicklung des Klassenbewusstseins, d. h. des Erwachens der Klassenfeindschaft des Proletariats gegen die herrschende Klasse betrachtet. Dieses Verhältnis wandelte sich, nicht unter dem Einfluss der Theorie, sondern unter dem Einfluss der politischen Entwicklung. Durch die ununterbrochene Steigerung der Produktivkräfte und die Erweiterung des kapitalistischen Ausbeutungsgebietes gewann der Kapitalismus und gewannen mit ihm die parlamentarischen Staaten dauernd an Festigkeit.

Hieraus entstanden: die Anpassung der parlamentarischen Taktik der sozialistischen Parteien an die »organische« gesetzgeberische Arbeit des bürgerlichen Parlaments und die immer grössere Bedeutung des Kampfes um Reformen im Rahmen des Kapitalismus, die Herrschaft des sogenannten Mindestprogramms der Sozialdemokratie, die Wandlung des Maximalprogramms in eine Debattierformel für ein überaus entferntes »Endziel«. Auf dieser Grundlage entwickelten sich dann die Erscheinungen des parlamentarischen Strebertums, der Korruption, des offenen oder versteckten Verrates an den elementarsten Interessen der Arbeiterklasse.

Das Verhältnis der Kommunistischen Internationale zum Parlamentarismus wird nicht durch eine neue Doktrin, sondern durch die Veränderung der Rolle des Parlaments selbst bestimmt. In der vorhergehenden Epoche hat das Parlament als Werkzeug des sich entwickelnden Kapitalismus eine in gewissem Masse historisch fortschrittliche Arbeit geleistet. Unter den gegenwärtigen Bedingungen des zügellosen Imperialismus aber hat sich das Parlament in ein Werkzeug der Lüge, des Betruges, der Gewalttat und des entnervenden Geschwätzes verwandelt. Angesichts der imperialistischen Verheerungen, Plünderungen, Vergewaltigungen, Räubereien und Zerstörungen verlieren parlamentarische Reformen, des Systems, der Stetigkeit und der Planmässigkeit beraubt, für die werktätigen Massen jede praktische Bedeutung.

Wie die ganze bürgerliche Gesellschaft verliert auch der Parlamentarismus seine Festigkeit. Der plötzliche Übergang von der organischen zur kritischen Epoche schafft die Grundlage für eine neue Taktik des Proletariats auf dem Gebiete des Parlamentarismus. So hat die russische Arbeiterpartei (die Bolschewiki) das Wesen des Revolutionären Parlamentarismus schon in der vorhergegangenen Periode ausgearbeitet, weil Russland seit 1905 aus dem politischen und sozialen Gleichgewicht gebracht und in die Periode der Stürme und Erschütterungen eingetreten war.

Soweit einige Sozialisten, die zum Kommunismus neigen, darauf hinweisen, dass der Augenblick für die Revolution in ihren Ländern noch nicht gekommen sei, und es ablehnen, sich von den parlamentaristischen Opportunisten abzuspalten, gehen sie, dem Wesen der Sache nach, von der bewussten Schätzung der bevorstehenden Epoche als einer Epoche der relativen Festigkeit der imperialistischen Gesellschaft aus und nehmen an, dass auf dieser Grundlage, im Kampf um Reformen, eine Koalition mit den Turati und Longuet praktische Resultate ergeben könne. Der theoretisch klare Kommunismus wird dagegen den Charakter der gegenwärtigen Epoche richtig einschätzen (Höhepunkt des Kapitalismus; imperialistische Selbstverneinung und Selbstvernichtung; ununterbrochenes Anwachsen des Bürgerkrieges, etc.). In den verschiedenen Ländern können die Formen der politischen Beziehungen und Gruppierungen verschieden sein. Das Wesen bleibt aber überall ein und dasselbe. Es handelt sich für uns um die unmittelbare politische und technische Vorbereitung des Aufstandes des Proletariats zur Zerstörung der bürgerlichen und für die Aufrichtung der neuen proletarischen Macht.

Das Parlament kann gegenwärtig für die Kommunisten auf keinen Fall der Schauplatz des Kampfes um Reformen, um Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse sein, wie dies in gewissen Augenblicken der vorhergegangenen Periode der Fall war. Der Schwerpunkt des politischen Lebens ist gegenwärtig ganz und endgültig über die Grenzen des Parlaments hinaus verlegt. Andererseits ist die Bourgeoisie nicht nur kraft ihrer Beziehung zu den werktätigen Massen, sondern auch kraft ihrer verwickelten Wechselbeziehungen innerhalb der bürgerlichen Klassen gezwungen, einen Teil ihrer Massnahmen auf die eine oder andere Weise im Parlament durchzuführen, wo die verschiedenen Kliquen um die Macht handeln, ihre starken Seiten offenbaren, ihre schwachen Seiten verraten, sich blossstellen usw.

Deshalb ist es die unmittelbare historische Aufgabe der Arbeiterklasse, diese Apparate den Händen der herrschenden Klassen zu entreissen, sie zu zerbrechen, zu vernichten, und an ihre Stelle neue proletarische Machtorgane zu setzen. Gleichzeitig aber ist der revolutionäre Stab der Arbeiterklasse stark daran interessiert, seine Kundschafter in den parlamentarischen Einrichtungen der Bourgeoisie zu haben, um diese Aufgabe der Zerstörung zu erleichtern. Hieraus ergibt sich ganz klar der Grundunterschied zwischen der Taktik des Kommunisten, der mit revolutionären Zielen in das Parlament eintritt, und der Taktik des sozialistischen Parlamentariers. Der letztere geht von der Voraussetzung der relativen Festigkeit, der unbestimmten Dauer der bestehenden Herrschaft aus. Er macht es sich zur Aufgabe, mit allen Mitteln Reformen zu erreichen, und ist daran interessiert, dass jede Errungenschaft von der Masse in gebührender Weise als Verdienst des sozialistischen Parlamentarismus geschätzt wird. (Turati, Longuet und Co.).

An die Stelle des alten Anpassungsparlamentarismus tritt der neue Parlamentarismus als eines der Werkzeuge zur Vernichtung des Parlamentarismus überhaupt. Die widerwärtigen Überlieferungen der alten parlamentaristischen Taktik jedoch stossen einige revolutionäre Elemente in das Lager der grundsätzlichen Gegner des Parlamentarismus (IWW), der revolutionären Syndikalisten (KAPD). Der zweite Kongress erhebt daher folgende Thesen zum Beschluss.

2. Der Kommunismus, der Kampf um die Diktatur des Proletariats und die Ausnutzung der bürgerlichen Parlamente.

I.

1. Der Parlamentarismus alsStaatssystem ist eine »demokratische« Herrschaftsform der Bourgeoisie geworden, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Fiktion einer Volksvertretung bedarf, die äusserlich als eine Organisation eines ausserhalb der Klassen stehenden »Volkswillens« erscheint, im wesentlichen aber eine Maschine zur Unterdrückung und Unterjochung in den Händen des herrschenden Kapitals ist.

2. Der Parlamentarismus ist eine bestimmte Form der Staatsordnung; daher kann er durchaus nicht die Form der kommunistischen Gesellschaft sein, die weder Klassen noch Klassenkampf, noch irgend eine Staatsmacht kennt.

3. Der Parlamentarismus kann auch keine Form der proletarischen Staatsverwaltung in der Übergangsperiode von der Diktatur der Bourgeoisie zur Diktatur des Proletariats sein. Im Augenblick des zugespitzten Klassenkampfes, im Bürgerkrieg, muss das Proletariat seine staatliche Organisation unvermeidlich als Kampfesorganisation aufbauen, in welche die Vertreter der früher herrschenden Klassen nicht zugelassen werden. Dem Proletariat ist in diesem Stadium jede Fiktion des »Volkswillens« direkt schädlich. Das Proletariat bedarf keiner parlamentarischen Teilung der Macht, sie ist ihm schädlich. Die Form der proletarischen Diktatur ist die Sowjetrepublik.

4. Die bürgerlichen Parlamente, einer der wichtigsten Apparate der bürgerlichen Staatsmaschine, können als solche nicht auf die Dauer erobert werden, wie das Proletariat überhaupt nicht den bürgerlichen Staat erobern kann. Die Aufgabe des Proletariats besteht darin, die Staatsmaschine der Bourgeoisie zu sprengen, sie zu zerstören, und zugleich mit ihr die Parlamentsinstitutionen, mögen es republikanische oder konstitutionell-monarchistische sein.

5. Nicht anders ist es mit den Kommunaleinrichtungen der Bourgeoisie, die den Staatsorganen gegenüber zu stellen theoretisch unrichtig ist. In Wirklichkeit sind sie ähnliche Apparate des Staatsmechanismus der Bourgeoisie, die von dem revolutionären Proletariat vernichtet und durch örtliche Sowjets der Arbeiterdeputierten ersetzt werden müssen.

6. Folglich verneint der Kommunismus den Parlamentarismus als Form der Zukunftsgesellschaft. Er verneint ihn als Form der Klassendiktatur des Proletariats. Er verneint die Möglichkeit, die Parlamente dauernd zu erobern; er setzt sich die Zerstörung des Parlamentarismus zum Ziel. Daher kann nur von der Ausnutzung der bürgerlichen Staatseinrichtungen zum Zweck ihrer Zerstörung die Rede sein. In diesem und nur in diesem Sinne kann die Frage gestellt werden.

II.

7. Jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf, denn er ist letzten Endes ein Kampf um die Macht. Jeder beliebige Ausstand, der sich über das ganze Land verbreitet, wird dem bürgerlichen Staat bedrohlich und nimmt dadurch einen politischen Charakter an. Jeder Versuch, die Bourgeoisie zu stürzen und ihren Staat zu zerstören, heisst einen politischen Kampf führen. Einen proletarischen Klassenapparat zur Verwaltung und zur Unterdrückung der sich widersetzenden Bourgeoisie schaffen, welcher Art dieser Apparat auch sein wird, heisst die politische Macht erobern.

8. Folglich ist die Frage des politischen Kampfes durchaus nicht identisch mit der Frage des Verhaltens zum Parlamentarismus. Jene ist eine allgemeine Frage des proletarischen Klassenkampfes, der charakterisiert wird durch die Steigerung von kleinen und Teilkämpfen zum allgemeinen Kampf für den Sturz der kapitalistischen Ordnung überhaupt.

9. Die wichtigste Kampfmethode des Proletariats gegen die Bourgeoisie, d. h. gegen ihre Staatsmacht, ist vor allen Dingen die Massenaktion. Die Massenaktionen werden von den revolutionären Massenorganisationen (Gewerkschaften, Parteien, Räten) des Proletariats unter der allgemeinen Führung einer einheitlichen, disziplinierten, zentralisierten kommunistischen Partei organisiert und geleitet. Der Bürgerkrieg ist ein Krieg; in diesem Krieg muss das Proletariat sein tapferes politisches Offizierskorps, seinen starken politischen Generalstab haben, die alle Operationen auf allen Gebieten des Kampfes leiten.

10. Der Massenkampf ist ein ganzes System sich entwickelnder Aktionen, die sich in ihrer Form verschärfen und logisch zum Aufstand gegen den kapitalistischen Staat führen. In diesem Massenkampf, der sich zum Bürgerkrieg entwickelt, muss die führende Partei des Proletariats in der Regel alle legalen Stellungen festigen, indem sie sie zu Hilfsstützpunkten ihrer revolutionären Tätigkeit macht und diese Stellungen dem Plan des Hauptfeldzuges, der Kampagne des Massenkampfes, unterordnet.

11. Ein solcher Hilfsstützpunkt ist die Tribüne des bürgerlichen Parlaments. Gegen die Teilnahme am parlamentarischen Kampf kann durchaus nicht die Begründung angeführt werden, dass das Parlament eine bürgerliche Staatsinstitution sei. Die kommunistische Partei geht in diese Institution nicht hinein, um dort organische Arbeit zu leisten, sondern um vom Parlament aus den Massen zu helfen, die Staatsmaschine und das Parlament selbst durch die Aktion zu sprengen (z. B. die Tätigkeit Liebknechts in Deutschland, der Bolschewiki in der zaristischen Duma, in der »demokratischen Beratung«, in dem »Vorparlament« Kerenskis, in der »Konstituierenden Versammlung« und in den Stadtdumas, schliesslich die Tätigkeit der bulgarischen Kommunisten).

12. Diese Tätigkeit in dem Parlament, die hauptsächlich in revolutionärer Agitation von der Parlamentstribüne, in der Entlarvung der Gegner, im geistigen Zusammenschluss der Massen, die noch immer, namentlich in den rückständigen Gebieten befangen von demokratischen Illusionen, nach der Parlamentstribüne schauen, usw. besteht, soll ganz und gar den Zielen und Aufgaben des Massenkampfes ausserhalb des Parlaments untergeordnet sein.
Die Teilnahme am Wahlkampf und die revolutionäre Propaganda von der Parlamentstribüne herab ist von besonderer Wichtigkeit für die politische Erfassung derjenigen Schichten der Arbeiterschaft, die bisher, etwa wie die ländlichen werktätigen Massen, dem politischen Leben fernstanden.

13. Falls die Kommunisten die Mehrheit in Kommunaleinrichtungen haben, so sollen sie a) revolutionäre Opposition gegen die bürgerliche Zentralgewalt treiben; b) alles tun, um der ärmeren Bevölkerung Dienste zu leisten (wirtschaftliche Massnahmen, Durchführung oder Versuche zur Durchführung der bewaffneten Arbeitermiliz etc.) ; c) bei jeder Gelegenheit die Schranken zeigen, die die bürgerliche Staatsgewalt wirklich grossen Veränderungen entgegensetzt ; d) auf dieser Grundlage schärfste revolutionäre Propaganda entwickeln, ohne den Konflikt mit der Staatsgewalt zu fürchten; e) unter gewissen Bedingungen die Gemeindeverwaltungen etc. durch lokale Arbeiterräte ersetzen. – Die ganze Tätigkeit der Kommunisten in der Kommunalverwaltung muss also ein Bestandteil der allgemeinen Zersetzungsarbeit des kapitalistischen Systems sein.

14. Die Wahlkampagne selbst soll nicht im Geiste der Jagd auf eine Höchstzahl von Parlamentsmandaten geführt werden, sondern im Geiste revolutionärer Mobilisierung der Massen für die Losungen der proletarischen Revolution. Die Wahlkampagne soll von der gesamten Masse der Parteimitglieder geführt werden und nicht nur von der Elite der Partei. Es ist notwendig, dabei alle Massenaktionen (Ausstände, Demonstrationen, Gärungen unter den Soldaten und Matrosen usw.), die gerade stattfinden, auszunutzen und mit ihnen in enge Fühlung zu kommen. Das Heranziehen aller proletarischen Massenorganisationen zur aktiven Tätigkeit ist notwendig.

15. Bei Wahrnehmung aller dieser wie auch der in einer besonderen Instruktion angeführten Vorbedingungen ist die parlamentarische Tätigkeit das direkte Gegenteil jenes gemeinen Politikasterns, das die sozialdemokratischen Parteien aller Länder anwenden, die ins Parlament gehen, um diese »demokratische« Institution zu unterstützen oder sie bestenfalls zu »erobern«. Die Kommunistische Partei kann ausschliesslich nur für die revolutionäre Ausnutzung des Parlamentarismus im Geiste Karl Liebknechts und der Bolschewiki sein.

III.

16. Der prinzipielle »Antiparlamentarismus« in dem Sinne absoluter und kategorischer Ablehnung der Teilnahme an den Wahlen und der revolutionären parlamentarischen Tätigkeit ist also eine naive kindische Doktrin unter jeder Kritik, eine Doktrin, die bisweilen einen gesunden Ekel vor den politikasternden Parlamentariern zur Grundlage hat, die aber nicht zugleich die Möglichkeit eines revolutionären Parlamentarismus sieht. Ausserdem ist diese Doktrin oft mit einer ganz unrichtigen Vorstellung von der Rolle der Partei verbunden, die in der Kommunistischen Partei nicht den zentralisierten Stosstrupp der Arbeiter, sondern ein dezentralisiertes System lose miteinander verbundener Gruppen sieht.

17. Andererseits folgt aus der prinzipiellen Anerkennung der parlamentarischen Tätigkeit durchaus nicht die absolute Anerkennung der Notwendigkeit konkreter Wahlen und konkreter Teilnahme an den Parlamentssitzungen unter allen Umständen. Das ist von einer ganzen Reihe spezifischer Bedingungen abhängig. Bei einer bestimmten Kombination dieser Bedingungen kann der Austritt aus dem Parlament notwendig sein. Das taten die Bolschewiki, als sie aus dem Vorparlament austraten, um es zu sprengen, ihm jede Kraft zu nehmen und es dem am Vorabend des Aufstandes stehenden Petersburger Sowjet schroff gegenüberzustellen. Ein Gleiches taten sie in der Konstituierenden Versammlung am Tage der Auflösung, indem sie den III. Kongress der Sowjets zum Mittelpunkt der politischen Geschehnisse erhoben. Je nach den Umständen kann Boykott der Wahlen und unmittelbare gewaltsame Beseitigung, wie des ganzen bürgerlichen Staatsapparats, so auch der bürgerlichen Parlamentsklique, oder aber Teilnahme an den Wahlen, während das Parlament selbst boykottiert wird, usw. notwendig sein.

18. Auf diese Weise soll die kommunistische Partei, die die Notwendigkeit der Teilnahme an den Wahlen sowohl in die zentralen Parlamente als auch in die Organe der lokalen Selbstverwaltung, sowie die Arbeit in diesen Institutionen als allgemeine Regel anerkennt, von der Wertung der spezifischen Besonderheiten des jeweiligen Augenblicks ausgehend, die Frage konkret lösen. Boykott der Wahlen oder der Parlamente, sowie Austritt aus den letzteren ist hauptsächlich dann zulässig, wenn die Vorbedingungen unmittelbaren Überganges zum bewaffneten Kampf und zur Machtergreifung schon vorhanden sind.

19. Dabei soll man beständig die relative Unwichtigkeit dieser Frage im Auge behalten. Da der Schwerpunkt im ausserhalb des Parlaments geführten Kampf um die Staatsmacht liegt, so versteht es sich von selbst, dass die Frage der proletarischen Diktatur und des Massenkampfes dafür mit der besonderen Frage der Ausnutzung des Parlamentarismus nicht gleichzustellen ist.

20. Daher betont die Kommunistische Internationale mit aller Entschiedenheit, dass sie jede Spaltung oder jeden Spaltungsversuch innerhalb der kommunistischen Parteien in dieser Richtung und nur aus diesem Grunde für einen schweren Fehler hält. Der Kongress ruft alle Elemente, die auf dem Boden der Anerkennung des Massenkampfes um die proletarische Diktatur unter der Führung der zentralisierten Partei des revolutionären Proletariats stehen, die ihren Einfluss auf alle Massenorganisationen der Arbeiter ausübt, auf, die völlige Einheit der kommunistischen Elemente anzustreben trotz der möglichen Meinungsverschiedenheiten über die Frage der Ausnützung der bürgerlichen Parlamente.

3. Der revolutionäre Parlamentarismus.

Um die tatsächliche Durchführung der revolutionären parlamentarischen Taktik sicherzustellen, ist es notwendig, dass

1. die Kommunistische Partei in ihrer Gesamtheit und ihr Zentralkomitee bereits im Vorbereitungsstadium, d. h. vor den Parlamentswahlen, für die hohe Qualität des persönlichen Bestandes der Parlamentsfraktionen sorgen müssen. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei muss für die gesamte Arbeit der kommunistischen Parlamentsfraktion verantwortlich sein. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei muss das unbestreitbare Recht haben, gegen einen beliebigen Kandidaten einer beliebigen Organisation Einspruch zu erheben, wenn keine Gewähr besteht, dass dieser Kandidat, wenn er ins Parlament gelangt, eine wirklich kommunistische Politik verfolgen wird.
Die Kommunistische Partei muss mit der alten sozialdemokratischen Gewohnheit brechen, ausschliesslich sogenannte »erfahrene« Parlamentarier, vorwiegend Anwälte und dergleichen, als Abgeordnete aufzustellen. In der Regel ist es notwendig, Arbeiter als Kandidaten aufzustellen, ohne sich daran zu stossen, dass diese meist einfache Parteimitglieder ohne grosse parlamentarische Erfahrung sind. Diejenigen Streberelemente, die sich an die kommunistischen Parteien heranmachen, um ins Parlament zu gelangen, muss die Kommunistische Partei rücksichtslos brandmarken. Die Zentralkomitees der kommunistischen Parteien müssen nur die Kandidaturen derjenigen Genossen bestätigen, die durch langjährige Arbeit ihre unbedingte Ergebenheit gegenüber der Arbeiterklasse gezeigt haben.

2. Wenn die Wahlen beendet sind, muss die Organisierung der Parlamentsfraktion sich vollständig in den Händen des Zentralkomitees der kommunistischen Parteien befinden, ganz abgesehen davon, ob die Gesamtpartei zu dem betreffenden Zeitpunkt legal oder illegal ist. Der Vorsitzende und der Vorstand der kommunistischen Parlamentsfraktion müssen von dem Zentralkomitee der Partei bestätigt werden. Das Zentralkomitee muss in der Parlamentsfraktion einen ständigen Vertreter mit Einspruchsrecht haben, und in allen wichtigen politischen Fragen muss sich die Parlamentsfraktion vorher Verhaltungsmassregeln vom Zentralkomitee der Partei erbitten. Das Zentralkomitee hat das Recht und die Pflicht, bei einer bevorstehenden grossen Aktion der Kommunisten im Parlament den Redner der Fraktion aufzustellen bzw. Zu beanstanden und von ihm die vorherige Vorlegung der Leitsätze seiner Rede bzw. der Rede selbst zwecks Genehmigung durch das Zentralkomitee usw. Zu fordern. Jedem Kandidaten, der auf der Wahlvorschlagsliste der Kommunisten steht, muss ganz offiziell die schriftliche Verpflichtung abgenommen werden, dass er auf die erste Aufforderung des Zentralkomitees der Partei hin, das Mandat niederzulegen, bereit ist, um in einer gegebenen Situation die Aktion des Austritts aus dem Parlament geschlossen durchzuführen.

3. In denjenigen Ländern, in denen es reformistischen, halb- reformistischen und einfachen Streberelementen gelungen ist, in die kommunistische Fraktion einzudringen (das ist bereits in einigen Ländern geschehen), sind die Zentralkomitees der kommunistischen Parteien verpflichtet, eine gründliche Säuberung des persönlichen Bestandes der Fraktion vorzunehmen, von dem Prinzip ausgehend, dass es für die Sache der Arbeiterklasse viel nützlicher ist, eine kleine, aber wirklich kommunistische Fraktion zu haben, als eine zahlreiche Fraktion ohne konsequente kommunistische Politik.

4. Der kommunistische Abgeordnete ist auf Beschluss des Zentralkomitees verpflichtet, die legale Arbeit mit der illegalen zu vereinigen. In denjenigen Ländern, wo sich der kommunistische Abgeordnete der Immunität vor den bürgerlichen Gesetzen erfreut, muss diese Immunität dazu ausgenützt werden, die Partei in ihrer illegalen Tätigkeit der Organisation und Propaganda zu unterstützen.

5. Alle ihre parlamentarischen Aktionen müssen die kommunistischen Abgeordneten der Tätigkeit ihrer Partei ausserhalb des Parlaments unterordnen. Die regelmässige Einbringung von demonstrativen Gesetzentwürfen, die nicht dazu bestimmt sind, von der bürgerlichen Mehrheit angenommen zu werden, sondern für die Zwecke der Propaganda, Agitation und Organisation, muss auf Anweisung der Partei und ihres Zentralkomitees geschehen.

6. Bei Strassendemonstrationen der Arbeiter und sonstigen revolutionären Aktionen hat der kommunistische Abgeordnete die Pflicht, an der Spitze der Arbeitermassen an erster leitender Stelle zu stehen.

7. Die kommunistischen Abgeordneten müssen auf allen ihnen zur Verfügung stehenden Wegen (unter der Kontrolle der Partei) schriftliche und jedwede andere Verbindung mit den revolutionären Arbeitern, Bauern und anderen Werktätigen anzuknüpfen suchen; sie dürfen unter keinen Umständen gleich den sozialdemokratischen Abgeordneten handeln, die Geschäftsverbindungen mit ihren wählern nachlaufen. Sie müssen sich jederzeit zur Verfügung der kommunistischen Organisation für jede Propagandaarbeit im Lande halten.

8. Jeder kommunistische Abgeordnete des Parlaments muss dessen eingedenk sein, dass er kein Gesetzgeber ist, der mit anderen Gesetzgebern eine Verständigung sucht, sondern ein Agitator der Partei, der ins feindliche Lager entsandt ist, um dort Parteibeschlüssen nachzukommen. Der kommunistische Abgeordnete ist nicht der losen wählermasse, sondern seiner legalen oder illegalen kommunistischen Partei gegenüber verantwortlich.

9. Die kommunistischen Abgeordneten müssen im Parlament eine Sprache reden, die jedem einfachen Arbeiter, jedem Bauern, jeder Waschfrau, jedem Hirten verständlich ist, so dass die Partei die Möglichkeit hat, die Reden als Flugblätter herauszugeben und sie in den entlegensten Winkeln des Landes zu verbreiten.

10. Einfache kommunistische Arbeiter müssen in den bürgerlichen Parlamenten auftreten, ohne den sogenannten erfahrenen Parlamentariern den Vorrang zu überlassen – auch in den Fällen, wenn die Arbeiter erst Anfänger auf parlamentarischem Gebiet sind. Im Notfall können die Abgeordneten aus der Mitte der Arbeiter ihre Reden direkt ablesen, damit die Reden in der Presse und als Flugblätter abgedruckt werden können.

11. Die kommunistischen Abgeordneten müssen die Parlamentstribüne zur Entlarvung nicht nur der Bourgeoisie und ihrer offenen Handlanger, sondern auch zur Entlarvung der Sozialpatrioten, Reformisten, der Halbheit der Politiker des »Zentrums« und anderer Gegner des Kommunismus und zur breiten Propaganda der Ideen der Kommunistischen Internationale aus- nützen.

12. Die kommunistischen Abgeordneten haben sogar in den Fällen, wenn es ihrer nur einige im ganzen Parlament gibt, durch ihr ganzes Betragen dem Kapitalismus gegenüber eine herausfordernde Haltung zu zeigen. Sie dürfen nie vergessen, dass nur derjenige des Namens eines Kommunisten würdig ist, der nicht nur in Worten, sondern auch in seinen Taten ein Erzfeind der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer sozialpatriotischen Handlanger ist.

(Die Leitsätze von Bucharin werden angenommen. Alle Amendements werden der Kommission überwiesen.)

Radek. Ich glaube, es ist nicht notwendig, dass ich die Liste der Delegierten vorlese; sie wird verteilt werden. Es besteht nun den Ländern nach folgende Zusammensetzung des Kongresses: (Verliest die Liste.) Wir konnten nicht übereinkommen, was wir mit Ostgalizien machen. Es ist einstweilen noch nicht befreit, es gehört weder zu Polen noch zu Ungarn, noch ist es selbständig. Wir haben es als selbständiges Land mit zwei Stimmen zugelassen.

Das Mandat des Schweizer Genossen Burgsdorf wurde in der Kommission angefochten mit der Behauptung, der betreffende Delegierte sei vor kurzem Redakteur einer bürgerlichen Zeitung gewesen. Es hat sich herausgestellt, dass der Genosse vor längerer Zeit Redakteur eines solchen Blattes war, er wurde dann aber Sozialist und hat die Redaktion des Blattes aufgegeben. Die Frage wurde in der Schweiz untersucht und die Angelegenheit erledigt.

Was die Frage der Einteilung der Stimmen anbetrifft, so wurde an den Vorschlägen der Exekutive nicht viel geändert. Wir haben im grossen und ganzen die Einteilung akzeptiert, die von der Exekutive angenommen wurde. Nur in einem Falle, von dem ich noch sprechen will, wurde die Stimmenzahl reduziert. Es wurde beschlossen, Deutschland, Frankreich, England, Russland, Amerika, Italien je zehn Stimmen, Österreich, Holland je sieben Stimmen, Mexiko, Persien, Indien, der Schweiz, der Türkei, Bulgarien, eventuell Irland, Estland, Korea je vier Stimmen, Litauen zwei zuzusprechen.

Die Kommission beschloss, dem Kongress vorzuschlagen, Holland an Stelle von sieben nur vier Stimmen zu geben. Der Beschluss wurde in der Exekutive mit Stimmenmehrheit gefasst. Die höhere Stimmenzahl Hollands widerspricht den faktischen Verhältnissen. Weder ist das Land noch die Partei so gross, dass diese als zweite Macht in der Internationale marschieren könnte. Wir haben einen Protest gegen die Anerkennung des Mandats von Palästina erhalten mit der Begründung, dass es nicht angehe, die jüdischen Proletarier nach Palästina zu treiben.

Die Kommission wird sich noch damit zu befassen haben. Der Kongress muss noch zwei Fragen entscheiden: die Frage der Einteilung der englischen und amerikanischen Stimmen. Was England anbetrifft, zerfallen sie in zwei Teile: B.S.P. und Shop Stewards. Ich persönlich bin der Meinung, man soll die Stimmen teilen. Der Kongress wird darüber zu entscheiden haben. Was Amerika anbetrifft, so ist die Situation die folgende: Wir haben den Bericht erhalten über die Einigung der amerikanischen Parteien, der American Communist Party und der American Labour Party. Aber die Einigung ist keine vollständige. Ein Teil einer Partei will nicht teilnehmen. Und nun entsteht die Frage: Wie verteilen wir die Mandate? Die geeinigte Kommunistische Partei erklärt, sie will alle Mandate haben. Der Teil aber, der nicht in die neue Partei eingetreten ist, fordert für sich einen Teil der Mandate. Der Kongress wird auch darüber zu entscheiden haben.

Sinowjew. Es entsteht die Frage: sollen wir den Bericht der Mandatsprüfungskommission sanktionieren oder eine Diskussion eröffnen? Ich werde abstimmen lassen. Wer ist dafür, dass wir alle Vorschläge der Mandatsprüfungskommission im Namen des Kongresses sanktionieren?

(Es wird abgestimmt. Der Vorschlag wird angenommen. Die Sitzung wird 11 ½ Uhr geschlossen.)



Anmerkungen:
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  1. Die Nummerierung der Sitzungen erfolgt nach der russischen Ausgabe des »Protokolls«. In der deutschen Ausgabe ist die Nummerierung der Sitzungen inkonsistent und unlogisch (1–11, dann 14 & 15). Zum Vergleich:

    Deutsche Ausgabe [Seitenzahl] → Russische Ausgabe/sinistra.net
    Erste Sitzung (19. Juli 1920) [6–56]Erste Sitzung (19. Juli 1920)
    Zweite Sitzung (23. Juli 1920) [57–99]Zweite Sitzung (23. Juli 1920)
    Dritte Sitzung (24. Juli 1920) [100–136]Dritte Sitzung (24. Juli 1920)
    Vierte Sitzung (26 Juli 1920) [137–166]Vierte Sitzung (26 Juli 1920)
    Fünfte Sitzung (28. Juli 1920) [167–233]Fünfte Sitzung (28. Juli 1920)
    Sechste Sitzung (29. Juli 1920) [234–286]Sechste Sitzung (29. Juli 1920)
    ↳Abendsitzung (29. Juli 1920) [287–329]Siebte Sitzung (29. Juli 1920)
    Siebte Sitzung (30. Juli 1920) [330–401]Achte Sitzung (30. Juli 1920)
    Achte Sitzung (2. August 1920) [402–442]Neunte Sitzung (2. August 1920)
    ↳Abendsitzung (2. August 1920) [443–480]Zehnte Sitzung (2. August 1920)
    Neunte Sitzung (3. August 1920) [481–508]Elfte Sitzung (3. August 1920)
    ↳Abendsitzung (3. August 1920) [509–537]Zwölfte Sitzung (3. August 1920)
    Zehnte Sitzung (4. August 1920) [538–570]Dreizehnte Sitzung (4. August 1920)
    ↳Abendsitzung (4. August 1920) [571–606]Vierzehnte Sitzung (4. August 1920)
    Elfte Sitzung (5. August 1920) [607–639]Fünfzehnte Sitzung (5. August 1920)
    Vierzehnte Sitzung (6.August 1920) [640–667]Sechzehnte Sitzung (6.August 1920)
    Fünfzehnte Sitzung (7. August 1920) [668–702]Schlusssitzung (7. August 1920)[⤒]

  2. Die Rechtschreibung wurde stillschweigend verbessert und vereinzelt dem heutigen Gebrauch angepasst. Falschgeschriebene Namen wurden berichtigt, die russischen und bulgarischen Namen sind in deutscher Transkription oder in gebräuchlicher Form wiedergegeben, Namen aus Ländern mit lateinischem Alphabet entsprechend der jeweils heimischen Form. Redaktionelle Zusätze sind in [] kenntlich gemacht.[⤒]


Source: »Der zweite Kongress der Kommunistischen Internationale, Protokoll der Verhandlungen vom 19. Juli in Petrograd und vom 23. Juli bis 7. August in Moskau«, Verlag der Komm. Internationale, Hamburg 1921 / Второй конгресс. Коммунистического Интернационала, Июл–Август 1920 г., Стенографический отчет. Иад. Коммунистического Интернационала, Петроград 1921. Bearbeitung und Digitalisierung: sinistra.net 2021

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